Märchensommer

Kapitel 1

In die falsche Richtung

Ich stand vor einem moralischen Dilemma.

Sollte ich ihn mir krallen … oder lieber nicht?

Das Material des violetten Sweaters, den ich gerade in der Hand hielt, war verführerisch weich. Er roch wunderbar frisch und war nicht mit Löchern übersät. So etwas Schönes hatte ich zuletzt getragen … whoa, da musste ich etwa fünf Jahre alt gewesen sein. Der Reißverschluss ließ sich spielend auf- und wieder zuziehen. Ich rieb den Stoff an meiner Wange. Gar nicht kratzig – im Gegensatz zu dem scheußlich-grauen Secondhandpulli, den ich schon seit zwei Wochen anhatte.

Es gab nur ein klitzekleines Problem mit dem Sweater. Das Preisschild.

Ich ließ meinen Blick über die vielen Leute am Camden Market schweifen. An diesem Freitagnachmittag platzte der Markt aus allen Nähten. Jeder war damit beschäftig, Kleider anzuprobieren, Schmuck zu begutachten oder Spielsachen für ihre Kleinen auszusuchen. Die Besitzerin dieses Standes unterhielt sich gerade mit einer alten Dame und hatte mir den Rücken zugedreht. Wenn ich den Sweater in meiner Tasche verschwinden lassen wollte, war dies der perfekte Zeitpunkt.

Jetzt oder nie.

„Worauf wartest du, Montiniere?“, murmelte mir Debbie ins Ohr. „Wenn du die Jacke willst, dann nimm sie endlich. Aber mach schnell, denn ich hab die Kasse der Lady gerade um fünfzig Pfund erleichtert.“ Sie wackelte mit ihren blonden Augenbrauen.

Debbie Westwood war nicht meine Freundin. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinn, wo man wilde Pyjamapartys schmeißt und sich gegenseitig die verrücktesten Geheimnisse anvertraut. Ich hing nur manchmal mit ihr ab. Debbies Auffassung von der Welt, die sie, wie sie oft meinte, mit Leidenschaft am Arsch lecken konnte, machte Eindruck auf mich. Seit dem Moment, als sie vor ein paar Monaten am Earls Court in mich hinein gekracht war, hatte ich sie zu meinem Idol ernannt. Sie war damals auf der Flucht vor einem Kaufhaus-Cop gewesen, der sie dabei erwischt hatte, wie sie ein Paar Krokodillederstiefel mitgehen ließ. Du meine Güte, ich hätte wissen müssen, dass es mir nur Ärger einbringen würde, wenn ich mich mit einer Kriminellen anfreundete.

Anders als ich, lebte Debbie nicht in Londons einzigem öffentlichen Jugendheim, sondern auf der Straße. Was mich anging, so gestattete uns Miss Mulligan, die Heimleiterin, Freigänge nur dienstags und freitags. Und da hatte ich sogar noch Glück, denn Heimkinder unter siebzehn Jahren durften nicht einmal dann alleine raus.

Ein Hoch auf meinen siebzehnten Geburtstag! Ich war total ekstatisch gewesen, als ich endlich nicht mehr an Gruppenexkursionen teilnehmen musste. London machte viel mehr Spaß allein. Keine Lehrer, keine Regeln, kein Garnichts.

Nur ich. Und dieser hübsche lila Sweater.

Ich krallte meine Finger tiefer in den Stoff. Mein Herz tanzte einen Tango, als ich kurz davor war, mir zu nehmen, was ich wollte. Natürlich war es falsch. Doch das änderte nichts. Ich wollte auch endlich wieder einmal etwas Neues tragen, anstatt immer nur diese alten Lumpen.

Das Geräusch, als jemand den Reißverschluss meines Rucksacks öffnete, löste eine Gänsehaut in meinem Nacken aus. „Was machst du denn da?“, fauchte ich und drehte mich zu Debbie um.

Sie grinste mir ruchlos ins Gesicht. „Was denkst du wohl? Ich helfe dir.“ Mit ihrem Körper schirmte sie mich von der Verkäuferin ab und stopfte kurzerhand den Sweater in meinen Rucksack. „Sieh dich an. Mit deinen ekelhaften Fetzen scheuchst du ja sogar die Hunde davon. Du hast Glück, dass ich mich überhaupt mit dir abgebe.“

Ich blickte nach unten zu meinen zerschlissenen Jeans und den abgetretenen Doc Martens. Feuer schoss mir vor Scham in die Wangen. Debbie hatte nicht einmal ein Dach über dem Kopf, und doch war sie immer gekleidet wie die Queen der Oxford Street. Wenn ihre Klamotten schmutzig waren, warf sie diese einfach weg und besorgte sich in einem eleganten Raubzug neue Sachen. So einfach war das.

Als ich Debbie kennengelernt hatte, dauerte es nicht lange, bis sie mich davon überzeugt hatte, dass es in dieser Stadt mehr als genug für alle gab. Sie lebte nach einer einfachen Philosophie: Der übertrieben hohe Preis, den manche Leute für Lederjacken oder hochhackige Schuhe bezahlten, machte unsere kleinen Ladendiebstähle allemal wieder wett.

Und ich wollte diesen Sweater!

Ich behielt die Verkäuferin in gestreiften Leggins und dem verrückten Strohhut im Auge und wartete einen kurzen Moment ab, bevor ich den Rest des Sweaters in meinen Rucksack schob. Irgendwie hatte sie wohl mein Herz pochen gehört, denn genau in diesem Moment drehte sich das Luder um.

Eine unerträglich lange Sekunde starrte sie mich missbilligend an, dann senkte sich ihr Blick und blieb an meinem Rucksack hängen. „Was zum Teufel–!“

Ich blickte ebenfalls nach unten. Ach du Scheiße! Ein Ärmel hing noch raus.

Die Lady zog eine Trillerpfeife, die sie an einer Kette um ihren Hals trug, unter dem Shirt hervor und gleich darauf plusterten sich ihre Wangen auf wie zwei überreife Tomaten an einer Rispe, als sie das ganze Viertel in Alarmbereitschaft versetzte.

„Los! Los! Los!“ Ich stieß Debbie hart in den Rücken, als ich vom Kleiderstand flüchtete.

„Diebe! Haltet sie!“, schallte ihre schrille Stimme hinter uns und ein weiterer ohrenbetäubender Pfiff folgte. Die Leute drehten sich in unsere Richtung. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie zwei uniformierte Männer von einem kleinen Wachstand ins Freie traten und die Menge nach uns absuchten. Mein Körper schüttete eine Überdosis Adrenalin aus. Augenblicklich verkrampften sich all meine Muskeln und ich fühlte mich wie ein überspanntes Gummiband.

Debbie zog an meinem Rucksack, woraufhin ich beinahe stolperte. „Hier entlang!“, rief sie und zerrte mich hinter einen Stand mit vergilbten Büchern und altem Silberbesteck. Vor uns lagen weitere Stände. Die Leute warfen uns grimmige Blicke zu, als wir uns einen Weg durch die Menge bahnten.

„Jona!“ Debbie rang nach Atem. „Wir müssen uns aufteilen. Sie werden uns nicht beide verfolgen. Du hältst dich links und ich laufe weiter geradeaus.“

Ich blickte kurz zur Seite. Eine verdammte Sackgasse. „Du willst, dass ich Köder für die Cops spiele? Spinnst du?! Sie werden mich schnappen.“

„Du bist noch nicht achtzehn. Sie können dir nichts tun.“ Sie packte mich grob am Oberarm und schob mich weiter, während sie nach den Polizisten Ausschau hielt. „Außerdem wird dir die Heimleiterin eh wieder den Arsch retten. Macht sie doch jedes Mal!“

„Sie hat gedroht, mich im Gefängnis verrotten zu lassen, falls ich je wieder etwas stehle!“

„Sei nicht so ein Weichei!“ Debbie rammte mich mit der Schulter und drückte mich dabei zur Seite – in die Gasse ohne Ausweg.

Mir stockte der Atem. Als ich mich zu ihr umdrehte, blieb mir der Mund offen stehen. Ihr hinterhältiges Grinsen war das Letzte, was ich von ihr sah, bevor sie in die Menge tauchte.

„Die Gören sind in diese Richtung gelaufen!“, tönte plötzlich eine raue Stimme hinter mir und holte mich aus meiner Fassungslosigkeit zurück.

Ich blickte über meine Schulter. Verdammt! Sie waren mir dicht auf den Fersen. Ihre blauen Polizeikappen hoben sich von der Menge ab und bewegten sich unaufhaltsam auf mich zu. Ich saß in der Falle.

Oh nein, ganz sicher nicht heute.

Debbie war geradeaus weitergelaufen, also schlug ich mich nach rechts durch. Hier musste es doch irgendwo einen Ausweg geben. Das Trommeln meines Herzschlags in meinen Ohren übertönte das Gemurmel der vielen Leute. Mein Blick schweifte über die Menge. Alle bewegten sich so unkontrolliert und ziellos. Wie sollte man da den Überblick bewahren?

Ich hielt kurz an, rang nach Atem und drehte mich dabei im Kreis. Verdammt, welcher Weg führte aus dem Markt? Die Menschenmenge war dicht an allen Enden, doch die blauen Kappen bahnten sich einen steten Weg in meine Richtung. Und das auch noch unglaublich schnell. Wie war das nur möglich in einem Gewimmel, das so dick war wie Miss Weatherbys Vanillepudding?

Schweiß perlte von meiner Stirn. Miss Mulligan würde mich eigenhändig erwürgen, wenn ich schon wieder Ärger mit der Polizei bekam. Ein plumper, übergewichtiger Mann mit grüner Mütze rempelte mich an. Ich verlor das Gleichgewicht und stieß beinahe einen kleinen Jungen um, dessen Gesicht nur aus großen, erschrockenen Augen und einem Schnuller bestand. Gerade fing ich mich noch, doch ich konnte nicht verhindern, stattdessen mit einer wirklich alten Dame zu kollidieren. Sie hatte einen krummen Rücken und ein Tuch um den Kopf, worunter ihr graues Haar hervor blitzte. Ihr schrilles Gekreische tat mir nicht nur in den Ohren weh, sondern verriet mich auch noch an die Bullen. Na großartig.

„Entschuldigen Sie bitte“, murmelte ich.

Die Brille mit Stahlrahmen saß nun schief auf ihrer Nase und sie hatte eine ihrer beiden Krücken fallen lassen. Ich bückte mich, um sie für sie aufzuheben. „Sind sie verletzt? Es war keine Absicht.“ Mit geducktem Kopf rückte ich ihre Brille zurecht. Dabei zitterten meine Hände und ich drängte bereits zur Flucht.

„Geh weg von mir, du ekelhaftes Balg!“ Die alte Frau ließ ihre Krücke erneut fallen und schlug meine Hände zur Seite. „Hat denn heutzutage keine von euch Rotzgören mehr Augen im Kopf?“

Das brachte mich in die Gänge. Ich ließ mich auf Hände und Knie fallen und gab mein Bestes, um den entgegenkommenden Menschenmassen auszuweichen. Ein schwerer Fuß trat mir auf die Finger. Ich biss mir auf die Zunge, um nicht laut aufzuschreien. Vielleicht war auf allen vieren zu kriechen doch keine so gute Idee. Ich rappelte mich wieder auf die Beine.

„Aus dem Weg!“ Dieselbe raue Stimme von vorhin teilte plötzlich die Menge vor mir wie das Rote Meer. Als Nächstes blickte mir ein sehr wütender Cop ins Gesicht. „Riley, ich hab sie!“

Er sprang auf mich zu und griff nach meinem Arm. Ich wirbelte wild herum und wollte gerade losrennen, da knallte ich gegen die stählerne Brust seines Partners. Dieser war kleiner und stämmig, doch sein Griff an meinen Schultern war erbarmungslos.

Eiskalte Panik überfiel mich. „Lass mich los!“ Ich trat ihm gegen das Schienbein.

Der Mann sprang auf einem Bein und winselte wie ein geschlagener Hund. Ich wollte gerade wieder loslaufen, doch plötzlich kreisten uns die Leute ein, als würden wir hier eine verdammte Show für sie veranstalten. Nur dass ihre Blicke nicht erheitert, sondern verurteilend waren. Sie hatten mich umzingelt. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Es gab kein Entkommen.

Oh Mann, ich steckte tief in der Patsche.

Der größere der beiden Cops riss mir meinen zerlumpten Rucksack von den Schultern, bevor er mich zu Boden warf. Er drückte mir sein Knie ins Rückgrat.

Fantastisch. Genau in der Position wollte ich jetzt sein. Ich hatte das Gefühl, er würde mir meine Schultern auskugeln, als er mir die Hände hinter den Rücken wand. Dann schloss sich das kalte Metall der Handschellen um meine Handgelenke.

Oh bitte, nicht schon wieder!

Aber hysterisch zu werden brachte mich jetzt auch nicht weiter. Ich erinnerte mich an Debbies Regel Nummer eins, wenn wir beim Stehlen erwischt wurden: Alles abstreiten!

Ich schluckte meine Panik hinunter und fasste all meinen Mut zusammen. „Lasst mich gefälligst los!“ Der raue Beton der Straße scheuerte schmerzhaft gegen meine Wange. „Ich hab nichts getan!“

Mein langes Haar verfing sich in den Fingern des Cops, der mich unsanft vom Boden hochzog. Ich stöhnte. Das würde böse für mich enden. Verdammt, ich brauchte einen Plan B. Und zwar schnell.

„Natürlich hast du nichts getan.“ Der Officer namens Riley lachte harsch, während er in meinem Rucksack rumwühlte wie ein Maulwurf. „Lass mich raten, du bist Kleptomanin und hast ein medizinisches Gutachten für offiziell erlaubtes Stehlen in ganz London?“

Wie bitte? Machte er sich gerade über mich lustig?

Debbie hatte mir auch beigebracht, in Situationen wie diesen bloß keine Angst zu zeigen. Und sie war eine ausgezeichnete Lehrerin gewesen. Ich hob mein Kinn. Diese beiden Vollidioten würden mich nicht einschüchtern. „Nimm mir die Scheiß-Handschellen ab, und ich verschaffe dir ein verdammtes Gutachten für deine Eier, nachdem ich sie dir bis in den Magen gekickt hab!“

„Pass auf, was du sagst, Missy. Du bist nicht gerade in der richtigen Position, um einem Polizeibeamten zu drohen.“ Riley blickte mich scharf an. „Ist das dein Rucksack?“

„Nö. Den hab ich noch nie gesehen.“

„Ach, das ist ja spaßig. Denn hier ist ein Ausweis aus dem Lorna Monroe Waisenhaus und darauf klebt rein zufällig dein Foto.“ Er hielt mir den Ausweis vors Gesicht. Noch ein kleines Stückchen näher und er hätte mir die Plastikkarte direkt ins linke Nasenloch schieben können.

Ich versuchte eine gleichgültige Miene zu machen und zuckte mit einer Schulter. „Na und? Ich habe letzte Woche meine Geldbörse verloren. Sieht so aus, als hätte sie jemand gefunden.“

„Ja, natürlich“, meinte der Officer mit übertriebener Glaubwürdigkeit und rollenden Augen. „Und diese Person hat dir dann den Rucksack aufgedrängt, oder wie? Ach ja, und die Frau von dem Stand da hinten hat dir dann auch wohl den“ – er zog den lila Sweater aus dem Rucksack und hielt ihn mir unter die Nase – „in die Tasche gesteckt, als du ganz unschuldig an ihrem Stand vorbeigeschlendert bist, richtig?“

Ich blickte ihm unerschüttert ins Gesicht und zog eine Augenbraue hoch. „Sowas kommt vor.“

Der lange Cop hinter mir packte mich schroff an der Schulter. „So, das reicht. Du kommst jetzt mit uns.“

Ich lächelte über meine Schulter, als er mich vorwärts stieß. „Wie könnte ich bei dieser netten Aufforderung widerstehen, Officer?“

Obwohl in seinem kantigen Kiefer ein rebellischer Muskel zuckte, verkniff er sich eine Antwort. Seine Finger gruben sich jedoch fester in meine Schulter, während er mich abführte. Gebeutelt schritt ich neben den beiden her und richtete meine Augen dabei starr auf den Boden, um den erniedrigenden Blicken der Menschen um uns herum auszuweichen. Ihre Verachtung verletzte mich viel mehr als die stählernen Handschellen, die sich gerade in meine Handgelenke bissen.

Nach nur wenigen Metern erreichten wir den Polizeiwagen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schielte Debbie, diese Schlampe, hinter einer schäbigen Hausmauer hervor. Ich konnte ein höhnisches Funkeln in ihren Augen erkennen. Schon klar – besser ich als sie. Brennend vor Wut blieb ich stehen und entriss mich kurzerhand aus den Klauen des Cops, der zu überrascht war, um mich festzuhalten. Ich stapfte ein paar Schritte vorwärts und rief: „Bist du jetzt zufrieden, du blöde Kuh?!“

Aber Debbie war bereits verschwunden, ehe Riley mich am Arm packte und zurück zum Wagen zerrte. „Jetzt ist sie total übergeschnappt“, sagte er zu seinem Partner.

Ich knirschte mit den Zähnen, bis mir der Kiefer weh tat, und blickte die beiden Polizisten dabei finster an. Ohne mir die Handschellen abzunehmen, stieß mich Riley auf die Rückbank des Wagens und schlug die Tür hinter mir zu. Langsam wurde mir der wahre Ernst meiner Lage bewusst. Ich begann am ganzen Körper zu zittern. Wieder einmal hatte ich es total vermasselt. Oh Mann …

Die beiden Polizisten stiegen vorne ein. Ich verbiss mir jede Schwäche und spürte, wie sich meine Gesichtsmuskeln aufs Neue verhärteten, während Riley in den Freitagnachmittagsverkehr einfädelte.

Der Lange blickte durch das Eisengitter zu mir nach hinten und kräuselte dabei seine Lippen auf eine nervende Art. „Ich frag mich immer wieder, was Kinder wie dich dazu treibt, andere zu bestehlen“, meinte er schließlich in einem herablassenden Ton. „Schiebt euch der Staat nicht schon genug Luxus in den Hintern?“

Er war gewiss nicht der Einzige, der uns Heimkinder als minderwertig ansah.

Ich sammelte Spucke in meinem Mund, um ihm zu zeigen, was ich von ihm und dem Staat hielt. Doch das würde mir wahrscheinlich nur noch mehr Ärger einhandeln. Also versuchte ich meine Wut zusammen mit der Spucke hinunterzuschlucken und erklärte ihm dann mit einer zuckersüßen Stimme: „Es geht doch nichts über eine Fahrt in einem Polizeiwagen.“

Er knurrte nur und drehte sich wieder nach vorne. Gut. Ich hatte sowieso keine Lust auf eine Unterhaltung mit einem der beiden Idioten.

Die Handschellen bohrten sich schmerzhaft in meinen Rücken. Ich zappelte ein wenig herum und landete schließlich in einer Position mit dem Rücken gegen die Tür und den Beinen auf der Rückbank, wo meine schmutzigen Stiefel einen Abdruck auf der hellgrauen Polsterung hinterließen. Es war mir egal. Was mich störte, war die Hitze. Die warme Augustsonne heizte das Innere des Wagens auf wie eine Sauna, und mein Pulli hatte sich mit meinem Schweiß vollgesaugt, noch ehe wir es zwei Blocks die Straße runter geschafft hatten. Ich lehnte meinen Kopf zurück an die Glasscheibe und grübelte darüber nach, was mich gleich erwarten würde. Keine nette Vorstellung.

Als wir an einer Ampel stehen blieben, ließ ich meinen Blick durch die Heckscheibe über den Verkehr schweifen. In einem roten Doppeldeckerbus stand eine schwarze Frau mit einem Baumwolltuch um den Kopf gewickelt und einem Kleinkind im Arm. Sie pustete dem Jungen zart auf die Stirn, vermutlich um ihn zu kühlen. Ich seufzte schwer. Diese Frau würde ihr Kind bestimmt niemals in einem Heim zurücklassen, wo es auf sich selbst gestellt war. Der kleine Junge würde in einem gemütlichen Zuhause aufwachsen. Mit einer fürsorglichen Mutter, die ihn liebte. Weit weg von all dem Ärger, in dem ich gerade steckte.

Die Fahrt ging weiter, und kurze Zeit später parkte Riley den Wagen vor einem schmalen Backsteingebäude, das mir gut bekannt war. Er stieg aus und öffnete mir die hintere Tür. In diesem Moment beschloss ich, dass mein Hintern auf der Rückbank angewachsen war, und ich bewegte mich keinen Millimeter, sondern blickte ihm nur unschuldig in das aufgedunsene rote Gesicht. So wie es aussah, machte ihm die Hitze wohl noch mehr zu schaffen als mir.

„Was ist los, Artful Dogge? Du brauchst wohl eine Extraeinladung?“

Artful Dogge? Hatte Mr. Donut gerade versucht Dickens zu zitieren? Ich verdrehte die Augen, als ich zur Tür rüber rutschte und mit gefesselten Händen mühsam ins Freie kletterte. „Das Buch liest du wohl besser noch einmal, Schwachkopf“, murmelte ich dabei und stieß mir im selben Moment den Kopf heftig am Türrahmen. Der Schmerz schoss mir vom Scheitel bis in die Zähne und für einen kurzen Moment tanzten Sterne vor meinen Augen. „Verdammter Mist!“ Das kam nur von den blöden Handschellen.

Riley grunzte vor Lachen. „Das geschieht dir ganz recht.“

Herr, bitte lass ihn an seinem Gekicher ersticken, flehte ich mit einem hoffnungsvollen Blick nach oben. Doch da tat sich nichts. Überraschte mich nicht. Meine Gebete blieben erfahrungsgemäß unerhört. Mit gekreuzten Handgelenken im Rücken zog ich mir also die alten Jeans höher, die immer viel zu locker an meinen Hüften hingen, und folgte dem Langen hinüber zur Eingangstür, die er wie ein Gentleman für mich aufhielt. Wenn ich doch nur meine Hände aus den Handschellen winden könnte, dann würde ich dieser Flasche die Tür in sein dämliches Gesicht knallen.

Riley betrat das Gebäude nach mir. Ich ging etwas schneller und hatte ihn bis zur Treppe abgehängt. „Macht euch keine Umstände, Jungs!“, rief ich über meine Schulter. „Ich finde den Weg auch allein.“ Ich joggte die niedrigen Steinstufen hinauf in den ersten Stock. Leider musste ich aber dann doch vor der Tür des Polizeireviers warten, bis mir einer der beiden öffnete. Als sie auch endlich oben ankamen, keuchte Riley wie eine alte Dampflok. „Tz, tz“, machte ich und schüttelte den Kopf.

Der große Bulle ließ seine schwere Hand auf meine Schulter fallen. „Nur keine Eile, Mädchen. Du wirst deine Strafe schon noch früh genug bekommen.“

Daraufhin zog ich meine Schulter weg und knurrte angewidert: „Ich hab Neuigkeiten für euch, Riley und Rileys Partner. Ich bin erst siebzehn, also noch minderjährig. Ihr könnt mir gar nichts tun. Besonders nicht wegen eines so bedeutungslosen Vorfalls wie … mir einen Sweater auszuleihen.“ Ich setzte noch ein lässiges Grinsen oben drauf, was leider gar nicht so leicht über meine Lippen kam, wo mir doch ständig Miss Mulligans Drohung im Ohr lag.

„Ausleihen?“, prustete Riley, doch sein angepisster Gesichtsausdruck versicherte mir, dass ich recht hatte. Ich drehte mich zur Tür und atmete erleichtert auf.

Riley schloss die Tür auf und marschierte als Erster hinein. Ich holte tief Luft und folgte ihm dann in das Büro, das den gesamten ersten Stock belegte. Die Decke war hoch und gewölbt, und die Sonne, die durch die vielen schmalen Fenster schien, blendete mich für einen kurzen Moment. Der Gestank von Männerschweiß und Polizeihund kroch mir in die Nase.

Eine Handvoll Cops saß in gemütlichen Bürosesseln, wo sie genüsslich ihren Kaffee schlürften und sich über die breiten Schreibtische hinweg miteinander unterhielten. Keiner beachtete mich, also machte ich einen weiten Bogen um den deutschen Schäferhund, der sich quer über den Gang ausgebreitet hatte, und stolzierte schnurstracks an Riley vorbei und weiter zu der Rezeption mit Schreibtisch dahinter am Ende des Raumes.

Die Hüfte lässig an das Pult gelehnt, stützte ich mich so gut es ging auf einen Ellbogen und blickte runter zu dem schwarzhaarigen jungen Mann mit Dreitagebart, der gerade einen Stapel Formulare bearbeitete. Seine hellblauen Augen hoben sich nett von der dunklen Uniform ab.

„Hey, Quinn. Was geht ab?“, fragte ich. „Entschuldige, ich würde dir ja gerne die Hand schütteln, aber im Moment bin ich leider etwas … wie soll ich sagen–?“ Ich drehte mich zur Seite und hob die Schultern, um meine Handschellen zu präsentieren. „Kurz angebunden.“

Quinn fuhr sich mit den Händen über sein sonnengebräuntes Gesicht, was sein verzweifeltes Stöhnen erstickte. „Shit, Jona! Sag mir bitte, dass das Trick-Handschellen sind und du nur den verdammten Schlüssel verloren hast.“ Er schielte zwischen seinen Fingern hindurch zu mir rüber.

Ich versuchte es mit einem entwaffnenden Lächeln. „Möchtest du noch mal raten?“

Er nahm die Hände runter und verschränkte die Finger resignierend auf dem Tisch. „Warum landest du nur immer wieder in solchen Schwierigkeiten? Mädchen in deinem Alter sollten in Parks rumhängen und nicht auf einem Polizeirevier.“

Quinn war ein netter Kerl. Große Augen, chaotisch perfekt gestyltes Haar, gut gebaut. Vermutlich keine zehn Jahre älter als ich. Einmal hatte ich ihn gefragt, wie alt er wirklich sei, doch als Antwort bekam ich nur: Alt genug, um es besser zu wissen, Kleine.

Im Gegensatz zu Debbie Westwood war Quinn ein wirklicher Freund. Mein einziger. Und das, obwohl er als Cop ja eigentlich für die Gegenseite spielte. Aber er hatte mich schon ein paar Mal auf einen Cheeseburger zu McDonald’s eingeladen, als er mich nach seiner Schicht zurück ins Waisenhaus gefahren hatte – meistens nachdem ich wieder einmal bei irgendeinem Blödsinn erwischt worden war. Das Tolle an Quinn war, dass er in mir mehr sah. Etwas Besonderes. Jona, den Teenager und nicht nur, wie alle anderen, die Kriminelle.

Während des knappen Jahres, das wir uns nun kannten, hatte er niemals eine Gelegenheit ausgelassen, um zu versuchen, mir in mein rebellisches Gewissen zu reden. Und heute würde er bestimmt keine Ausnahme machen. Seine Nasenflügel flatterten leicht, als er für sein Alter viel zu tief seufzte. „Was hast du denn dieses Mal wieder angestellt?“

Da kam plötzlich Riley nach vorn, den ich seit dem Betreten des Büros ignoriert hatte. Er schlug mit der Faust auf den Tresen, wobei er den lila Sweater zwischen seinen groben Wurstfingern hielt. „Der kleine Jim Dawkins hier hat wohl einen Streifzug durch Camden Market gemacht. Wir haben die Beute sichergestellt.“

Genervt blickte ich zur Decke. „Jack … es heißt Jack Dawkins. Jemand sollte dir Oliver Twist über die Rübe hauen, damit du es dir endlich merkst.“ Ich hätte mich sogar freiwillig gemeldet, wenn jemand ein Buch in der Nähe gehabt hätte, das dick genug war, um eine Delle in seinem Dickschädel zu hinterlassen. Und wenn ich nicht gerade in Handschellen stecken würde, versteht sich. Ich warf Quinn einen besorgten Blick zu. „Warum gibst du dich mit solchen Schwachköpfen ab?“

Das war offenbar der Tropfen, der Riley, das Fass, zum Überlaufen brachte. Er stürzte auf mich zu und ich konnte das zornige Feuer in seinen Augen erkennen. Doch Quinn packte ihn am Arm und zog ihn zur Seite, bevor Riley mich auch nur anfassen konnte. „Danke, dass ihr sie hergebracht habt“, sagte er mit ruhiger, doch unmissverständlich dominanter Stimme. „Von hier an übernehme ich.“

Riley grunzte, doch er gab schließlich nach und stapfte davon, wobei er so heftig schnaubte, dass sogar Thomas, die kleine Lokomotive, neidisch werden würde. Nachdem er und sein Partner in einem Nebenraum verschwunden waren, wandte sich Quinn wieder mir zu.

Oh, oh! Sein Blick gefiel mir gar nicht. Das würde Ärger geben.

„Dir ist hoffentlich klar, dass Abe dafür deinen Kopf rollen sehen will“, sagte Quinn schließlich, doch er machte eine kurze Pause, als mir ganz offensichtlich die Farbe aus dem Gesicht entwich.

Zum ersten Mal hatte ich das Vergnügen gehabt, einen Gerichtssaal von innen zu sehen und Bekanntschaft mit Richter Abraham C. Smith zu machen, nachdem ich vor elf Monaten einen Gameboy von Stanton Electronics gestohlen hatte. Ich bezeichnete den kahlköpfigen Richter gerne als meinen speziellen Freund, obwohl er für meine Wenigkeit wohl eher den Ausdruck „permanente Plage“ bevorzugte.

Kleine Ladendiebstähle im vergangenen Jahr gaben uns die Gelegenheit, unsere Freundschaft Extraordinaire zu pflegen und weiter auszubauen. Miss Mulligan hatte zwar bisher immer meinen Arsch gerettet, doch bei meinem letzten Zusammentreffen mit Abe Smith hatte dieser geschworen, er würde mich für die nächsten fünfhundert Jahre wegsperren, falls ich auch nur noch ein einziges Mal in seinem Büro aufkreuzen würde. Er hatte dabei ausgesehen, als würde er gleich anfangen Feuer aus den Ohren zu speien. Mit einem Blick so scharf wie Supermans Laserstrahlen warf er mich dann aus seinem Amtszimmer, das gleich hinter dem Gerichtssaal lag und wo bedeutungslose Fälle wie meine abgehandelt wurden. Ich war echt nicht scharf darauf, ihm so schnell wieder unter die Augen zu treten.

Quinn stand auf und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ihn schüttelte ich nicht ab, so wie ich es bei dem anderen Bullen vorhin getan hatte. „Komm schon, Kleine. Wir füllen die Formulare aus und dann rufe ich Miss Mulligan an. Ich kann im Moment leider nicht weg, also wird sie wohl herkommen und dich abholen müssen.“

Also kein Cheeseburger heute. Dafür die Gewitterziege. Das Herz rutschte mir in die Hose. Ich konnte mir schon bildlich ausmalen, wie die sommersprossige Bohnenstange ausflippen würde, wenn sie gleich hörte, dass ich auf dem Polizeirevier festsaß. Wieder einmal. Mein achtzehnter Geburtstag war nur noch sieben Wochen entfernt. Sechs Wochen und fünf Tage, um genau zu sein. Sie würde doch ihre Drohung nicht tatsächlich noch wahr machen und mich so kurz vor meiner Freilassung vom Jugendheim aus an die Behörden übergeben. Oder?

*

Zwei Stunden später folgte ich Miss Mulligan durch die schwere Eingangstür des Instituts. Mein Blick war starr auf den grauen Linoleumboden gerichtet, doch das Flüstern hinter vorgehaltenen Händen und die abfälligen Blicke meiner Heimgenossen entgingen mir keineswegs.

„Geh auf dein Zimmer!“, befahl Miss Mulligan. An ihrem Gesichtsausduck war zu erkennen, wie sehr sie sich anstrengte, ihren momentanen Ärger im Zaum zu halten. „Ich werde jetzt erst mal Richter Smith anrufen. Wir beide unterhalten uns später.“

Richter Smith anrufen? Dem Himmel sei Dank, sie war immer noch auf meiner Seite! Ich kannte ihr Vorgehen von meinen früheren Eskapaden. Erst machte sie einen Anruf bei Gericht und versuchte die Behörden davon zu überzeugen, keine Anklage zu erheben. Das Heim würde für den verursachten Schaden – oder, in diesem konkreten Fall, für den gestohlenen Sweater – aufkommen. Dann würde sie mich zu einer inoffiziellen Anhörung schleifen, bei der ich meine guten Absichten zur Besserung beteuern sollte. Am Ende würde ich vielleicht mit zwei Wochen Zimmerarrest und Fernsehverbot davonkommen.

Akzeptabel.

An diesem Abend kam die Gewitterziege persönlich in mein Zimmer und teilte mir mit, dass das gefürchtete Treffen mit Abe für kommenden Dienstag festgelegt worden sei. Außerdem sagte sie mir, dass sie an dem Tag, an dem ich achtzehn werden und das Institut für immer verlassen würde, vor Freude auf ihrem Schreibtisch Stepp tanzen werde.

Ich hatte keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln.

Die wenigen Tage bis zu meiner Anhörung verbrachte ich in meinem spärlich eingerichteten Zimmer mit schmutzigen Wänden und kaltem Linoleumboden. Auf dem klapprigen, alten Metallbett zusammengekauert, steckte ich meine Nase die meiste Zeit in ein Buch und meine Füße unter die kratzige Wolldecke. Das schale Licht der Lampe, die auf einem Stuhl neben meinem Bett stand, spendete kaum genug Licht, um nachts die Worte zu entziffern. Doch das hinderte mich nicht.

Ich las gerade die Geschichte von Peter Pan, der seiner Freundin Wendy das Fliegen beibrachte und mit ihr über ein schlafendes London schwebte. Vielleicht sollte ich mein Fenster offen lassen und auf jemanden wie ihn hoffen, der mich heute Nacht noch nach Nimmerland entführte. Tja, schön wär’s …

Am Dienstagmorgen schlüpfte ich in meine besten schwarzen Jeans, reparierte das Loch über dem rechten Knie mit einer Sicherheitsnadel und schrubbte meine schäbigen Stiefel. Ein schwarzer Kapuzensweater, dessen Ärmel fünf Zentimeter zu kurz für meine Arme waren, rundete mein Outfit für besondere Anlässe ab.

Als ich die Stufen in die Eingangshalle runterkam, wartete Miss Mulligan bereits auf mich. Das schmale Kleid, das sie trug, sah aus, als hätte sie sich eine knallpinke Signalflagge um den Körper gewickelt. Sie hetzte mich nach draußen und in ein Taxi, das uns zum Gerichtsgebäude fuhr. Wie üblich sollten wir Abe in dem Raum hinter dem großen Saal treffen. Als wir den langen Gang im ersten Stock des Gebäudes nach hinten eilten, stieg mir plötzlich ein altbekannter Duft in die Nase. Kirschblüten. Der Geruch rief eine schmerzhafte Erinnerung aus längst vergessenen Zeiten wach. Ich kannte auf der ganzen Welt nur eine Person, die dieses besondere Parfüm getragen hatte. Aber das konnte doch nicht sein.

Ich hielt an und drehte mich um. Miss Mulligan sah mich verwundert an, aber ich kümmerte mich nicht weiter um sie. Stattdessen atmete ich den süßen Duft tief ein und blickte dabei nach allen Seiten. Aber die eine Person, nach der ich Ausschau hielt, war nirgendwo zu sehen.

War wohl doch nur ein Irrtum. Ich atmete erleichtert aus.

Vor Richter Smiths Amtszimmer war ein Wachmann postiert. Erst nachdem wir ihm meine nette, offizielle Einladung gezeigt hatten, ließ er uns passieren. Er blickte auf meine Hände, die ich tief in meine Hosentaschen gesteckt hatte, und machte dabei ein finsteres Gesicht. Das kratzte mich nicht. Ich ignorierte ihn und folgte der Gewitterziege in Pink.

Abes Zimmer war dreimal so groß wie Miss Mulligans Büro im Jugendheim und mit einem hellbraunen Teppich ausgelegt. Durch breite Fenster an zwei Wänden strömte Licht und ließ den Raum fast freundlich wirken. Seitlich neben der Tür stand eine kleine Gruppe von Leuten an der Wand, doch ich sah sie nur aus dem Augenwinkel und schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Neben dem monströsen Schreibtisch des Richters saßen ebenfalls Leute; unter ihnen mein guter Freund Quinn. Er warf mir einen ermutigenden Blick zu, und ich fühlte, wie sich eine angenehme Wolke der Ruhe über mich legte. So lange Quinn da war, würde mir nichts passieren. Er würde es nicht zulassen. Ich zog die Mundwinkel in einem Versuch zu lächeln nach oben und er nickte mir zu. Dann holte ich tief Luft und richtete meinen Blick auf Abe.

Sein argwöhnischer Ausdruck verursachte bei mir eine Gänsehaut, doch selbst als Miss Mulligan langsamer wurde, schritt ich entschlossen auf ihn zu. Zeig niemals Angst oder Schwäche, hörte ich dabei Debbies Warnung in meinen Gedanken.

„Na, wenn das nicht Jona Montiniere ist.“ Abe schob seine kleine, rahmenlose Brille etwas weiter die Nase hoch und musterte mich von oben bis unten.

Kopf hoch, Schultern zurück, sagte ich mir selbst und setzte dabei mein bestes Businesslächeln auf. „Hallo Abe. Was machen die Geschäfte?“

Der Richter knirschte mit den Zähnen. „Durch Sie habe ich immer etwas zu tun, Miss Montiniere“, grummelte er durch seinen stoppeligen Bart. Ich hatte mich immer gefragt, wie es kam, dass Männer ihre gesamte Haarpracht verlieren konnten, aber der Bart immer noch sprießte wie Unkraut im verzauberten Garten. Doch das schien mir nicht gerade der geeignete Zeitpunkt zu sein, um dieses heikle Thema mit Abe zu besprechen. Nicht, wenn er gerade so richtig in Fahrt kam.

Er warf einen kurzen Blick auf die Unterlagen vor ihm. „Das ist heute das dreiundzwanzigste Mal innerhalb einen Jahres, dass Sie vor mir stehen.“

Bei dem Wort dreiundzwanzig ertönte ein leises Pfeifen aus der Stuhlreihe. Ich peilte Quinn an, der eine beeindruckte Augenbraue hochzog.

„Möchten Sie etwas zu Ihrer Verteidigung sagen, Miss Montiniere?“, fuhr Abe fort.

Ich zog einen Schmollmund. Quinn zuckte nur mit den Schultern. Neben ihm saß Riley, der gerade den letzten Bissen von einem Donut mit rosa Zuckerguss in sein breites Maul stopfte. Er brachte mich auf eine Idee.

Mit einem optimistischen Grinsen drehte ich mich zurück zu Abe. „Ich bin Kleptomanin und habe ein medizinisches Gutachten für offiziell erlaubtes Stehlen in ganz London.“ Na, was sagst du dazu?

Für einen Moment sagte Abe gar nichts. Sein Mund bewegte sich zwar, aber es kam kein Ton heraus. Riley bellte indessen wie ein erstickender Hund und schlug sich mit der Faust wild gegen die Brust. Allerdings war es das tiefe, leise Lachen aus dem hinteren Teil des Zimmers, das meine volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Erst sah ich nur kurz über meine Schulter nach hinten, doch das strahlende Sonnenlicht blendete mich und so drehte ich mich auf den Hacken um.

Für einen unermesslich langen Moment schien ein greller weißer Nebel alles in seinem Umkreis zu verschlingen. Fassungslos konnte ich nicht einmal blinzeln. Dann trat plötzlich eine große, schlanke Figur aus dem leuchtenden Nebel. Ein langes, weißes Gewand, beinahe so wie eine Kutte, wehte um ihre Beine. Die weiten, flatternden Ärmel verdeckten die Hände fast vollständig. Als Nächstes nahmen abgrundtief blaue Augen ihre Form an, gefolgt von einem warmen Lächeln, das mühelos jeden Gletscher der Arktis hätte schmelzen lassen können.

Es musste sich hier um eine optische Täuschung durch das hereinströmende Sonnenlicht handeln. Eine stressbedingte Halluzination. Ich war wohl doch angespannter, als ich zuerst vermutet hatte. Ich machte die Augen zu, dann blinzelte ich ein paar Mal. Doch die Illusion verschwand nicht.

Ich spürte, wie jedes Paar Augen im Raum auf mich gerichtet war. Meine Haut prickelte unter dem mir zugeteilten Argwohn. Nur die erleuchtete Person vor mir senkte ihren Blick. Die Person trat wenige Schritte zurück in den Schatten der Mauer und sofort verschwand auch der gleißende Nebel. Nun erst erkannte ich die feinen Gesichtszüge eines jungen Mannes. Ein abgetragenes Paar Jeans und eine schwarze Lederjacke waren nun da, wo ich zuvor geglaubt hatte, eine fließende Robe zu sehen.

Ganz offensichtlich mussten sie nun auch noch „wahnhafte Störungen“ zu meinem medizinischen Gutachten hinzufügen.

Seine Wangen waren glatt rasiert – ehrlich gesagt sah er so aus, als wäre ihm noch nie auch nur ein einziges Barthaar gewachsen – und sein Gesicht wies leicht kantige Züge auf. Im Gegensatz dazu standen seine sinnlichen Lippen. Als seine Mundwinkel langsam nach oben zu einem Lächeln wanderten, flatterte mein Herz wild in meinem Brustkorb umher, wie ein Spatz im Käfig. Goldblondes Haar mit noch helleren Strähnen fiel ihm über die Stirn in seine Augen und erinnerte mich an warme Milch mit Honig. Selbst ohne den mystischen Nebel von gerade eben ähnelte dieser junge Mann einer Mischung aus Mensch und Gott.

Heiliger Strohsack, was brachte denn einen Halbgott zu meiner Anhörung? Es war doch nur ein dämlicher Sweater gewesen!

Als er andeutungsweise eine Augenbraue hochzog, wusste ich, ich hatte alle Etikette vergessen und starrte ihn gerade unverschämt an. Mir wurde am ganzen Körper heiß und mein Gesicht spiegelte vermutlich gerade ein Erdbeerfeld wider.

„Was soll dieses Benehmen, Miss Montiniere? Ich erwarte Ihre Aufmerksamkeit!“ Abes Worte drangen von weit, weit her. Doch ich nahm ihn nicht wahr.

Diese saphirblauen Augen hielten mich in ihrem Bann. Niemals wieder wollte ich aus meinem persönlichen, kleinen Gefängnis entfliehen. Der Rest der Welt versank um mich.

Und dann schlängelte sich plötzlich eine knochige Hand um den Arm dieses jungen Gottes.

Kirschblüten? Warum roch es in diesem Raum plötzlich nach Kirschblüten? Der unverwechselbare Duft brachte mich zurück in die Realität. Wie lange war es wohl her, dass ich dieses Parfüm zuletzt gerochen hatte? Vielleicht drei Jahre? Vier? Nein, es mussten wohl schon fünf gewesen sein. Langsam ließ ich meinen Blick über die knochige Hand und den dünnen Arm hinauf gleiten. Panik breitete sich in mir aus. Doch es war zu spät, um wegzulaufen.

Kapitel 2

Ein kleines Problem

Richter Abes Zimmer begann plötzlich sich mit all den Menschen darin um mich zu drehen. Mir war, als hätte mich jemand in eine viel zu kleine Pappschachtel gesteckt und den Deckel über mir zugeknallt.

Meine Stimme bebte. „Wer hat dieses Miststück reingelassen?“ Ich zitterte am ganzen Körper, als ich Charlene Montiniere geradewegs in die Augen blickte.

„Sie sind hier bei Gericht, Miss Montiniere! Vergessen Sie das nicht!“, warnte mich der Richter scharf. „Ich erwarte, dass Sie sich angemessen benehmen!“

„Den Teufel werd ich tun!“, fauchte ich zurück, ohne meinen Blick von Charlene zu nehmen. „Diese Frau hat mich in ein Waisenheim gesteckt, als ich gerade mal fünf war. Sie hat sich nicht einmal nach mir umgedreht!“ Furcht schnürte mir den Hals zu. Wie wollte die Hexe diesmal mein Leben ruinieren?

Charlene gaffte mich stillschweigend an. Dunkle Ringe lagen tief unter ihren Augen. Sie hatte einen viel zu roten Lippenstift aufgetragen, der sich stark von ihrem leichenblassen Gesicht abhob. Ihr dunkles rotbraunes Haar war einst das perfekte Ebenbild von meinem gewesen, doch heute umrahmte es ihr Gesicht in kraftlosen matt-orangen Strähnen. Kurz gesagt, sie sah aus, als wäre sie durch die Hölle gegangen.

Gut. Ich hoffte, die Schlampe hatte genauso gelitten wie ich. Meinetwegen konnte sie in das Rattenloch zurückkriechen, aus dem sie gestiegen war. Und sie kam am besten gar nicht erst auf den Gedanken, etwas zu mir zu sagen. Dieses Recht hatte sie verloren, als ich fünf Jahre alt war.

Langsam hob sie eine zitternde Hand, so als ob sie mich über die fünf Meter hinweg, die zwischen uns lagen, anfassen wollte.

„Verreck in der Hölle, Charlene!“ Mit einem hasserfüllten Blick untermauerte ich meine Worte.

„Jona Montiniere! Ich verbitte mir dieses Benehmen in meinem Amtszimmer!“, brüllte Abe Smith. „Ich verstehe Ihre Vorurteile gegen Ihre Mutter, doch wenn Sie die Gründe für ihr Handeln hören, werden Sie Ihre Meinung vielleicht ändern.“

Niemals.

Eine einzige Minute länger im gleichen Raum mit meiner Mutter wäre eine Ewigkeit zu lang. Ich drehte mich zu dem alten Richter hinter seinem riesigen Tisch und salutierte provokant zum Abschied. „Mach’s gut, Abe. Ich verzieh mich.“

Das Geschrei hinter mir, um mich zur Ordnung zu rufen, war umsonst. Konsequenzen? Die juckten mich nicht. Ich marschierte schnurstracks zur Tür, mit dem einzigen Ziel, so viel Abstand wie möglich zwischen mich und diese Schlampe zu bringen.

Leute riefen meinen Namen; manche nannten mich Miss Montiniere, andere riefen mich beim Vornamen, so als ob wir Freunde wären.

„Sei vernünftig, Kleine! Bleib wo du bist!“, hörte ich Quinn.

Kam nicht in Frage. Sein verzweifeltes Flehen würde mich nicht daran hindern, von hier zu verschwinden. Aber ein Paar stämmige Arme, die sich gerade um meine Taille wanden, konnten es sehr wohl.

Riley hatte mich gepackt und hielt mich fest. Seine Augen blitzten siegessicher, als er mich mit dem Rücken gegen die Wand drückte. „Du gehst nirgendwo hin, Fräulein, außer in den Knast.“

Bleib ruhig! Panik war noch nie eine große Hilfe gewesen und im Moment musste ich mich auf das Wesentliche konzentrieren. Nämlich, wie ich hier rauskommen würde.

Meine Fingernägel gruben sich tief in meine geballten Hände. „Nimm deine verdammten Dreckspfoten von mir!“ Ich biss Riley in die Hand an meiner Schulter. Der kreischte so laut auf, dass mir beinahe das Trommelfell zerplatzte. Von dem Donut-Geschmack, der sich in meinem Mund breit machte, wurde mir übel.

Riley riss seine Hand zurück. „Verdammtes Gör! Dafür wirst du bezahlen!“

Über seine Schulter hinweg sah ich Quinn und Rileys Partner auf mich zustürmen, doch Riley torkelte gegen Quinn, woraufhin dieser zur Seite taumelte. Er griff nach Miss Mulligans Arm, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Die Gewitterziege schrie wie am Spieß und schlug hysterisch auf meinen einzigen Freund ein.

Mit der ganzen Unruhe, die gerade im Gange war, sah ich meine Chance gekommen. Ich machte mich aus dem Staub. Doch weit kam ich nicht. Ja, noch nicht einmal bis zur Tür, denn schon nach wenigen Schritten ergriff mich Rileys Partner am Handgelenk und wirbelte mich herum. Durch den Schwung, den er mir versetzte, wurde ich gegen einen schmalen, dunklen Schreibtisch in der Ecke des Raumes geschleudert.

Der verrückte Bulle steuerte verbissen auf mich zu. Aus Schreck und Notwehr lehnte ich mich auf der Schreibtischplatte zurück und zog die Knie an. Mit einem harten Tritt gegen seine Brust setzte ich ihn für einen kurzen Moment außer Gefecht. Ein Pfeifen entwich seinen Lungen, als er rückwärts stolperte. Schließlich beugte er sich vornüber und keuchte. Als er wenige Sekunden später wieder bei Kräften war, tobte er auf eine Art und Weise, bei der Debbie Westwood, die ungekrönte Königin des Fluchens, grün vor Neid geworden wäre.

Ich wich ihm aus, doch meine Fluchtmöglichkeit war verstrichen. Die Tür wurde von außen aufgestoßen und zwei Wachen stürmten herein. Ob es nun Rileys Schmerzgeschrei war, Miss Mulligans zickiges Gekreische oder ein geheimer Knopf unter Abes Schreibtisch, der die Wachen alarmiert hatte, konnte ich nicht sagen. Doch sie hatten mich mit den Schultern auf den Boden gedrückt, noch bevor ich den nächsten Atemzug machen konnte.

Die ganze Luft wurde aus meinen Lungen gepresst. Ein schriller Schmerz zuckte durch meinen Körper.

„Nicht!“, riefen zwei Männer gleichzeitig. Einer der beiden war Quinn; seine Stimme war mit Horror erfüllt. In diesem Moment war ich dankbar, dass wenigstens er mich nicht fallen ließ, wie all die anderen es taten.

Zu wem die andere besorgte Stimme gehörte, konnte ich jedoch nicht erkennen.

Einer der beiden Wachen zog ein Paar Handschellen von seinem Gürtel. Er fesselte meine Hände damit vor meinem Körper. Weder mein Kreischen noch mein Strampeln konnten das widerliche Klicken der Handschellen stoppen, als sie ins Schloss ratterten.

„Lasst sie los, ihr Schwachköpfe! Sie ist doch noch ein Kind!“ Quinn bahnte sich mit seinen Ellbogen einen Weg zu mir durch. „Bist du okay, Kleine?“

Der Schmerz in meinem Rücken und meiner Brust hatte nachgelassen. Ich konnte wieder atmen. „Wow, was für ein Kampf!“ Ich hatte nicht das Gefühl, dass etwas gebrochen war, also presste ich die Lippen aufeinander und nickte Quinn halbherzig zu. „Mir geht’s gut.“

Es musste mir gut gehen. Keine Schwäche. Niemals.

Quinn fasste mich an den Oberarmen und zog mich auf die Beine. Ich wackelte noch ein wenig, doch ich fing mich schnell.

„Um Himmels willen, Jona“, zischte er. „Ich flehe dich an, benimm dich!“

Ein tiefes Grollen ging meiner Antwort voraus. „Zu Befehl, Sir.“ Was hatte ich auch für eine andere Wahl … mit den Handschellen an.

Im Augenwinkel bemerkte ich den Begleiter meiner Mutter ganz in meiner Nähe. Der blondhaarige Adonis musterte mich mit finsterem Blick. Versuchte er mich zu durchschauen? Dabei hatte ich ein sehr mulmiges Gefühl.

Quinn zog mich sachte nach vorn zu Abes Schreibtisch. Über meine Schulter hinweg versuchte ich, den Blick des seltsamen Fremden noch für einen Moment länger zu halten. Sein Arm lag in einer schützenden Haltung um die Schultern meiner Mutter. Ein Halbgott Anfang zwanzig und Charlene? Wie um alles in der Welt passte das denn zusammen?

„Jona Montiniere!“

Das Gemurmel im Raum verstummte augenblicklich durch Abes Brüllen. Ich riss den Kopf herum und stählte meine Nerven für das, was mich nun erwartete.

Abe stand hinter seinem Schreibtisch und stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte, wobei er sich nach vorne beugte und mich über den Rand seiner Brillen hinweg missbilligend ansah. „Diesmal sind Sie zu weit gegangen. Missachtung des Gerichts. Angriff auf eine Polizeiperson–“

„Was?! Die haben mich zuerst angegriffen!“ Meine Stimme donnerte ebenso zornig wie seine durch den Raum. „Jemand sollte Riley wegen Kindesmisshandlung hinter Gitter stecken!“

GENUG!“, röhrte Abe. „Halt deinen Mund und setz dich hin!“

Das formelle Miss Montiniere hatte er sich offenbar geschenkt.

„Mich setzen?“ Mein dramatischer Blick hinter mich machte deutlich, dass da nur der harte Fußboden war und sonst nichts.

Abe rieb sich frustriert die Schläfen. „In Gottes Namen, bringt dem Mädchen einen Stuhl.“

Einer der Wachen schob mir eilig einen Sessel in die Kniekehlen. Ich knickte ein und landete auf dem harten Sitz aus Holz. Quinn stand mit verschränkten Armen neben mir. Er wirkte fast wie ein Türsteher vor einem von Londons Nachtclubs. Ooh, mein ganz persönlicher Pit Bull. Das nahm mir zumindest einen Teil meiner Angst.

Der Richter beruhigte sich mit ein paar tiefen Atemzügen und setzte sich schließlich ebenfalls hin. Seine aufgeplusterte Robe mit den Puffärmeln verlieh ihm eher das Aussehen einer gespenstischen Eule, als das einer Autoritätsperson. Als er seinen Blick kurz auf die Unterlagen vor ihm senkte, nutzte ich die Gelegenheit und stieß Quinn mit meinem Ellbogen in den Oberschenkel.

„Was ist?“, grummelte er.

Ich hob meine Hände mit den einschneidenden Handschellen und grinste niedlich. „Könntest du die abnehmen?“

Quinn warf einen kurzen Blick hinter sich zur Tür, dann sah er mich mit schmalen Augen für einen Moment eindringlich an. „Ganz sicher nicht.“

Wie bitte? Und ich hatte gedacht, er wäre mein Freund. Ich versuchte ihn mit meinem Todesblick zu vernichten, doch er lächelte nur und zerraufte mir das Haar.

Als Richter Abe sich lauthals räusperte, richteten sich alle Blicke im Raum wieder auf ihn. „Miss Montiniere, ich verfolge Ihre Strafakte nun schon seit fast einem Jahr. Wie man mir gesagt hat, werden Sie in wenigen Wochen aus dem Lorna Monroe Waisenhaus entlassen.“ Er zog sich die Brille von der Nase und legte sie behutsam auf den Papierstapel vor sich. „Das gibt Anlass für ernsthafte Bedenken. Mit einer kriminellen Vergangenheit wie der Ihren, zweifle ich nicht daran, dass wir Sie über kurz oder lang bei einem ernsthaften Raubzug durch London erwischen werden.“

Kriminelle Vergangenheit? Hallo? „Ich klaue nur von den Reichen, um es den Armen zu geben.“ Und in diesem speziellen Fall war ich eben die Arme. „Sollte eine Person in Ihrer Position ihr Amt nicht ohne jegliche Vorurteile praktizieren?“

Ich hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als Quinns Finger sich bereits schmerzhaft in meine Schulter gruben.

Der Richter jedoch schenkte meinem Vorwurf keinerlei Beachtung. Er holte nur langsam und tief Luft. „Um das Schlimmste zu vermeiden, sollte ich Sie unter Hausarrest stellen und eine offizielle Anhörung für einen späteren Termin festsetzen; wenn Sie achtzehn und voll strafmündig sind. Nichts würde mich dann noch davon abhalten, Sie in Haft zu bringen.“

Ach du heilige Scheiße.

Er machte eine kurze Pause und zog die Mundwinkel zu einem überlegenen Lächeln hoch. Ich wünschte, der Wachhund an meiner Seite würde mir die Handschellen abnehmen, damit ich dem alten Richter die glasigen Augen auskratzen konnte.

„Doch zu Ihrem Glück“, sagte er, „befindet sich heute Ihre Mutter unter uns. Wir hatten heute Morgen ein inoffizielles Treffen, und ich bin froh–“

Ich sprang von meinem Stuhl auf und schnitt ihm das Wort ab. „Sie waren also der Verräter, der sie zu dieser Anhörung eingeladen hat?“ Eine schrille Sirene ging in meinem Kopf an, die meine Vernunft völlig außer Kraft setzte.

„Setz dich wieder hin, Jona“, knurrte Quinn verbissen. Seine Hand auf meiner Schulter drückte mich nach unten. Ich quengelte, doch schließlich musste ich seiner Kraft nachgeben.

„Und ich bin froh“, fuhr Abe fort, als hätte ich ihn gar nicht erst unterbrochen, „dass sie mir von Ihren Verwandten in Frankreich erzählt hat, die bereit sind, Sie aufzunehmen und Ihnen ein Zuhause zu bieten. Ihr Onkel und Ihre Tante besitzen dort Weinberge, in denen Sie jeden Tag bis zu Ihrer Volljährigkeit freiwillige Arbeit leisten werden.“

Jetzt war er wohl völlig durchgeknallt. „Sie wollen mich aufs Festland verschiffen? Wie einen Sklaven? Das dürfen Sie nicht! Das ist illegal!“

Oh mein Gott. Und was, wenn nicht?

Abe wies meinen Einspruch mit einem einfachen Hochziehen der Augenbrauen ab. „Da Ihre Mutter durch schwerwiegende gesundheitliche Probleme auf die Hilfe anderer angewiesen ist, lebt auch sie derzeit im Haus ihrer Schwester in Frankreich. Wir sehen dies als einmalige Gelegenheit für Sie an, Ihre Familie besser kennenzulernen und die Bande zu stärken.“

„Wie soll man etwas stärken, das noch niemals existiert hat?“, maulte ich. Auf dieser Welt gab es absolut gar nichts, das irgendetwas zwischen mir und meiner Mutter formen oder verstärken konnte. Ganz zu schweigen von einem Familienband. Bloß keinen Kontakt mit der Schlampe und ihrem kleinen Schoßhündchen, vielen Dank. Und wo zum Teufel kam überhaupt diese Tante her, von der Abe die ganze Zeit redete? Ich hatte noch nie von irgendwelchen Verwandten gehört, ob in England, Frankreich oder sonst wo.

Wenn ich noch einmal protesthalber aufsprang, würde Quinn mich nur wieder zurück auf den Stuhl drücken. Also hob ich stattdessen meinen rechten Arm wie ein braves Schulmädchen, um die Aufmerksamkeit des Richters zu erlangen. Blöderweise kam durch die Handschellen auch meine linke Hand mit hoch. „Bitte, ich möchte lieber ins Gefängnis.“

Quinn warf mir einen entsetzten Blick von oben herab zu. Ich nahm nur kurz Notiz von ihm, konzentrierte mich dann aber wieder auf Abes trübe Augen und wartete auf seine Entscheidung.

„Ich gehe davon aus, dass Sie Ihr letztes Schuljahr im vergangenen Frühling positiv abgeschlossen haben?“

Meine Noten in Algebra waren zwar hundsmiserabel, und ich hatte auch keine Ahnung, was diese Frage mit meiner Bestrafung zu tun haben sollte, doch ich nickte.

„Und Sie besuchen derzeit auch keine Sommerkurse in Miss Mulligans Jugendheim?“

„Nein.“

„Dann werden Sie die nächsten sechs Wochen mit Ihrer Familie in Frankreich leben.“ Er schlug den kleinen Holzhammer auf die runde Scheibe auf seinem Tisch und besiegelte damit mein grausames Schicksal. „Und jetzt verlassen Sie mein Amtszimmer und kommen Sie nie mehr wieder.“

Ich war so was von am Arsch.

Als schließlich alle anfingen, Pläne über meinen Kopf hinweg zu schmieden und sich die Stimmen im Raum zu einem schmerzhaften Gemurmel in meinem Kopf entwickelten, hatte Quinn Mitleid und ließ mich draußen warten. Erst musste ich ihm jedoch versprechen, nicht abzuhauen oder Streit mit einem Wachbeamten anzufangen. Dafür hatte er den Stinkefinger verdient, doch ich hielt mich zurück und schenkte ihm nur ein kühles Lächeln.

Am Gang rutschte ich mit dem Rücken die Mauer entlang hinunter, bis ich mit angezogenen Beinen auf dem kalten Fußboden saß, und stützte meine Ellbogen auf die Knie. Die Kette der Handschellen rasselte leise, als wollte sie sich über mich lustig machen. Auf diese Weise gefesselt, würde ich nicht weit kommen, sollte ich mich nach draußen schleichen. Ich konnte mich also ebenso gut meinem Schicksal fügen.

Völlig niedergeschlagen und nicht weniger verwirrt, lehnte ich meinen Kopf zurück und betrachtete die fade Decke. Dieser Ausblick war immer noch interessanter als die nervtötenden Blicke der vorbeistolzierenden Leute. Aus einer alten Angewohnheit – wenn ich für mich selbst war und knietief im Schlamassel steckte – begann ich leise ein Lied zu summen. Ich wusste nicht einmal dessen Namen, doch schon immer hatte mich die Melodie auf eine seltsame Art und Weise beruhigt. Die Chancen standen nicht schlecht, dass ich mir das Lied vor Jahren selbst ausgedacht hatte. Doch in der Zwischenzeit hatte ich es so viele Male gesummt, gepfiffen oder den Rhythmus mit meinen Fingern geklopft, dass ich es wohl nie wieder aus meinem Kopf kriegen würde.

Es kratzte mich nicht, als die Tür zu Abes Zimmer aufging, und ich summte ungeniert weiter. Doch als der blonde Freund meiner Mutter heraustrat und sich mit einer Schulter gegen die Säule in der Mitte des Korridors lehnte, versagte mir die Stimme.

„Hi“, sagte er mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck.

In diesem Moment wünschte ich mir nichts mehr, als dass Quinn, der Verräter, mir vorhin die Handschellen abgenommen hätte. So sah ich doch aus wie der letzte Vollidiot.

Ich presste die Lippen aufeinander und winkte kurz. Alleine der Anblick dieses jungen Mannes verursachte bei mir eine Gänsehaut.

„Das war eine ziemlich beeindruckende Vorstellung, die du da gerade abgeliefert hast.“

Mit einem finsteren Blick versuchte ich eine ganz bestimmte Botschaft zu vermitteln: Kümmere dich um deinen eigenen Dreck, Freundchen. Laut sagte ich jedoch lieblich: „Freut mich, dass es dir gefallen hat.“

„Hat es nicht wirklich.“ Er rümpfte die Nase. Wie niedlich. „Dass du dich mit ein paar Cops anlegst, war nicht unbedingt dein bester Einfall bisher. Selbst ein kluges Mädchen wie du kann in so einem Kampf leicht verletzt werden.“

Ja, genau. Ich machte kleine Schlitzaugen.

Er nickte in Richtung meiner Handschellen. „Die sehen etwas unbequem aus.“

Und das waren sie verdammt noch mal auch, doch ich tat es mit einem Achselzucken ab. „Die sind der letzte Schrei. Du hast doch den Richter gehört. Ich trag die ziemlich oft.“

Das anzügliche Grinsen auf seinen Lippen hob meinen Blutdruck ein wenig an. „Was hältst du davon, wenn wir sie dir abnehmen?“, fragte er.

Er machte wohl Witze. „Wenn du nicht gerade Zähne wie eine Kettensäge hast, weiß ich nicht, wie du das anstellen willst.“

Er kam auf mich zu und zog dabei einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Als er in die Hocke ging und auf Augenhöhe mit mir sank, schüttelte er die Schlüssel vor meinem Gesicht. Das nette Geklirr von Metall hallte über den Gang.

Mir sackte das Kinn auf die Brust. „Wo hast du die denn her?“

„Von Officer Madison.“

„Du hast sie von Quinn gestohlen?“ Blitzartig zog ich meine Hände aus seiner Reichweite.

„Natürlich nicht!“ Der blonde Halbgott sah mich vorwurfsvoll an. „Ich habe ihn danach gefragt.“

Warum sollte dieser Bursche meinen Polizisten-Freund bitten, mich freizulassen? Ich konzentrierte mich auf die Sicherheitsnadel in meinem Knie. „Quinn wollte mir die Handschellen nicht abnehmen, als ich ihn darum gebeten hatte.“ Als ich aufblickte, war ich kurz davor, mich in seinen tiefblauen Augen zu verlieren.

„Ich musste hoch und heilig schwören, auf dich aufzupassen. Und jetzt halt still.“ Seine kühlen Finger legten sich um mein Handgelenk, als er die erste Handschelle aufschloss.

Die empfindliche Stelle auf der Innenseite meines Handgelenks kribbelte und ich begann leicht zu zittern.

Er hatte einem Cop sein Wort gegeben. Warum machte er sich solche Umstände, nur um mich von diesen Scheißdingern zu befreien? Was kümmerte es ihn? Er wäre wohl besser hinter dieser Tür geblieben und hätte die Hand meiner fürchterlichen Mutter gehalten, anstatt die Fesseln von meinen abzumachen.

Mit einem leisen Klick sprang auch die zweite Handschelle auf. Ich rieb mir die brennenden Stellen auf meiner Haut. Feurig rote Striemen waren zurückgeblieben.

Der junge Mann neigte seinen Kopf und zog eine Augenbraue hoch. „Besser?“

Ich fand gerade meine Stimme nicht, also nickte ich nur.

„Na dann …“ Er stützte sich auf meine Knie, als er sich wieder aufrichtete. Vermutlich erwartete er jetzt ein Dankeschön.

Ich senkte meinen Blick auf den ausgefransten Saum seiner Jeans. Meine Lippen waren versiegelt.

Doch als er umdrehte und den Gang hinunter marschierte, blickte ich hoch. „Und jetzt gehst du bitte wohin?“ Der Satz war draußen, bevor ich wusste, was ich sagte.

„Auf die Toilette.“ Sein provokanter Blick forderte ganz offensichtlich meinen Einspruch heraus.

Sag jetzt ja nichts. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. „Aber du solltest doch auf mich aufpassen.“

Nach ein paar Sekunden, in denen er mich eindringlich ansah, wurde sein Blick noch sanfter. „Du wirst mich nicht in Schwierigkeiten bringen.“

Mir wurde plötzlich ganz warm. Ich ließ ihn einen weiteren Schritt den Gang runterlaufen. Zwei. Drei. Vier. „Warum bist du dir da so sicher?“ Halt endlich deinen verdammten Mund, Jona! „Nach allem, was du über mich weißt, werde ich abhauen, sobald du um diese Ecke dort biegst.“

Sein lässiges Schulterzucken und ein niedliches Lächeln ließen mich schließlich verstummen.

„Ich vertraue dir.“ Einen Moment später war er um die Ecke verschwunden.

Mir stand der Mund weit offen.

Mir vertrauen? So ein Blödmann. Der musste ganz schön einen an der Waffel haben, wenn er dachte, ich sei vertrauenswürdig. Ich raffte mich auf und stakste in Richtung Ausgang. Doch schon nach wenigen Schritten krachte ich gegen eine solide Mauer aus schlechtem Gewissen.

„Verdammt noch mal!“ Ich trat fest gegen die Wand neben mir, wobei meine Schuhsohle einen schwarzen Strich auf der weißen Farbe hinterließ. Ich sollte noch nicht einmal darüber nachdenken hierzubleiben. Also warum um alles in der Welt zögerte ich? Noch dazu wegen einem Fremden.

Noch nie zuvor hatte ein Ausgangsschild so einladend ausgesehen. Und doch hinderten mich unsichtbare Fesseln daran, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Das Atmen fiel mir plötzlich schwer und Wut brannte wie eine grelle Flamme in mir. Ich konnte nicht verstehen, wie ein Fremder so viel Macht über mich haben konnte. Was passierte hier?

Er sollte mir verdammt noch mal den Buckel runterrutschen. Schließlich hatte ich ihn nicht darum gebeten, mich zu befreien.

Aber er hatte es trotzdem getan. Und er vertraute mir.

Ein tiefes Knurren stieg mir aus der Kehle. Ich blickte frustriert an die Decke und fuhr mit gekrallten Fingern durch mein Haar. Dann seufzte ich schwer und kehrte zurück an den Platz, wo er mich zuvor aufgefunden hatte. Allerdings versteckte ich mich hinter der Säule in der Mitte, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete auf seine Rückkehr.

Nur wenige Sekunden später hörte ich Schritte näher kommen. Sie stoppten und ein leises Seufzen drang zu mir durch. Ich grinste und genoss diesen kurzen Moment des Triumpfes, bevor ich mit einer Schulter gegen die Säule gepresst um diese herumrutschte und ihm unter die Augen trat.

Seine Mundwinkel wanderten nach oben. „Wie schön. Du bist noch hier.“ Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Ich imitierte sein Grinsen. „Fahr zur Hölle.“ Daraufhin drehte ich mich um und marschierte geradewegs zurück in Abes Büro, fest entschlossen, Quinn als meinen Bodyguard anzuheuern, damit er mir diesen gottverdammten Samariter vom Leib halten würde.

*

Ich zog den Reißverschluss meines Rucksacks zu, in den ich gerade meine drei T-Shirts, das einzige andere Paar Jeans, das ich besaß, und meine wenigen Bücher gestopft hatte. Die Sonne verkroch sich gerade hinter Londons Dächern. Dies war meine letzte Nacht im Jugendheim – meinem Zuhause seit über zwölf Jahren.

Der alte Abe hätte mich lieber ins Kittchen schicken sollen. Konnte auch nicht viel schlimmer sein als diese Jugendanstalt. Aber mich aus dem Land zu verbannen und dazu zu verurteilen, mit meiner Mutter im selben Haus zu leben, war unsagbar grausam. Diese Ruchlosigkeit hätte ich nicht einmal ihm zugetraut.

„Es ist ja nicht mal für zwei Monate“, hatte Quinn nach der Anhörung gemeint. „Du bist ein taffes Mädchen. Du wirst es überstehen.“

Tatsächlich war Quinn der Einzige, den ich wirklich vermissen würde.

Es klopfte an der Tür. Das musste er sein. Der Richter und Miss Mulligan hielten es für eine gute Idee, dass ich den Abend mit meiner Mutter und ihrem Schoßhündchen verbrachte, bevor ich mich morgen mit ihnen auf die weite Reise machen würde. Charlene hatte bei dem Gedanken übers ganze eingefallene Gesicht gestrahlt, während ihr seltsamer Freund versucht hatte, sein blödes Grinsen mit einem Husten zu vertuschen. Dass Quinn mich zu dem Treffen begleiten würde, war meine Bedingung, unter welcher ich einwilligte.

Ich öffnete die Tür … und riss die Augen fassungslos auf. Quinn in Zivilkleidung. Das war ja mal was ganz Neues.

Ohne seine Uniform wirkte er sogar noch jünger als sonst. Das engsitzende graue T-Shirt und die ausgewaschenen Jeans standen ihm echt gut.

Mein schwarzer Sweater und die zerrissene Hose schienen mir plötzlich keine so gute Idee mehr zu sein. Vielleicht hätte ich die Sicherheitsnadel doch lieber stecken lassen sollten.

Quinn bot mir seinen gebeugten Arm an. „Na Kleine, bist du bereit?“

„Bereit, um dem Drachen unter die Augen zu treten und über kleiner Flamme geröstet zu werden? Niemals.“ Ich schlang meinen Arm durch seinen und zog die Tür hinter mir ins Schloss. „Lass uns gehen.“

„Komm schon, so schlimm kann es doch gar nicht sein.“

„Du hast ja keine Ahnung.“

Unten in der Eingangshalle hielt mir Quinn die Tür auf und führte mich dann zu seinem schwarzen BWM, den er auf der anderen Straßenseite geparkt hatte. Wir stiegen ein, und er steuerte den Wagen in den Abendverkehr. Eine ganze Weile sah ich nur aus dem Seitenfenster und blies Trübsal, bis Quinns übertrieben lautes Räuspern mich aus meinen Gedanken holte.

Ich drehte mich zu ihm. „Was ist?“

Er blickte nur kurz zu mir und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. „Um ehrlich zu sein, war ich heute ziemlich überrascht, als deine Mutter plötzlich vor mir stand.“

Ich schwieg, darum setzte er hinterher: „Vermutlich, weil du mir erzählt hast, sie wäre tot.“

„Schön wär’s.“ Ich verschränkte die Arme über der Brust und blickte finster nach vorn, wobei ich mir insgeheim wünschte, Quinn würde dem Wagen vor uns auf die hintere Stoßstange krachen. Das wäre die perfekte Entschuldigung, um den Abend nicht mit meiner Mutter verbringen zu müssen.

Wir passierten die Kreuzung ohne Zwischenfall. Großartig.

Ich brauchte schnell einen Plan, bevor wir bei dem Restaurant ankamen und es für mich keinen Ausweg mehr gab. Ein flaues Gefühl in meinem Magen wurde mit jedem Kilometer, den wir fuhren, schlimmer. Ich räusperte mich, so wie Quinn vorher, und als er zu mir rüber blickte, schenkte ich ihm ein zuckersüßes Lächeln.

Sein Blick schoss zwischen mir und der Straße hin und her. „Woran denkst du gerade, Jona?“

Ich setzte meinen niedlichsten Hundeblick auf. „Wie stehen denn die Chancen, dass du dich verirrst und wir, statt bei dem Restaurant, in der Innenstadt landen und uns einen Film reinziehen?“

Quinn lachte. „Oh nein! Abe würde mir dafür den Kopf abreißen.“

Okay, das war wohl nichts. Plan B. „Sag mal, magst du mich eigentlich?“

Den Kopf leicht zu mir geneigt, steuerte er den Wagen für einen Moment mit nur einer Hand, während er mir die andere auf den Unterarm legte und leicht zudrückte. „Natürlich mag ich dich.“

„Willst du mich heiraten?“

Wie bitte?“ Er riss seine Hand so schnell zurück, dass er damit ordentlich gegen das Lenkrad stieß und der Wagen kurz aus der Spur ausbrach. Oha.

Mit einem entschuldigenden Blick erklärte ich schnell: „Wenn du mich heiraten würdest, könnte mich niemand mehr zu dieser moralisch völlig korrupten Frau schicken, die alle meine Mutter nennen.“ Ich hob mein Kinn hoch. „Ich wäre dann ein selbständiger Erwachsener.“

„Ach so ist das?“ Ein erleichtertes Schmunzeln schlich sich auf seine Lippen. Er lenkte den Wagen um Kings Cross. „Ich fürchte nur, das gibt Ärger mit Bethany.“

Ich runzelte die Stirn, während ich mit meinen Fingerspitzen den glatten Gurt auf- und abstrich. „Was ist denn ein Bethany?“

„Meine Freundin.“

„Du hast mir nie erzählt, dass du eine Freundin hast.“

Quinn sah zu mir. „Du hast mir nie erzählt, dass deine Mutter noch lebt.“

Touché. Zu dumm nur, dass mein genialer Plan B den Bach runterschwamm.

Ich zog einen Schmollmund und wartete darauf, dass er mir wieder seine Aufmerksamkeit schenkte.

Er zog langsam eine Augenbraue hoch. „Was kommt jetzt?“ Diese an sich harmlose Frage klang verdammt nach einer Warnung. Unglaubliche Sache, seine Intuition, was mich betraf.

„Du und Beth, ihr könntet mich doch adoptieren.“ Süße Unschuld lag in meiner Stimme.

Quinn zögerte einen Moment und legte dann seine Hand auf meine. „Du bist doch schon zu alt, um adoptiert zu werden, Kleine.“

„Ja … und Beth wäre sicher auch nicht glücklich über eine Plage wie mich.“

Seine Finger schlossen sich sanft um meine. „Ich habe in dir nie eine Plage gesehen und das weißt du.“

Ich seufzte schwer. „Ja, ich weiß. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich dich so gut leiden kann. Du bist der Einzige, der sich je etwas aus mir gemacht hat.“

Eine so offene und ehrliche Unterhaltung hatte ich schon seit Jahren mit niemandem mehr geführt. Offenheit war etwas, das ich normalerweise irgendwo in den tiefsten Kerkern meines Herzens verschlossen hielt. Aber bei Quinn, der für mich so etwas wie ein großer Bruder war, passierte es schon mal, dass diese Tür einen Spaltbreit aufging. Wenn auch nur einen sehr kleinen.

„Sieh die Sache doch mal von der positiven Seite. Bald hast du wieder eine ganze Familie, für die du wichtig bist. Und dieser Junge wirkte heute auf mich, als würde er sich auch wirklich um dich sorgen.“

„Ich weiß echt nicht, was daran gut sein soll, mit dem Drachen und ihrem kindlichen Liebhaber zusammenzuwohnen.“

Weil er einen Gang rauf- oder runterschalten musste, ließ Quinn meine Hand los. „Quatsch. Er ist doch nicht ihr Liebhaber.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich hab mich heute Morgen kurz mit ihm unterhalten. Anscheinend ist er so etwas wie ein Pfleger. Ein sehr netter Bursche.“

Wenn Quinn das sagte, gab es für mich keinen Grund, daran zu zweifeln. Doch woher das seltsame Kribbeln in meinem Bauch kam, als er von ihm sprach, war mir ein Rätsel.

„Mach dir keine Sorgen“, fügte Quinn hinzu. „Ich hab ihm nur Gutes über dich erzählt.“

Ja genau, als ob es über mich je etwas Gutes zu sagen gegeben hätte. Da wäre mein Name und … tja, das war’s auch schon wieder. Aber wo wir gerade beim Thema Namen waren …

„Hat er dir auch gesagt, wie er heißt?“

„Ja.“

Ich wartete. Doch es kam nichts. „Und?“

Quinn begann zu grinsen. „Interessiert dich der Junge?“

Ich stieß ihm meinen Ellbogen in die Rippen, woraufhin er laut lachte. „Lass das, Kleine. Ich muss mich auf die Straße konzentrieren.“

„Ich bin nicht an ihm interessiert“, gab ich bissig zurück. „Es interessiert mich nur, mit welchen Leuten ich in den nächsten sechs Wochen zwangsläufig zu tun haben werde. Das ist alles.“

„Ach, stimmt ja. Es muss für dich sicher aufregend sein, nach all den Jahren diese Tante in Frankreich kennenzulernen. Wie war noch gleich ihr Name?“

„Keine Ahnung. Wen juckt das schon?“

„Ha! Erwischt! Ich dachte, du möchtest über alle Leute Bescheid wissen, mit denen du zu tun haben wirst?“ Er schmunzelte und es ging mir tierisch auf die Nerven. Dann sagte er: „Wusstest du, dass der Bursche nur ein paar Jahre älter ist als du? Wer weiß, wenn du nett zu ihm bist, will er dich am Ende vielleicht noch heiraten.“

Für diese Bemerkung hatte er eigentlich eine Ohrfeige verdient. Ich blickte ihn vorwurfsvoll an und knirschte dabei mit den Zähnen. „Hat er dir auch erzählt, dass er mich heute im Gang alleine sitzen ließ, nachdem er mir die Handschellen abgenommen hat?“

Quinn blickte nachdenklich auf die rote Ampel, vor der wir angehalten hatten. „So? Hat er das?“

„Jap. Er ging auf die Toilette. Also, was sagt uns das über deinen neuen Freund?“

„Dass er dir vertraut?“

„Nein …?“ Aber es war schon komisch, dass Quinn die gleichen Worte benutzte wie der blonde Bursche heute Nachmittag. „Es zeigt uns, wie unverantwortlich er handelt. Was denkt er sich dabei, eine Kriminelle unbeaufsichtigt zu lassen?“

„Ja, und was für eine gemeingefährliche Kriminelle du doch bist.“ Quinn rollte dabei verspielt mit den Augen.

Ach, sollte er doch zum Teufel gehen.

Zwei Minuten später rutschte mir das Herz in die Hose, als Quinn den Wagen vor Antonios parkte, dem Restaurant, in dem wir meine Mutter treffen sollten. Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus, doch nicht einmal das konnte meine Nerven beruhigen. Quinn sah mich einen Moment lang eindringlich an und machte schließlich den Mund auf, um irgendeinen Schwachsinn von sich zu geben.

Ich streckte ihm meinen Finger ins Gesicht und schnitt ihm damit das Wort ab. „Hör zu, Klugscheißer. Wenn du mir jetzt mit Augen zu und durch! kommst, dann gibt’s was auf die Nase.“

Sein Lachen schallte im Wageninneren. Er strich mir durchs Haar und anschließend über die Wange. „Kopf hoch, Tiger. Du schaffst das schon.“ Dann stieg er aus.

Ich brachte meinen Finger unauffällig in Position, um den Wagen von innen zu verriegeln, sobald er die Tür zuschlagen würde. Verdammt, hätte ich doch nur besser aufgepasst, als Debbie mir vor einiger Zeit erklärt hatte, wie man einen Wagen kurzschließt.

Die Tür immer noch in der Hand, drehte sich Quinn zu mir um. „Was ist? Kommst du?“

„Mach dir nicht ins Hemd, Officer. Ich komm ja.“

Er wartete, bis auch ich ausgestiegen war, bevor er die Tür zuschlug. Der Mann kannte mich viel zu gut. Er drückte einen Knopf auf seinem Schlüssel. Die Blinker leuchteten zweimal auf und der Wagen verriegelte sich automatisch. Ich wartete, bis er um das Auto herumkam und hakte mich anschließend bei ihm ein.

„Hast du deine Pistole dabei?“, flüsterte ich ihm mit geneigtem Kopf zu, sodass mich die vorbeispazierenden Fußgänger nicht hören konnten.

„Wozu brauchst du denn eine Pistole?“

„Man kann nie wissen. Diese Dinger sind manchmal ganz praktisch. Hast du damit schon mal einen Drachen erlegt?“

Jona.“ Sein Knurren wurde von einem spielerischen Schubs seiner Hüfte gegen meine begleitet.

Ich stolperte über die offenen Schnürsenkel meiner Martens und taumelte seitwärts. Quinn packte mich schnell am Arm und ich kicherte.

„Übrigens“, sagte er leise in mein Ohr. „Sein Name ist Julian.“

„Julian?“ Der Name rollte sanft von meiner Zunge.

Ich sah von meinen Schuhspitzen hoch zum Eingang des Restaurants und blickte plötzlich in zwei faszinierend blaue Augen.

Kapitel 3

Tritte unterm Tisch

Na großartig! Ich musste ja unbedingt Julians Namen laut sagen. Meine Finger verkrampften sich in einem Todesgriff um die Bündchen meiner Kapuzenjacke und ich biss mir kräftig auf die Zunge, während ich Julians wissenden Blick erntete. Sein Ego wuchs mit Sicherheit gerade über Londons Dächer hinaus. Selbst in der wenig beleuchteten Straße musste mein Gesicht glühen wie eine überreife Erdbeere. Quinn bekam erst mal mein Todesstarren zu spüren, dafür, dass er mich überhaupt erst in diese scheiß-peinliche Situation gebracht hatte.

Julian, der neben meiner Mutter im Licht der Laterne vor der Restauranttür stand, hatte einen Finger durch die Schlaufe am Kragen seiner schwarzen Lederjacke gehakt, und schwang diese über eine Schulter. Das weiße Hemd, das er anhatte, ließ seine dunkelblauen Augen im Kontrast dazu besonders strahlen. Er lächelte mich an. Es war ein verschmitztes Lächeln, bei dem nur ein Mundwinkel nach oben wanderte. Süß, irgendwie …

Herrgott noch mal, was war denn heute bloß mit mir los? Ich wollte mir am liebsten selbst in den Hintern treten. Ein Lächeln hatte mich doch noch nie aus der Fassung gebracht. Eigentlich war ich sogar immer ziemlich immun gegen die diversen Formen des männlichen Charmes gewesen. Offenbar war ich heute einfach nicht ich selbst.

Nach ein paar Sekunden, in denen ich mich keinen Millimeter bewegt hatte, stupste mich Quinn sanft in den Rücken und holte mich damit zurück aus den Wolken. Anschließend streckte er Julian die Hand entgegen. „Jules, was geht?“

Jules? Hatte ich da etwas nicht mitbekommen?

Julian schüttelte Quinns Hand. Dabei kam in mir die Erinnerung an seine kühlen, sanften Finger wieder hoch, wie sie sich um mein Handgelenk geschlungen hatten. Plötzlich wollte ein Teil von mir auch unbedingt die Hand ausstrecken, um die von Julian zu schütteln. Ich trat diesem Teil von mir aber fest in den Arsch und schob meine Hände lieber zickig in die Hosentaschen, selbst als Julian sich mir zuwandte und mir seine Hand hinstreckte.

„Hi, Jona. Alles klar?“, fragte er.

„Spar dir die Mühe. Nur weil du mich heute Morgen von den Handschellen befreit hast, sind wir noch lange keine Freunde.“

Da lehnte sich der Idiot plötzlich näher und flüsterte mir mit einem selbstgefälligen Grinsen ins Ohr: „Bist du etwa immer noch sauer, weil du es nicht übers Herz gebracht hast, abzuhauen und mich damit in Schwierigkeiten zu bringen?“

Wie bitte? Ich zog meine Hände aus den Taschen und ballte sie zu Fäusten, hielt sie aber fest an meine Seiten gepresst, um keinen Blödsinn zu machen, und trat stattdessen einen Schritt zurück. „Nur damit du’s weißt, ich bin einzig und allein wegen Quinn nicht abgehauen. Du solltest auf mich aufpassen und er hat dir vertraut. Aber du hast’s vergeigt. Ich würde meinen Freund niemals in Schwierigkeiten bringen, nur weil du so unvorsichtig bist.“

Seine warmen blauen Augen richteten sich auf meine. Whoa, wo war ich gerade stehen geblieben?

„Na, zumindest gibt es einen Menschen, an dem dir etwas liegt“, sagte er mit leiser Stimme.

Hinter mir klatschte jemand in die Hände und ich hörte Quinns Stimme, doch was er sagte, kam nicht bei mir an. Julians eindringlicher Blick hielt mich gerade voll und ganz in seinem Bann. Auf seltsame Art und Weise kannten seine Augen keine Grenze. Ich fühlte mich gerade bis aufs Letzte offenbart, mit all den dunklen Teilen meiner Seele schön vor ihm ausgebreitet.

Das war so was von fies.

Keiner von uns wollte zuerst wegschauen. Dann kam auf einmal ganz langsam ein süßes Grübchen auf seiner linken Wange zum Vorschein. Ein schiefes Lächeln folgte auch noch. „Was denkst du? Sollen wir reingehen?“

Ich beobachtete, wie sich seine Lippen bewegten, und lauschte auch dem Klang seiner Stimme. Allerdings dauerte es einen Moment, bis auch die Message angekommen war. Wir beide standen allein vor dem Pub. Quinn und der Drache waren bereits vorausgegangen. Ich presste meine Lippen aufeinander und zog meinen Blick von Julian ab, dann schritt ich schnell durch die Eingangstür. Ein leises Lachen ertönte hinter mir, als er mir folgte. Verdammt, er wusste genau, dass er mich abgelenkt hatte.

Der Geruch von würzigem Essen und Bier hing schwer in dem Gewölbe. Einen Fuß auf die Eisenstange unter der Theke gestellt, unterhielt sich Quinn gerade mit dem Kellner. Meine Mutter stand zu seiner Linken und lehnte sich mit einem Arm auf die Theke. In diesem Moment sah ich sie zum ersten Mal wirklich an diesem Abend.

Eine Spange hielt ihr kraftloses Haar am Hinterkopf zusammen; das schale Kupferrot verlor sich dabei im Kontrast zu ihrer schwarzen Bluse. Ein matschbrauner Rock, der nicht ganz bis zu ihren Knien reichte, ließ erkennen, wie schmal ihre Hüften geworden waren. In den hochhackigen Schuhen war sie fast so groß wie Quinn. Ihr rechter Fuß schlüpfte gerade mit der Ferse aus dem Pump, was klarmachte, dass sie sich in den Schuhen alles andere als wohlfühlte. Wen zum Teufel versuchte sie also zu beeindrucken?

Mit einem Kopfschütteln stellte ich mich auf Quinns andere Seite, stützte meine Ellbogen auf die Theke und mein Kinn in meine Hände. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er sich weiter zu mir herüber lehnte. „Wie schön, dass du es auch noch rein geschafft hast“, flüsterte er. „Für einen kurzen Moment hab ich schon befürchtet, du würdest gar nicht mehr kommen.“

„Ach, und den ganzen Spaß hier verpassen? Wie könnte ich?“ Ich verdrehte die Augen, doch der Kellner war der Einzige, der es mitbekam, und seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Ich drehte mich zu Quinn. „Warum stehen wir überhaupt hier?“

„Wir warten auf einen Tisch.“

Ich blickte mich im Raum um. „Warum nehmen wir nicht den Tisch da drüben. Sieht doch gut aus.“

Quinn folgte meinem ausgestreckten Finger mit seinem Blick. Im nächsten Moment sah er mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Das ist ein Tisch für zwölf. Ich bin sicher, wir bekommen auch etwas Gemütlicheres.“

„Du willst es gemütlich?“ Mein extra lauter Tonfall lenkte Julians Aufmerksamkeit und die meiner Mutter auf uns. „Dann schlag ich vor, wir werden erst mal unseren lästigen Anhang los.“

Der Officer außer Dienst fuhr mir mit der Hand unters Haar und legte mir seine warmen Finger in den Nacken. Dann drückte er zu. „Du bist ja heute herzallerliebst, kleine Hexe.“ Als er das sagte, grinste er mit gefletschten Zähnen.

„Ich geb mein Bestes“, röchelte ich.

„Daran zweifle ich keine Sekunde.“

Kurze Zeit später führte uns der Kellner an einen kleinen quadratischen Tisch in einer Nische im hinteren Teil des Pubs, mit je einem Stuhl an einer Tischseite. Quinn und meine Mutter setzten sich einander gegenüber hin. Julian ging um den Tisch und warf mir noch einen verschlagenen Blick über die brennende Kerze hinweg zu, bevor er ebenfalls auf den freien Stuhl mit hoher Rückenlehne sank. Ich musste dann also ihm gegenüber zwischen Quinn und meiner Mutter Platz nehmen.

Wie nett.

Ich hüstelte unschuldig, rutschte dann mit meinem Stuhl so weit es ging zu Quinn hinüber und ließ mich schwerfällig nieder. Quinn wartete, bis ich es mir einigermaßen bequem gemacht hatte, und lehnte sich dann mit einem merkwürdigen Stirnrunzeln zu mir herüber. „Möchtest du vielleicht auf meinem Schoß sitzen?“

Ha. Ha. Er war ja so witzig.

Das anhaltende Schweigen meiner Mutter kratzte mich nicht, doch die Art, wie sie mich die ganze Zeit anstarrte, ging mir mittlerweile gewaltig auf die Nerven. Die ganze Zeit über hatte ich ihr dämliches Profil in meinem Augenwinkel. Kurz entschlossen stützte ich mein Kinn in meine Hand und drehte mich dezent – na ja, mehr oder weniger – zu Quinn, mit einem rotzfrechen Grinsen im Gesicht. Problem gelöst.

„Also, ihr beide seid richtig gute Freunde, ja?“ Das war wohl Julians Versuch das Eis zu brechen.

Ich hätte viel lieber nach links gegriffen und das dünne Genick meiner Mutter gebrochen.

Quinn nickte, doch ich war schneller mit meiner Antwort. „Er ist mein Liebhaber. Bist du der ihre?“ Dabei nickte ich verächtlich in Charlenes Richtung.

Meine Mutter schnappte nach Luft und schlug sich dabei schockiert die Hand vor den Mund. Sehr erheiternd. Nicht ganz so lustig fand ich allerdings den Tritt, den mir Quinn daraufhin unterm Tisch gegen mein Schienbein verpasste.

Julian war der Einzige, der von meiner Unterstellung völlig unberührt schien. Er verschränkte die Hände auf dem Tisch und lehnte sich dabei langsam nach vorn auf seine Unterarme. Sein argwöhnischer Blick nagelte mich fest. „Du hast gar keine Ahnung, wie nahe wir uns stehen.“

Heiliger Bimbam. Warum nur musste alles, was er sagte, wie das anzügliche Schnurren einer Raubkatze klingen. Ich wollte gerade mit einer schnippischen Antwort kontern, doch aus meinem Mund kam irgendwie grad so gar kein Ton heraus. Zum ersten Mal seit Jahren war ich sprachlos.

Gott sei Dank kam in diesem Augenblick der Kellner und erlöste mich aus meiner Verlegenheit, als er nach unseren Wünschen fragte. Der Drache bestellte Leitungswasser. Passte zu ihr. Damit konnte sie dann das Feuer in ihrer Kehle löschen. Julian nahm ein Glas Orangensaft und Quinn bestellte ein alkoholfreies Bier.

„Und was darf’s für Sie sein, mein Fräulein?“

Ich hob meinen Blick zu dem Mann in schwarzen Hosen und weißem Hemd. „Hmm. Ich denke für den Anfang nehm ich erst mal einen Tequila. Oder vielleicht bringen Sie mir lieber gleich einen doppelten. Der Abend hat gerade erst angefangen. Da heißt es noch lange durchhalten.“

Das Besteck schepperte auf dem Tisch, als Quinn mir noch mal einen Tritt unterm Tisch verpasste. Ich quietschte auf. Unterdessen bestellte der Verräter eine Cola für mich. Der Kellner zog ab und schüttelte dabei den Kopf.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte mich Julian besorgt.

„Ja, alles bestens.“ Ich knirschte mit den Zähnen, wobei ich Quinn seitlich einen finsteren Blick zuwarf. Ich hatte doch tatsächlich gedacht, er sei mein Freund. Wahrscheinlich konnte er es kaum abwarten, bis ich endlich das Land verlassen würde.

Als wir alle etwas zu trinken vor uns stehen hatten, lehnte sich Quinn interessiert weiter vor auf dem Tisch und fragte meine Mutter: „Frankreich also? Wohin genau werden Sie die kleine Prinzessin denn entführen?“ Seine Stimme klang plötzlich sehr sanft, so als schwänge da doch ein wenig Bedauern mit. Er blickte dabei auch kurz zu mir.

Mein Herz taute gerade wieder etwas auf. Er würde mich wohl doch genauso sehr vermissen wie ich ihn.

„Meine Schwester lebt in der Provence. In einer kleinen Ortschaft namens Fontvieille.“

Zwar hatte ich das Wort Provence schon mal irgendwo aufgeschnappt, doch der Rest hörte sich für mich an, als würde ein Betrunkener nach dem Weg fragen. Egal. Charlenes Geschwafel interessierte mich sowieso nicht die Bohne. Zur Ablenkung faltete ich lieber die weiße Stoffserviette vor mir zu einem hübschen kleinen Fächer. Wenn man den in der Mitte zusammendrückte, sah er sogar aus, wie eine niedliche Kragenschleife. Ich knickte den Fächer und hatte plötzlich so etwas Ähnliches wie einen weißen Umhang, der das Licht von oben reflektierte. Einen Umhang … oder eine Kutte, so wie ich sie heute Morgen in Abes Amtszimmer gesehen hatte.

Die plötzliche Erinnerung daran, ließ mich kurz nach Luft schnappen, die ich dann lauthals runterschluckte. Mein Blick wanderte quer über den Tisch rüber zu Julian, der sich in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und die Hände lässig über seinem Bauch verschränkte. Er blickte mir geradewegs in die Augen.

Ich zuckte überrascht zurück, doch er blieb entspannt sitzen und bewegte keinen Muskel. Was machte er da? Versuchte er etwa, mich zu durchschauen? Eine lästige Anspannung schlich über mich, von der er anscheinend überhaupt nicht berührt war.

„… mit dem Vertrieb von Wein aus ihren eigenen Weinbergen haben sich die beiden ein nettes Zuhause geschaffen“, hörte ich meine Mutter erzählen. „Meine Schwester kann leider keine Kinder bekommen, obwohl sie sich immer eines gewünscht haben. Drum sind sie auch begeistert, dass ihre Nichte nun für ein paar Wochen bei ihnen leben wird.“

Quinn faltete seine Hände auf dem Tisch. „Miss Montiniere, ich hab mich gefragt–“

„Oh bitte, nennen Sie mich doch Charlene.“ Meine Mutter schenkte ihm ein kleines Lächeln.

„Ja, Quinn, bitte. Du musst sie einfach Charlene nennen. Unbedingt.“ Meine Stimme war süß wie ein Sahnebonbon. „Ist doch ein passender Name für einen gefühllosen Drachen, findest du nicht?“

Ein pochender Schmerz zuckte durch mein rechtes Bein. „Verdammt!“ Wenn Quinn mich weiterhin trat, würde mein Bein morgen früh in sämtlichen Blau- und Grüntönen schimmern. Dieses Mal trat ich zurück. Leider streifte ich aber nur seine Jeans. „Ich kann nicht glauben, was es hier drinnen für lästige Ratten gibt“, brummte ich.

„Und ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich all deine Manieren zu Hause gelassen hast“, antwortete Quinn genau wie ich durch ein verbissenes Lächeln.

„Bitte, Quinn, seien Sie meiner Tochter nicht böse. Ich verdiene mit Sicherheit ihren Zorn und ihr Misstrauen.“ Der traurige Blick meiner Mutter schwenkte zu mir. „Ist es nicht so, Jona?“

Mir wurde kotzübel. „Ehrlich gesagt wäre es mir lieber, du würdest mich einfach in Ruhe lassen und nicht mit mir reden, Charlene.“

Ihre mit Lipgloss beschmierten Lippen verschwanden zu einem dünnen Strich, wobei ihre Mundwinkel leicht nach unten sackten. Sie hatte doch nicht allen Ernstes gedacht, ich würde sie tatsächlich Mom nennen, nachdem sie mir die Kindheit so königlich verpfuscht hatte.

Durch das gedämpfte Licht in dem Pub wirkte ihr knochiges Gesicht plötzlich seltsam jung. Für einen kurzen Moment war es so, als säße mir ein Geist aus meiner Vergangenheit gegenüber, der mich mit großen dunkelbraunen Augen ansah. Das war die einzige Farbe, die heute noch genau so intensiv strahlte, wie damals vor dreizehn Jahren. Durch ihren eindringlichen Blick abgelenkt, bemerkte ich beinahe nicht, wie sie mir ihre Hand langsam über den Tisch entgegenstreckte. Erst im allerletzten Moment zog ich meinen Arm weg und legte beide Hände in den Schoß. Unter dem Tischtuch waren sie vor ihren hinterhältigen Angriffen sicher.

Um nicht ganz so blöd auszusehen, griff Charlene statt nach meiner Hand nun nach ihrem Glas Wasser und zog mit dem Finger den Glasrand nach. Dann nahm sie einen kleinen Schluck und stellte das Glas vorsichtig wieder ab. Ihre Hände zitterten dabei.

„Ich will offen zu dir sein, Jona“, sagte sie leise. „Wir werden nicht mehr allzu lange Zeit haben, um zu reden. Ich bin schwer krank. Es ist Krebs. Ohne eine Chance auf Heilung. Julian sa–“ Sie unterbrach sich selbst mit einem Räuspern und zog wieder Kreise auf dem Glasrand. „Die Ärzte geben mir nicht einmal mehr bis Ende des Jahres.“

„Nein, was du nicht sagst. Das sind die ersten guten Neuigkeiten, die ich heute höre!“, rief ich begeistert.

Unter dem Tisch schlangen sich plötzlich zwei Beine um meine Knöchel und hoben meine Füße nach oben. Durch die rasche Bewegung rutschte ich tiefer in meinen Sitz und ich schnappte überrascht nach der Tischkante. Dieses Mal trat Quinn ins Leere.

„Das war vorhersehbar“, sagte Julian, wobei seine Augen so dunkel funkelten wie Saphirsplitter. Sachte setzte er meine Füße wieder auf den Boden und zog seine Beine zurück. Ich fragte mich dabei, worauf er tatsächlich anspielte: auf Quinns Tritt oder auf meine eiskalte Bemerkung.

An unserem Tisch war es unangenehm still geworden. An Quinns Gesichtsausdruck erkannte ich, dass die Krankheit meiner Mutter keine Überraschung für ihn war. Sie mussten sich wohl heute früh bei Gericht miteinander unterhalten haben, nachdem mein Fluchtversuch so spektakulär gescheitert war. Vermutlich hatte sie sein Mitleid ausgenutzt und ihn um den kleinen Finger gewickelt. Und er war voll drauf reingefallen. Dummer Officer.

Ihre Tage waren also gezählt, was soll’s? Umso besser, wenn ihr mich fragt.

„Jona?“ Als sie meinen Namen nannte, lenkte meine Mutter damit meine Aufmerksamkeit von Quinn zurück auf sich. „Ich möchte nicht … gehen, ohne die Möglichkeit genutzt zu haben, die Dinge zwischen dir und mir wieder in Ordnung zu bringen. Lass mich gutmachen, was ich zerstört habe.“

Ein fassungsloses Lachen entfuhr mir. „Du willst, dass ich dir vergebe? Das kannst du vergessen!“

„Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du das Angebot annimmst und zu deiner Tante nach Frankreich ziehst. Sie kann dir all das bieten, was ich dir niemals geben konnte. Mit ihrer Hilfe bekommst du einen guten Start in deine Zukunft.“ Ihre Unterlippe bebte. „Und was mich angeht, ich wünschte nur, du könntest mir die Fehler, die ich gemacht habe, verzeihen.“

„Dann tut es mir leid, aber du wirst wohl abtreten, ohne deinen Wunsch erfüllt zu bekommen.“ Ein verächtliches Grollen stieg in meiner Kehle auf. „Ich werde das tun, was mir der Richter auferlegt hat und die restlichen sechs Wochen bis zu meinem Geburtstag auf dem Feld einer Tante, die ich nicht einmal kenne, Zwangsarbeit leisten. Das ist nicht unbedingt lang genug, um eine tolle Zukunft zu planen. Sobald die Strafe erfüllt ist, komme ich zurück nach London und fang mein richtiges Leben hier an. Ohne dich. So wie ich es in den letzten dreizehn Jahren getan habe.“

„Mit der Polizei dicht auf deinen Fersen und Abe Smith, der immer eine Zelle für dich freihalten wird?“

Es war nicht einmal so sehr Quinns Versuch, die Stimmung mit einem Scherz zu heben, der mich in diesem Moment wurmte, sondern vielmehr Julians Schmunzeln, als sich unsere Blicke über der Kerzenflamme trafen.

Ich richtete mich auf und ballte meine Fäuste um das Tischtuch in meinem Schoß. „Ich bin nicht der Schwachkopf, für den ihr mich offenbar alle haltet. Und wenn es bedeutet, dass ich zehn Stunden am Tag in einem Pub wie diesem Teller waschen muss, um mir mein Geld zu verdienen, dann ist das mit Sicherheit nur halb so schlimm wie die Hölle, in die ich morgen früh geschickt werde.“

Brennende Tränen sammelten sich in meinen Augen. Nachdem es ein halbes Leben gebraucht hatte, bis sie sich nach oben gekämpft hatten, konnte ich sie auch nicht so einfach wieder wegblinzeln. Ich sprang von meinem Stuhl auf, wodurch dieser nach hinten kippte und mit lautem Geklapper auf die Steinfliesen knallte. Wenn der Drache und ihr kleiner Freund vorhatten, heute Nacht noch einen auf ihren Sieg über mich zu trinken, dann musste ich bei Gott wirklich nicht dabei sein.

Ich rannte in Richtung Ausgang. Neugierige Blicke folgten mir von überall im Raum und stachen mir in die Brust.

Draußen bekam ich erst mal eine Ohrfeige von der frischen Luft verpasst. Die Tür fiel langsam hinter mir zu.

Lauf!, schrie eine Stimme in meinem Kopf. Aber wohin? Die tapfere Ansprache gerade eben war doch nichts weiter als ein kläglicher Versuch, mich selbst zu belügen. Kaum in der Lage, die Mathehausaufgaben eines Abschlussklässlers zu bewältigen, konnte ich mir nicht vorstellen, dass mir London viel bieten würde. Niemand würde mich für einen ansehnlichen Job einstellen, nur weil ich Jane Austen auswendig zitieren konnte.

Mit dem Bund meines Ärmels wischte ich mir die Tränen von den Augen, bevor sie meine Wangen runterrollen konnten. Die harte Wand hinter mir spendete leider nur wenig Trost. Ich neigte meinen Kopf nach hinten und betrachtete den Sternenhimmel. Es konnte doch unmöglich meine Bestimmung sein, eines Tage in einer von Abes stinkenden Gefängniszellen zu sitzen.

Neben mir ging die Tür auf und eine großgewachsene Person kam heraus. Durch den Tränenschleier in meinen Augen dauerte es einen Moment, bis ich Quinn erkannte.

„Da steckst du also“, sagte er mit ruhiger Stimme und lehnte sich ebenfalls mit dem Rücken neben mich an die Wand. „Ich hatte schon befürchtet, ich würde den Rest der Nacht damit zubringen, die Straßen nach dir abzusuchen.“

Ich blinzelte ein paar Mal, sah ihn dabei kurz an, blickte dann aber wieder hoch in den Nachthimmel. „Es gibt keinen Ort, wo ich hingehen könnte. Keiner will mich haben.“

Quinn nahm meine Hand. „Ich hab da drin gerade eine Frau kennengelernt, die dich unbedingt wiederhaben möchte. Und außerdem hab ich von einer Handvoll weiterer Menschen gehört, die dich nur allzu gern in ihrem Haus aufnehmen würden. Lass doch einmal deinen Stolz beiseite, Kleine, und erkenn die tolle Chance, die sie dir gerade bieten.“

„Warum willst du mich unbedingt in den Rachen des Löwen schubsen? Du hast doch selbst ihr falsches Getue gesehen“, fauchte ich. „Das Einzige, was diese Frau will, ist ein reines Gewissen, bevor sie den Löffel abgibt.“

„Kannst du ihr das wirklich verübeln?“

Angewidert zog ich meine Hand aus seiner. „Herrgott nochmal, Quinn, auf welcher Seite stehst du eigentlich?“

„Auf deiner, Jona. Siehst du das nicht?“ Ohne Vorwarnung zog mich Quinn in eine Umarmung, die mir die Luft abdrückte. „Seit dem Tag, an dem du zum ersten Mal an meinen Schreibtisch stolziert bist und deinen Hintern auf einen Stapel mit Fällen gepflanzt hast, habe ich auf so eine Wendung für dich gehofft. Du warst die frechste Rotzgöre, die mir je untergekommen ist. Aber ich wusste immer, da steckt mehr dahinter.“

Er streifte mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Warum gibst du deiner Mutter nicht einfach eine Chance? Zeig ihr und deiner Familie das nette Mädchen, das irgendwo ganz tief da drinnen sitzt.“ Ein kleines Grinsen schlich sich auf seine Lippen, als er mit dem Zeigefinger sanft auf die Stelle zwischen meinen Schlüsselbeinen tippte.

Egal, wie groß oder klein dieser nette Teil von mir war, ich würde mich doppelt anstrengen, damit meine Mutter niemals wieder damit in Kontakt kam. Ich schniefte. „Willst du wissen, warum ich damals allen erzählt hab, dass meine Mutter bei einem Autounfall gestorben ist?“

Quinns Blick wich keinen Millimeter von meinem. Er nickte.

„Weil ich mich für die Wahrheit geschämt habe. Dafür, dass meine eigene Mutter einen verfluchten Kinderschänder mir vorzog. Einen Scheißkerl, der mich jede Nacht windelweich geprügelt hat.“ Meine Kehle schnürte sich schmerzlich zu, als ich die Worte aus mir herauspresste. „Irgendwann hab ich die verachtenden Blicke der anderen einfach nicht mehr ertragen. Ihr Geflüster hinter vorgehaltenen Händen darüber, was für ein schreckliches Kind ich nur sein musste, dass mich meine eigene Mutter nicht behalten wollte.“ Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Nase und wand mich aus Quinns Umarmung. In der Nähe flatterte eine Motte im Licht der Straßenlaterne. Ich sah ihr einen Moment lang zu, wie sie sich auf das Glas der Lampe setzte und dann wieder wild weiterschwirrte. „Also hab ich einfach ihren Tod erfunden.“

Quinn legte mir sanft die Hände auf die Schultern und drehte mich zurück zu sich. Dann drückte er mich gegen seine Brust. „Ich hatte ja keine Ahnung.“

„Natürlich nicht.“ Meine Stimme ging im Stoff seinen Shirts unter. „Dein verachtender Blick wäre von allen am schlimmsten gewesen.“

Kapitel 4

Aufs Festland verfrachtet

Meine letzte Nacht im Heim kam mir vor wie die längste in meinem Leben. Nachdem Quinn noch mal ins Pub gelaufen war, um sich von den anderen zu verabschieden, fuhr er mich zurück in das Institut, das ich immer noch „Zuhause“ nannte. Nicht ehe er mir versprochen hatte, dass er am nächsten Morgen zum Flughafen kommen und mir Auf Wiedersehen sagen würde, ließ ich seinen Arm los.

Die Angst vor dem Ungewissen, das in den kommenden sechs Wochen auf mich wartete, lagerte wie eine geballte Faust in meinem Magen und hielt mich davon ab einzuschlafen.

In dem kleinen Fernseher im Gemeinschaftsraum hatte ich schon alle möglichen Arten von emotionalen Abschieden gesehen. Doch nichts davon traf am folgenden Morgen auf mich zu. Mal abgesehen von Quinn wäre Debbie die Einzige gewesen, die ein Lebewohl wert gewesen wäre. Tja, vielleicht … wenn sie mich nicht vor ein paar Tagen an den Teufel verraten und verkauft hätte, womit meine Misere ja erst begonnen hatte.

Nach einer kurzen Dusche im gemeinschaftlichen Bad kehrte ich um 7:45 Uhr zurück in mein kleines Zimmer im dritten Stockwerk. Ich kämmte mein noch feuchtes Haar mit den Fingern zurück und band es zu einem hohen Pferdeschwanz, wofür ich ein altes Gummiband benutzte, das ich in der Hosentasche gefunden hatte, als mir dieses Paar Jeans weitergereicht worden war. Secondhand, Baby. Tja, so lief das im Heim.

Als ich hochblickte, traf mich fast der Schlag, und ich schrie entsetzt auf. Was machte der denn hier? Ich fing mich schnell wieder, richtete mich zu meinen vollen eins-fünfundsechzig auf und blickte Julian, der auf meinem Bett saß und so richtig dämlich schmunzelte, feurig an. Feurig, nicht wie in feurig heiß, sondern mehr wie in: Sieh zu, dass du verschwindest, sonst vernichte ich dich mit meinem Laserstrahlblick.

Er lehnte sich nur nach vorn und stützte sich dabei mit seinen Ellbogen auf die Knie. „Das ist nicht gerade die Begrüßung, die ich mir erhofft hatte“, sagte er enttäuscht.

Erst jetzt fiel mir ein, dass er ja womöglich nicht allein gekommen war, und blickte mich blitzschnell um. Doch der Drache war nirgendwo in Sicht. „Was zum Teufel machst du hier?“

„Dich abholen. Deine Mutter regelt unten gerade deine Entlassung mit der Heimleitung.“ Die Bettfedern gaben ein ominöses Quietschen von sich, als Julian aufstand und sich im Raum umsah.

Plötzlich war es mir peinlich, dass er all die Spinnweben in den oberen Ecken und die verdreckten Stellen an den Wänden bemerkte.

„Na, wenn das kein gemütlicher Ort ist“, murmelte er.

Ich zuckte unbehelligt mit den Schultern, um nicht zu zeigen, wie sehr mich diese Bemerkung doch traf. „Spinnweben, Staub, es ist trotzdem mein Zuhause.“

„Nach deinem dramatischen Abgang gestern Abend, war ich gar nicht mehr so sicher, ob ich dich überhaupt heute hier finden würde.“

„Oh, wie schlimm muss es dann für dich gewesen sein, dass das Zimmer vorhin leer war, als du einfach eingebrochen bist. Besonders nachdem du doch gestern bei Gericht so viel Vertrauen in mich gesteckt hast.“ Ich griff nach dem Buch auf dem Stuhl neben meinem Bett, nahm den Bleistift heraus, der mir gestern Nacht als Lesezeichen gedient hatte, und ließ ihn in meinen Rucksack fallen. Das war der einzige Stift, den ich besaß, und ich würde ihn bestimmt nicht zurücklassen. „Ich bin sicher, du und der Drache, ihr hättet keine Minute gezögert, um die ganze Stadt nach mir abzusuchen.“

Ganz lässig machte Julian einen Schritt auf mich zu und durchbrach, ohne zu zögern, meinen persönlichen Bereich. Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange herum, doch ich bewegte mich keinen Zentimeter, als er seinen Kopf auch noch zu mir runter neigte. „Mit deiner vorlauten Klappe hätten wir dich binnen Minuten gefunden“, hauchte er. Sein warmer Atem kitzelte mich hinterm Ohr.

Ungewollt seufzte ich und atmete dabei seinen Duft ein. Irgendwie roch er total verführerisch nach … stürmischem Wind und Ozean. Mein harter Panzer drohte darunter zu schmelzen, als eine alte Erinnerung wieder hochkam. Miss Mulligan hatte uns alle einmal mit ans Meer genommen. Den ganzen Tag war ich barfuß durch die Wellen gelaufen, die sachte an den Strand rollten. Ich schloss kurz meine Augen und konnte beinahe wieder den Sand von damals zwischen meinen Zehen spüren.

„Bist du fertig?“ Julians Stimme kam diesmal von hinten.

Ich blinzelte gegen die Sonne, die durch das verstaubte Fenster hereinbrach, und drehte mich dann um. „Hab ich eine Wahl?“

„Ah … nein.“ Sein Grinsen verspottete mich aus drei Metern Entfernung. Er hob meinen Rucksack auf und marschierte anschließend zur Tür hinaus. Wie nett, dass er mir diese Last abnahm. Doch im Vergleich zu der unvermeidbaren Präsenz meiner Mutter, war das nur eine kleine Last.

Ein letztes Mal noch ließ ich meinen Blick durch den kleinen Raum im dritten Stock schweifen. Es war, als würde ich einen Teil von mir zurücklassen. Schließlich war dies über Jahre mein Zuhause gewesen. Trübselig schloss ich letztendlich die Tür.

„Sieht aus als wäre der Aufzug heute außer Betrieb“, meinte Julian, als ich ihn einholte. „Wir müssen die Treppe nehmen.“

„Der Aufzug ist außer Betrieb, seit ich hier eingezogen bin.“

Er machte kurz ein irritiertes Gesicht.

„Was hast du erwartet?“, spottete ich. „Das Grand Plaza?“

Mit einem Kopfschütteln ging Julian etwas schneller. Auch wenn ich sein Gesicht gerade nicht sehen konnte, war ich mir ziemlich sicher, dass er gerade die Augen verdrehte.

Drei Stockwerke gaben mir die ausgedehnte Möglichkeit, Julian ganz genau von hinten zu betrachten. Unter seiner locker sitzenden Jeans zeichneten sich die Muskeln seiner Pobacken bei jedem Schritt auf dramatische Weise ab. Mmm … faszinierend. Eigentlich lag mir ja nichts ferner, als Julian auf den Arsch zu gaffen. Aber irgendwie konnte ich meine Augen auch nicht davon losreißen. Oh Mann.

Zwischen dem ersten und zweiten Stock warf er kurz mal einen Blick über seine Schulter.

„Hast wohl gedacht, du hättest mich verloren“, stichelte ich.

„Bei dir weiß man nie.“ Er drehte sich beruhigt wieder nach vorne.

Unten angekommen, ließ er meinen Rucksack zu Boden fallen. Anschließend pflanzte er seinen süßen Hintern auf die zweite Stufe und lehnte sich mit den Ellbogen auf die Oberschenkel. Eine kleine Spinne husche unter seinen Beinen hindurch und verschwand blitzschnell in einem Mauerspalt. Julian neigte seinen Kopf und blickte zu mir hoch. „Erzähl mir bitte nicht, dass du diesen Ort hier vermissen wirst.“

Ich zuckte erst mit den Schultern und verschränkte dann die Arme vor der Brust. „Du solltest mal im Winter herkommen, wenn die Mäuse einziehen, um sich ein warmes Mahl in der Küche zu stibitzen.“

Julian zog die Brauen hoch, so als ob er mich anflehen würde, zuzugeben, dass das gerade nur ein Scherz war. Ich verlagerte mein Gewicht auf ein Bein, spiegelte sein Brauen-Hochziehen und forderte ihn stillschweigend heraus, mich einen Lügner zu nennen. Leider schluckte er den Köder nicht.

„Tja, in deinem neuen Zuhause wirst du wohl ohne diese flinken Gefährten auskommen müssen. Der einzige Bewohner mit Fell ist der riesige Hund deiner Tante.“

Ein Hund? Riesig? „Niemand hat gesagt, dass in dem Haus noch ein anderes Monster außer meiner Mutter lebt.“ Ein Bild von Rusty, dem Rottweiler, schoss mir durch den Kopf. Als ich damals noch zu Hause gelebt hatte, fletschte der Köter jedes Mal seine Zähne hinterm Zaun und keifte mich an, wenn ich am Nachbargarten vorbeigelaufen war. Ein leiser Hauch von Unmut kroch in meine Stimme. „Und wie groß genau ist dieser Hund?“

Eine Sekunde verstrich, bevor Julian antwortete. „Ich kenne Leute, die haben ihn schon mit einem Pferd verwechselt.“ Sein ernster Tonfall löste bei mir eine Gänsehaut aus. „Aber keine Angst. Sie füttern ihn gut, sodass er nicht auf die Idee kommt, kleine Rotzgören wie dich zu fressen.“

Hinter mir quietschte eine Tür und erschreckte mich beinahe zu Tode. Julian und seine Schauergeschichten. Pah. Hatte ich wirklich gedacht, ein Monsterköter stünde hinter mir? Als ich mich umdrehte und in das freudestrahlende Gesicht meiner Mutter blickte, war das jedenfalls genauso schlimm.

„Oh, da bist du ja!“ Sie streckte eine Hand nach mir aus, doch bevor sie meine Wange berührte, kam sie dann doch noch zur Besinnung und zog ihre Hand zurück. „Ich habe alle Papiere für deine Entlassung unterzeichnet. Draußen wartet das Taxi. Wir können uns also auf den Weg machen.“

Miss Mulligan drückte meine Hand zum Abschied und begleitete uns noch bis zur Tür. Sie murmelte auch irgendwelches Zeug, doch ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Die Gewitterziege war wahrscheinlich genauso froh darüber wie ich, dass wir uns nie wieder sehen würden.

Julian verstaute meinen Rucksack neben zwei anderen Taschen im Kofferraum des Taxis. Dann kletterte er zu mir auf den Rücksitz. Gott sei Dank war meine Mutter vorne auf der Beifahrerseite eingestiegen.

„Jetzt lächle und genieß die Reise“, flüsterte mir Julian zu. „Der Flug wird dir gefallen. Ich nehme an, du warst noch nie in einem Flugzeug?“

„Flugzeug?“ Ach du Scheiße. Daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht! Meine Knie begannen zu schlottern. „Gibt’s denn keine andere Möglichkeit, nach Frankreich zu kommen? Mit dem Auto vielleicht, oder mit dem Zug? Gegen ein Schiff sag ich auch nichts.“

Julian runzelte die Stirn. „Was ist los? Hast du etwa Angst vorm Fliegen?“

„So würde ich das nicht unbedingt ausdrücken.“ Denn ich war noch nie so weit oben gewesen. Um ehrlich zu sein, bekam ich schon eine Heidenangst, wenn ich nur die ersten paar Sprossen einer Leiter hochklettern musste. Ganz zu schweigen davon, dass ich mir beinahe in die Hose gemacht hätte, als ich es einmal gewagt hatte, mich aus meinem Fenster im dritten Stock zu lehnen. Die Wette hatte mir zwar einen brandneuen Pullover eingebracht, den Debbie zuvor bei H&M geklaut hatte, doch der Preis war schwer verdient gewesen. „Ich hab da nur so ein kleines Problem mit Höhen“, gab ich zu.

Während er diese Information verarbeitete, kräuselte Julian die Lippen. „Dann lassen wir dich wohl am besten nicht am Fenster sitzen.“

Nach weiteren vierzig Minuten Schweigen im Taxi erreichten wir endlich den Flughafen in Heathrow. Ich folgte dem Drachen auf Schritt und Tritt, um nicht versehentlich in den Menschenmassen, die hier in alle Richtungen hetzten, verloren zu gehen. Obwohl … worüber machte ich mir eigentlich Sorgen? Das war meine letzte Gelegenheit zur Flucht. Vielleicht sollte ich doch lieber ein kleines bisschen Abstand zu den beiden halten und dann, wer weiß, vielleicht eine falsche Abzweigung nehmen?

Meine Schritte wurden kürzer und somit der Abstand zwischen mir und dem Unglück, das sich meine Mutter nannte, immer größer. Leute mit Koffern füllten den Weg zwischen uns. Ich verspürte auf einmal eine völlig neue Aufregung. Nach weiteren fünf Schritten blieb ich stehen und sah mich nach einem guten Versteck um.

Da schob plötzlich jemand seine Finger unter die Träger meines Rucksacks und zog ihn mir von den Schultern. „Lass mich das für dich tragen. Wir wollen doch nicht riskieren, dass du noch deinen Flug verpasst, nur weil das Gepäck so schwer ist.“

„Quinn!“ Ich wirbelte herum und schlang meine Arme um meinen Freund, wobei ich meine Nase in dem frischen Duft seiner dunklen Uniform vergrub.

Quinn lachte und ließ meinen Rucksack fallen, als er durch meine enthusiastische Umarmung ein paar Schritte rückwärts taumelte. „Alles klar, Kleine. Ich hab verstanden. Du freust dich also mich zu sehen.“

„Ich hab schon gedacht, du kommst gar nicht mehr.“

Er hielt mich an den Oberarmen fest und lehnte sich ein Stück zurück, sodass er mir in die Augen sehen konnte. „Wann hab ich jemals ein Versprechen an dich gebrochen?“

Noch nie. Meine einzige Chance auf Flucht ging zwar gerade flöten, doch sein Aufkreuzen erfüllte mich mit einer ganz anderen Freude. Ich grinste. Quinn würde mir gegenüber niemals sein Wort brechen.

Leider kam dann auch Julian zu uns rüber und begrüßte meinen Freund mit einem lässigen: „Morgen.“

„Hey, Jules.“ Quinn legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hoffentlich hattest du keine Probleme damit, unsere Prinzessin in die Kutsche zu verfrachten.“

Julians linker Mundwinkel schob sich langsam nach oben. „Nein, gar nicht. Bis jetzt folgt sie brav wie ein Hündchen.“

Ich senkte das Kinn und warf den beiden einen fiesen Blick zu. „Könntet ihr gefälligst damit aufhören, euch über mich lustig zu machen?“

Die Hände in einer unschuldigen Geste erhoben, trat Julian einen Schritt zurück. „Deine Mutter checkt gerade ein. Sie fragt nach deinem Rucksack. Außer du möchtest ihn als Handgepäck mit an Bord nehmen.“

„Nein.“ Ich hob meinen Rucksack vom Boden auf und stieß ihn hart gegen seine Brust. „Da. Nimm.“

Julian wackelte nicht einmal ein kleines Bisschen. Er schwang den Rucksack über eine Schulter und marschierte zurück zu meiner Mutter, die bereits ziemlich weit vorne in einer Schlange am Ticketschalter anstand. Das gab mir noch einen Moment allein mit meinem Freund und ich konnte in Ruhe Lebewohl sagen.

Quinn zog mich ein Stückchen zur Seite. „Hör zu, Kleine. Ich bin sicher, dein Onkel und deine Tante werden dich mit allem Nötigen verwöhnen. Essen, Kleidung, ein Zimmer. Komm also ja nicht auf dumme Gedanken in Frankreich und fang wieder an zu klauen. Verstanden?“ Er streckte mir einen warnenden Finger ins Gesicht.

Ich widerstand dem Impuls mit meinen Zähnen danach zu schnappen und sagte stattdessen zuckersüß: „Ich werde ganz brav sein.“

„Jona, ich mein das ernst.“

„Okay, hab verstanden. Kein Stehlen.“ Ich pustete eine Strähne aus meinen Augen. „Was ist mit Glücksspielen und Prostitution?“

Seine Augen wurden weiter als Kaffeeuntertassen und seine Kinnlade schnallte nach unten.

Nun kam mir doch ein Grinsen aus. „Entspann dich, Officer. Das war nur ein Scherz.“

Quinn zog die Augenbrauen tiefer.

„Nur. Ein. Scherz!“ Ich hob die Hände, so wie Julian vorhin. „Ehrlich!“

„Sehr witzig“, brummte er. Dann fuhr er mit seiner Hand zwischen mein Haar und mein Genick und zog mich seufzend an sich. „Pass einfach gut auf dich auf, hörst du. Mach keinen Blödsinn. Und in Gottes Namen, denk gar nicht erst daran abzuhauen, wenn ihr erst einmal gelandet seid.“

Ich blickte unschuldig zu ihm hoch.

„Ich warne dich, Kleine. Ich hab gesehen, wie du vorhin versucht hast, dich von den anderen abzuseilen.“

„Du hast doch selbst gesagt, das war nur wegen dem schweren Gepäck.“ Ich zuckte mit den Schultern und ließ ein kleines Lächeln durchblitzen. „Sonst noch was?“

Er kratzte sich am Kinn und kräuselte die Lippen. Dann zerraufte er mir noch einmal liebevoll mein Haar. „Sei vorsichtig. Autos schlagen auf dem Festland von der linken Seite zu.“ Sein Schmunzeln machte mir erst so richtig bewusst, wie sehr ich ihn doch vermissen würde. Er war mehr Familie für mich, als meine Mutter es jemals sein würde.

Im nächsten Moment stieß auch Julian wieder zu uns. Dieses Mal hatte er den Drachen im Schlepptau. „Das Boarding beginnt in zwanzig Minuten“, sagte sie. „Wir sollten jetzt besser durch die Passkontrolle gehen.“

In meinem Hals bildete sich ein schwerer Klumpen bei dem Gedanken, dass wir schon so bald losmussten. Quinn bemerkte als einziger, wie meine Lippen zu zittern begannen. Er neigte seinen Kopf, sodass seine Stirn auf meiner lag, und streichelte mit seinem Daumen sanft über meine Wange. „Du machst das schon, Prinzessin“, sagte er leise. Dann drehte er sich zu Julian. „Und du wirst gut auf sie aufpassen, versprochen?“

„Na klar.“ Julian blickte dabei nur mich an.

Als sich meine Mutter von Quinn verabschiedete, schüttelte sie noch einmal förmlich seine Hand. „Danke, dass sie sich so gut um mein Baby gekümmert haben. Ich hoffe, wir haben noch einmal die Chance, uns wiederzusehen.“

Ihr Baby? Spinnt die? Meinte sie etwa das Baby, das sie am liebsten lachend im Fluss ertränkt hätte? Ich musste mich schnell wegdrehen und auf etwas anderes konzentrieren, denn sonst hätte ich ihr wohl in diesem Moment das Gebiss in den Hals gerammt.

Als sie und ihr Schoßhündchen von Begleiter sich in Richtung Passkontrollschalter aufmachten, schlurfte ich schwermütig hinterher.

„Julian!“

Wir alle drehten uns noch einmal auf Quinns Ruf hin um. Er zückte ein Paar Silberhandschellen aus seiner Hosentasche und warf sie Julian zu, der sie mit einer Hand auffing. „Du wirst sie vielleicht noch brauchen. Behalt immer den Ausgang im Auge.“

Julians amüsiertes Lachen kratzte mich in dem Moment gar nicht. Selbst Quinns Scherz störte mich nicht. Ehe ich mich versah, rannte ich los in seine Richtung und fiel ihm noch ein letztes Mal um den Hals. Er drückte mich an sich, wie es nur ein bester Freund konnte, und ich wünschte mir, es gäbe eine Möglichkeit, um für immer in dieser sicheren Umarmung zu bleiben.

„Kopf hoch, Kleine. Es ist doch nur für sechs Wochen“, sagte er in mein Ohr. „Und wenn du es dir bis dahin nicht anders überlegt hast, dann komm ich höchstpersönlich nach Frankreich und hol dich zurück nach London.“ Er drückte mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Den ersten und letzten. Dann legte er seinen Fingerknöchel unter mein Kinn und hob meinen Kopf hoch. „Jetzt lauf! Sie warten schon auf dich.“

Nun gab es keine Möglichkeit mehr, den Gang in die Löwengrube noch länger aufzuschieben. Ich löste mich aus Quinns Umarmung und schleppte mich mit schweren Schritten zur gläsernen Schiebetür, hinter der meine Mutter und Julian auf mich warteten. Doch alle paar Meter blickte ich noch einmal über meine Schulter zurück, um mich zu vergewissern, dass Quinn auch immer noch dastand. Er winkte mir zum Abschied, dann schob er seine Hände in die Hosentaschen und blieb einfach nur stehen, bis ich um die Ecke bog und er aus meinem Blickfeld verschwand.

Nachdem ich die Passkontrolle hinter mich gebracht hatte, sackte ich auf eine der vielen roten Plastiksitzbänke, die an der Wand entlang befestigt waren. Die Arme vor der Brust verschränkt, biss ich die Zähne zusammen und wartete darauf, dass wir an Bord gehen konnten.

Es dauerte nicht lange, da setzte sich auch Julian neben mich. „Hey“, sagte er.

Ich sagte gar nichts.

„Komm schon. Sechs Wochen sind keine Ewigkeit. Gib dir einen Ruck. Vielleicht gefällt es dir ja sogar in Frankreich.“

„Ja, genau. Ungefähr so wie eine Wurzelbehandlung, oder?“

Julian seufzte schwer und legte dabei seine Hand auf mein Knie. Das überraschte mich derart, dass ich vor lauter Schreck ganz vergaß, mein Bein wegzuziehen. Stattdessen haftete mein Blick starr auf seiner Hand.

Wenige Sekunden später stand er auf und schlenderte zu Charlene rüber, die an der Fensterfront stand und auf die Startbahn hinausblickte. Selbst als Julians Hand schon lange nicht mehr auf meinem Bein lag, blieb ein seltsames Prickeln zurück und breitete sich schnell in meinem ganzen Körper aus. Ich rubbelte über die Stelle an meinem Bein, doch das Gefühl ging nicht weg. Mein Herz klopfte etwas schneller und mir wurde ganz komisch. Irgendwie angenehm. Und warm.

Ob da jetzt Magie im Spiel war oder ich einfach nur den Verstand verlor, konnte ich leider nicht sagen. Wie dem auch sei, Julian hatte es geschafft, mich von meinem Schmerz über den Abschied von meinem einzigen Freund abzulenken, und ich konnte tief Luft holen, ohne dass sich mir der Hals mit unterdrückten Tränen zuschnürte.

Über die Lautsprecher in der Decke forderte eine Stewardess wenig später die Fluggäste zum Boarding auf. Ich erhob mich und folgte Julian und Charlene durch die letzte Ticketkontrolle. Der Lärm der Turbinen wurde mit jedem Schritt die enge Gangway entlang lauter. Als wir über den schmalen Spalt hinweg in das Flugzeug stiegen, blies mir ein kalter Luftzug ins Gesicht. Am Einstieg waren der Kapitän und zwei Stewardessen in marineblauen Uniformen postiert, die uns eine gute Reise wünschten.

„Gute Reise, meine Fresse“, murmelte ich und stapfte in dem engen Flugzeug hinter Charlene her, bis wir unsere Plätze erreichten.

Sie drehte sich mit einem Strahlen im Gesicht zu mir um und fragte: „Möchtest du gerne am Fenster sitzen?“

Julian richtete plötzlich ein paar Worte auf Französisch an sie. Ihr Gesicht verlor das Strahlen, dann rutschte sie in der Dreierbank durch bis zum Fenster. Hatte Julien etwa gerade mein kleines Problem mit großen Höhen ausgeplaudert? Verräter!

Doch dann wurden meine Knie weich, als mir ganz plötzlich bewusst wurde, dass ich auf dem Weg in ein Land war, in dem keiner meine Sprache beherrschte. Au Backe! Wie sollte ich mich denn dort bloß verständigen?

Julian sank in den mittleren Sitz neben meiner Mutter und überließ mir damit den Platz am Gang. Völlig fertig ließ ich mich in den marineblauen Sessel fallen, mit den Gedanken bereits ganz woanders.

Die Stewardess forderte uns auf, die Gurte anzulegen. Ich schnallte mich an, doch der Gurt um meine Hüften war viel zu weit. Da hätte ich locker dreimal reingepasst. Ich machte die Schnalle noch einmal auf und suchte nach einem anderen, etwas kürzeren Gurt. Aber da war keiner.

„Warte. Ich helf dir.“ Julians Finger waren bereits an meinem Gurt, noch bevor ich überhaupt protestieren konnte.

Meine Hände zu meinen Schultern erhoben, sah ich zu, wie er mich anschnallte und dann an dem losen Ende des Gurtes zog, bis dieser straff um meine Hüfte saß. Sein verlockender Duft nach Wind und Meer hüllte mich ein. Ich leckte mir über die Lippen.

Sachte legte er seine Hand auf meinen Bauch. „Ist das zu eng?“

Ich schüttelte langsam meinen Kopf. Er blickte mir noch einen kurzen Moment länger in die Augen, dann lehnte er sich wieder zurück in seinen eigenen Sitz. Ich erinnerte mich daran, dass ich vielleicht lieber weiter atmen sollte, wenn ich nicht unbedingt in diesem Flieger ohnmächtig werden wollte, und holte tief Luft. „Danke“, murmelte ich dann.

Auf den kleinen Bildschirmen, die alle paar Meter an der Decke des Flugzeuges angebracht waren, hatte eine Stewardess begonnen die Maßnahmen für einen eventuellen Absturz zu erörtern. Ich hörte angestrengt zu und versuchte mir das richtige Vorgehen im unwahrscheinlichen Fall einer Wasserlandung einzuprägen.

„Wenn es so unwahrscheinlich ist, warum zeigen sie dann diesen verdammten Film?“ Ich biss die Zähne zusammen und hoffte, dass Julian mein Zittern nicht bemerkte. Pech. Der Bursche merkte alles.

„Entspann dich. Dir wird nichts passieren“, versuchte er mich zu beruhigen. Doch ich hörte ihm gar nicht erst zu.

Das Flugzeug rollte bereits auf die Startbahn. Ich verkrampfte mich in meinem Sitz und blickte starr auf die Rückenlehne meines Vordermannes. Über die Lautsprecher erklärte der Kapitän, dass wir unsere Uhren in Frankreich eine Stunde vorstellen müssten und dass das Wetter offenbar sonnig bei dreißig Grad Celsius sei. Die Flugzeit betrage in etwa eine Stunde. Er erwarte keine Turbulenzen, nur ein leichtes Rütteln durch den Wind, sobald wir die Grenze zwischen Land und Wasser passierten.

Na großartig. Ich machte mich schon mal auf den Höllenritt meines Lebens gefasst.

Kapitel 5

Ein fröhlicher Gedanke

Ich saß kerzengerade in meinem Sitz, umklammerte die Armlehnen und wollte echt nicht aus dem kleinen ovalen Fenster sehen. Doch ich konnte nichts dagegen machen, mein Blick schweifte ganz von allein zur Seite. Teile der Tragfläche bewegten sich gerade rauf und runter, wobei sie ein ächzendes Geräusch von sich gaben. Mir wurde übel.

Julian lehnte sich zu mir. „Keine Angst.“ Sein warmer Atem auf meiner Wange verlangsamte die Achterbahn in meinem Bauch. „Die Teile sind nicht kaputt. Der Kapitän testet nur, ob auch alles einwandfrei funktioniert.“

„Ist jetzt nicht schon etwas zu spät, um alles zu testen?“

„Das ist das Standardprozedere, glaub mir.“

Hoffentlich war das nicht nur dummes Gerede. Ich lehnte meinen Kopf zurück und blickte wieder starr geradeaus. Wir hatten mittlerweile die Rollbahn erreicht und das Flugzeug verharrte für einige Sekunden auf der Startposition. Plötzlich wurde das Geräusch der Turbinen um ein Vielfaches lauter. Schweiß perlte mir auf der Stirn.

Mit mörderischer Geschwindigkeit schnellte der Flieger plötzlich vorwärts und ich wurde nach hinten in den Sitz gepresst. Hilfe! Ich war doch noch viel zu jung zum Sterben! Ich hatte noch nicht mal meinen Führerschein. Meine Knöchel wurden weiß, so fest verkrampften sich meine Finger um die Armstützen.

Wenn doch nur Peter Pan hier wäre. Der wüsste, was zu tun wäre. Denk an etwas Schönes … Denk an etwas Schönes … Meine Lippen bewegten sich nur leicht, als ich das Mantra wie ein Gebet vor mich hin murmelte. Doch, oh nein! Mir fiel einfach kein schöner Gedanke ein.

Das Flugzeug flitzte die Startbahn entlang. Die Welt draußen verschwamm vor dem Fenster. Wenn ich auch nur einen Finger hätte bewegen können, hätte ich mich wohl in diesem Moment bekreuzigt. So blieb mir nichts anderes übrig, als den Herrgott um ein schmerzloses Ende anzuflehen.

Eine Feder streifte plötzlich über meinen Handrücken. Nein, keine Feder. Doch Julians Finger waren so sanft wie ein Flüstern auf meiner Haut. Ich wagte einen Blick nach rechts und stolperte in tiefblaue Augen.

Vorsichtig löste er meinen Todesgriff von der Armstütze und schlang seine Finger durch meine. „Es ist alles okay.“

Sein sanfter Ton verleitete mich dazu, ihm sogar zu glauben. Seine Berührung erfüllte mich mit Vertrauen und Trost und ließ keinen Zweifel offen, dass ich in Sicherheit war, solange er mich nur festhielt. Er drückte meine Hand. Ein sanftes Lächeln schlich sich in sein Gesicht, bei dem sich ein Mundwinkel etwas höher zog als der andere.

Und da war er plötzlich. Mein fröhlicher Gedanke.

Im nächsten Moment hob das Flugzeug vom Boden ab, und es fühlte sich an, als würde ich kurzzeitig taub werden. Wir schossen mit einer Leichtigkeit in die Höhe, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich atmete tief ein und aus, schluckte ein paar Mal und bekam schließlich auch meine Ohren wieder frei. Julian hielt meine Hand die ganze Zeit fest. Mir würde nichts passieren.

Als ich meine Augen endlich von seinem Lächeln losreißen konnte, wagte ich einen kurzen Blick aus dem Fenster. London von oben zu sehen war schon etwas ganz Besonderes. Und wunderschön. Aber als die Stadt unter uns kleiner und kleiner wurde, kam auch die Gewissheit, dass mein bisheriges Leben, so wie ich es kannte, nun endgültig vorbei war. Ich wurde aus meiner Heimat gerissen und zur Sklaverei aufs Festland exportiert. Für unendlich lange sechs Wochen.

Langsam löste ich meine verkrampften Finger von Julians Hand und zog sie zurück. Das war nun schon das zweite Mal, dass er mich auf diese seltsame Weise berührt hatte. Und genau wie beim ersten Mal, war mir ganz komisch warm dabei geworden. Unwahrscheinlich, dass er mitbekommen hatte, wie ich auf ihn reagierte. Umso besser. Ich würde vor Scham vergehen, wenn er es wüsste.

Um seinem Blick auszuweichen, widmete ich meine übertriebene Aufmerksamkeit meinen schwitzenden Händen, die ich gerade an meiner Jeans abwischte.

„Ich nehme an, du fühlst dich besser“, sagte Julian leise und vielleicht sogar ein wenig enttäuscht, lehnte sich vor und zog ein Buch aus seinem Rucksack, den er unter dem Vordersitz verstaut hatte. Er steckte seine Nase in die Seiten. In diesem Moment versuchte ich überall hinzusehen, nur nicht zu ihm, wobei ich mich verlegen räusperte, anstatt zu antworten.

Neben mir stand ein Mann auf und holte ein weißes Kissen aus dem Gepäckfach. Er setzte sich wieder hin, stopfte das kleine Kissen hinter seinen Kopf und machte die Augen zu. Ich versuchte das auch … die Augen zuzumachen und den Flug zu verschlafen. Doch das war eine saublöde Idee, denn sobald ich sie geschlossen hatte, konnte ich mich plötzlich nur noch auf das wohlig warme Gefühl in mir konzentrieren. Mein Herz fühlte sich an, als hätte es jemand unter eine heiße Trockenhaube gesetzt. Whoa, war das komisch. Da sah ich mich doch lieber wieder im Flugzeug um, nur halt nicht auf meiner rechten Seite.

Ich zog die Beine an, schlang meine Arme drum rum und stellte meine Füße auf den Sitz. Gleich fühlte ich mich ein wenig sicherer … vor dem seltsamen Effekt, den Julian ohne es zu wissen auf mich hatte.

Wie der Kapitän es vorhergesagt hatte, ging der Wechsel von Fliegen über Land zu Fliegen über Wasser nicht ohne holprige Turbulenzen einher. Wir wurden ordentlich durchgerüttelt und das verdammte Flugzeug drohte jede Sekunde auseinanderzubrechen. Panik packte mich erneut am Genick, doch dieses Mal gab ich Acht darauf, dass meine zitternden Hände in meinem Schoß und außer Julians Reichweite lagen. Julian tat zwar immer noch so, als wäre er in sein Buch vertieft, doch ich bemerkte, wie er alle paar Sekunden besorgt zu mir rüber schielte. Solange das Beuteln und Schütteln andauerte, verdoppelte ich meine Anstrengungen, mich zu beherrschen und zumindest halbwegs ruhig zu wirken; von meinem Hyperventilieren mal abgesehen.

„Mir geht’s bestens“, brummte ich. „Kein Grund schon wieder meine Hand zu halten.“

Julian machte kurz die Augen zu, presste die Lippen aufeinander und ein kleines Grübchen erschien auf seiner Wange. „Wie du meinst.“

Ein leises Grollen kam aus meiner Kehle. Der Blödmann sollte gefälligst aufhören, mich auszulachen! Doch warum kümmerte mich das überhaupt? Es konnte mir doch völlig egal sein, was er von mir dachte. Argh!

Ich blickte zornig rüber zu dem dösenden Bündel im Sitz neben ihm. „War ja klar, dass der Drache schlafen kann wie ein Stein, während die Welt um uns herum auseinanderfällt. Gleichgültig, wie eh und je“, maulte ich.

Doch dann bemerkte ich, wie Julian mit seiner freien Hand Charlenes Unterarm sanft auf und ab streichelte. Was zum Teufel–? Also war er doch ihr Liebhaber. Ein Ballon aus Eifersucht stieg in mir auf und platzte dann direkt unter meinem Hals. Nicht auszudenken, was so ein sanftes Kraulen bei ihr bewirken würde, wenn mich Julians kleinste Berührung schon total aus der Bahn warf.

Das Streicheln hörte abrupt auf.

Wieso? Hatte er etwa mitbekommen, wie sehr mich das gerade störte? Ich runzelte die Stirn. Im nächsten Moment verschwanden Julians Lippen zu einem Strich. Er zog langsam seine Hand von meiner Mutter ab und hielt damit das Buch fest. Seine langen Wimpern versteckten seine blauen Augen vor mir, als er sich viel zu offensichtlich auf die Seiten konzentrierte.

Ein leises Stöhnen kam vom Fensterplatz. Meine Mutter wurde unruhig, doch Julian machte keine Anstalten, sie weiter zu streicheln. Absichtlich, da war ich ganz sicher. Er versuchte vermutlich seine Sorge um sie vor mir zu verstecken; oder was auch immer er da gerade mit ihr veranstaltet hatte. Magie? Um ihren Schmerz zu lindern? Nein, Blödsinn. Das konnte gar nicht sein.

Charlene begann sich in ihrem Sitz zu regen und wachte schließlich auf. Ihr Gesicht war vor Schmerz verzogen. Eine Minute später saß sie aufrecht, eine Gänsehaut überzog ihre Unterarme und sie starrte durch das kleine Fenster auf die Wolkendecke um uns herum. War das gerade wirklich nur geschehen, weil Julian sie nicht mehr berührte?

Langsam ließ ich meinen Blick zurück zu Julian gleiten. Seine Augen waren nun geradewegs auf mich gerichtet. Das Blut gefror mir in den Adern.

*

Obwohl der Rest des Fluges ohne weitere Turbulenzen vonstattenging, war ich dennoch mehr als erleichtert, als wir endlich aussteigen konnten und ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Meine Mutter hakte sich bei Julian ein und ich folgte ihnen dicht auf.

Meine Stirn war binnen Kurzem schweißnass. Ich wischte mir mit dem Ärmel meiner Kapuzenjacke drüber. Verglichen mit den milden Temperaturen in Großbritannien wirkte Frankreich wie eine Sauna. Das Innere des Flughafens war Gott sei Dank klimatisiert, somit war das Warten auf unsere Koffer nicht ganz so unerträglich. Als wir das Terminal verließen, wartete bereits ein Pärchen bei einem dunklen Geländewagen auf uns.

Der großgewachsene Mann in hellbraunen Shorts und schwarzem T-Shirt hatte seinen Arm um die Frau mit rötlich blonden Haaren gelegt. Als wir zu ihnen kamen, umarmte meine Mutter die beiden herzlich und begrüßte sie auf Französisch. Julian bekam von der Frau, die mir wie Ende dreißig vorkam, ein Küsschen links und rechts auf die Wange. Er musste sich dabei leicht zu ihr nach unten lehnen, denn sie war kaum größer als ich.

Als Nächstes drehte sie sich zu mir und strahlte dabei wie eine 100 Watt Glühbirne. Ich lehnte mich instinktiv zurück und hob schützend meine Hände. „Ich denke, wir können das mit dem Küssen überspringen.“

„Hallo, Chérie“, sagte sie freundlich und streckte mir ihre Hand entgegen. „Ich bin Marie Runné, deine Tante.“ Sie verschluckte das H beim Hallo, machte aus ich ein iesch und noch nie hatte ich gehört, wie jemand ein R so lustig rollte.

Aus einem Meter Sicherheitsabstand schüttelte ich ihre Hand. Ich wollte kein Risiko eingehen, plötzlich doch auch noch umarmt und geküsst zu werden.

„Das ist mein Ehemann, Albert.“ Sie zog den letzten Teil seines Namens hinaus, als hieße er Albär. Der Name passte zu ihm. Groß genug für einen Bären war er ja, obwohl mich das erste Grau in seinen Haaren eher an einen Wolfsrücken erinnerte.

Bonjour, Jona. Meine Frau und ich sind sehr glücklich, dass du dich entschieden hast, eine Weile bei uns zu leben.“

Anstatt seine Hand zu schütteln, steckte ich meine nun tief in die Hosentaschen. „Ich hatte keine Wahl.“

Maries Stimme blieb sanft wie die einer Katze, als sie sagte: „Es war sehr mutig von dir, so weit zu reisen, und dann auch noch an einen Ort, den du gar nicht kennst. Aber hab keine Angst. Wir werden uns gut um dich kümmern.“

Hallo? Ich stierte sie vorwurfsvoll an. „Ich hab vor gar nichts Angst.“

In dem Moment spürte ich, wie Julian sich von hinten zu meinem linken Ohr beugte, und ein merkwürdig warmer Schauer lief mir den Rücken hinunter. „Wir beide kennen zumindest eine Sache, bei der du ins Zittern gerätst, nicht wahr?“, flüsterte er mir zu. Dann nahm er mir den Rucksack ab und lachte den ganzen Weg bis zum Kofferraum, wo er unsere Sachen verstaute.

Der fing langsam echt an, mir auf die Nerven zu gehen.

Der Rücksitz des Wagens war zum Glück breit genug, sodass Charlene, Julian und ich uns auf der Strecke nicht wie Ölsardinen aneinanderpressen mussten. Ich saß ganz rechts und blickte die ganze Zeit über aus dem Fenster, meinen Rücken Julian zugewandt, der die Barriere zwischen mir und meiner Mutter bildete. Ganze siebzig Minuten dauerte die Fahrt zu den Weinbergen, auf denen ich bis zu meinem Geburtstag Sklavenarbeit verrichten sollte.

Aber mal abgesehen von dem ganzen Jammer, der mir noch bevorstand, war Südfrankreich doch ein wunderschönes Fleckchen Erde. In London war ich von Backsteingebäuden und hektischem Verkehr umzingelt gewesen, sobald ich einen Fuß vor die Tür gesetzt hatte. Hier säumten Baumalleen die einsame Straße. Romantische Seen, Wiesen und Hügel formten eine bezaubernde Landschaft. Es war fast so, als würde das Land versuchen, die gestressten Leute auf den ruhigen Boden herunterzuholen.

Unglücklicherweise warf die Gesellschaft meiner Mutter einen trüben Schatten auf diese unwirkliche Gegend. Meine Tante und mein Onkel versuchten während der Fahrt immer mal wieder ein kurzes Gespräch mit mir aufzubauen. Doch ich hatte so überhaupt keinen Bock auf Smalltalk mit Fremden.

Ein sanfter Stups in die Rippen erschreckte mich plötzlich. Als ich wild herumfuhr, nickte Julian in Richtung Fenster. „Wir sind fast da. Hier wirst du die nächsten paar Wochen“ – er hielt im Satz kurz inne und kräuselte die Lippen – „deine Ferien verbringen.“

„Du kannst die Dinge ruhig beim Namen nennen“, maulte ich zurück. „Das ist der Ort, an dem für mich die Sklaverei beginnt.“

„Es ist dein vorübergehendes Zuhause“, verbesserte er mich noch einmal.

„Oh wie nett.“ Ich fletschte meine Zähne mit einem aufgesetzten Lächeln, drehte mich weg und las, was auf dem Ortsschild stand, das wir gerade passierten.

Bienvenue à Fontvieille.

Albert steuerte den Wagen durch schmale Straßen und ein paar Gassen, bis die vielen Schaufensterzeilen schließlich einem kleinen Wald und letztlich einem steinigen Weg wichen. Wenige Minuten später hielten wir in der Auffahrt eines beeindruckenden Anwesens im Landhausstil an.

Ich stieg mit den anderen aus und staunte mir erst mal die Augen aus dem Kopf. Hübsch war die Untertreibung des Jahrhunderts. Der Ort glich einem Bilderbuch.

Von einem niedrigen karamellbraunen Gartenzaun umgeben, ragte das Haus wie ein Märchenschloss aus dem Boden. Haustür, Fensterrahmen und der lange Balkon auf einer Seite im ersten Stock waren in derselben Farbe gestrichen wie der Zaun. Der Rest des Hauses war in einem strahlenden Weiß getüncht, das gerade die frühe Nachmittagssonne reflektierte.

Ich hatte keine Ahnung, was das für rote, gelbe und lila Blumen waren, um die gerade einige Schmetterlinge und Bienen herumschwirrten, doch sie hingen üppig von den rechteckigen Blumenkästen, die an allen Fensterbänken und auch am Balkon angebracht waren. Eine leichte Brise schwenkte die feinen Netzvorhänge in den offenen Fenstern hin und her wie das Kleid einer Ballerina. Ich konnte es kaum abwarten, in dieses bezaubernde Haus hineinzuspazieren.

Immer noch tief in Faszination versunken, zuckte ich nicht einmal zurück, als meine Tante plötzlich sanft meine Oberarme rieb. „Willkommen zu Hause, Jona.“

Zu Hause. Der Begriff lag wie ein leeres Versprechen in meinem Ohr.

Marie ließ mich los und zurück blieb eine kalte Stelle auf meiner Haut – ungewöhnlich für die dreißig Grad Außentemperatur, die wir hatten. Sie nahm meine Mutter am Arm und ging mit ihr ins Haus, gefolgt von Albert, der unser Gepäck hineintrug.

Ich wollte gerade auch hinter ihnen her schlurfen, als ein braun-weiß geflecktes Pferd um die Hausmauer trottete. Okay, es war kein Pferd, aber fast so groß wie eins. Das Monster kam auf mich zu und hatte dieses mordlustige Funkeln in den Augen. Es musste auch gerade ein kleines Kind gefressen haben; die Schnürsenkel hingen ihm immer noch aus dem Maul.

Wie angewurzelt blieb ich stehen. Das Riesenvieh stellte sich vor mich und schnitt mir damit den Weg zum Eingang ab. Ich war ihm hilflos ausgeliefert.

Da hob das Monstrum von Hund seine Schnauze und schnüffelte an meiner zitternden Hand. Aus Angst seinen Appetit nur noch mehr anzuregen, erstickte ich ein Wimmern in meinem Hals.

Er blickte zu mir hoch. Ein tiefes Grummeln in seiner Kehle wuchs zu dem trägsten und desinteressiertesten Einmal-Bellen, das die Welt je zu hören bekam. Dabei lösten sich die Schnürsenkel von seinem Kiefer und tropften in einer Sabberpfütze zu Boden.

Bei Julians Lachen hinter mir fuhr ich erschrocken zusammen. „Und ich hab schon gedacht, der Hund ist stumm“, sagte er.

Verdammt, wieso musste der Kerl ständig irgendwo in der Nähe sein? Ihm blieb aber auch gar nichts verborgen, besonders nicht meine peinlichen Momente.

„Lou-Lou, sitz!“, befahl er dem Bernhardiner. Gemächlich pflanzte sie ihren Hintern aufs Pflaster. Ihre lange rosa Zunge hing seitlich aus dem Maul und wippte durch ihr Hecheln auf und ab. Ihr Schwanz wischte auf der Terrasse hin und her, während Julian sie hinter den wolligen Ohren kraulte. Dann wagte es Julian auch noch, seinen Arm locker auf meine Schultern zu legen. „Sollen wir Hunde auch auf die Liste der Dinge setzen, die dich zu Tode erschrecken?“

Ha. Ha. „Scherzkeks.“ Ich forderte ihn mit einem todbringenden Blick heraus, weiter Witze über mich zu machen, als er mich in Richtung Eingangstür zog. Bevor wir diese erreichten, konnte ich mich schließlich aus seiner lässigen Umarmung befreien und stapfte allein hinein.

Julian folgte mir, bog aber gleich in ein Zimmer auf der linken Seite. Hatte der etwa kein Zuhause? Hoffentlich würde er bald abhauen und mich mit seinen spitzen Bemerkungen in Ruhe lassen. Die saudummen Schmetterlinge, die seine Berührungen jedes Mal in meinem Bauch heraufbeschworen, konnte er bei dieser Gelegenheit auch gleich mitnehmen.

In der Flurhalle hinter der Eingangstür standen meine neu entdeckten Familienmitglieder und unterhielten sich in fließendem Französisch. Schnell wechselten sie in meine Sprache, jedoch mit schwerem Baguette-und-Croissant-Akzent, als sie mich hereinkommen sahen, und hießen mich mit einem freundlichen Lächeln in ihrem Haus willkommen.

Der Drache versuchte auch zu lächeln, doch irgendwie wollten ihre Mundwinkel nicht so recht nach oben wandern. „Die lange Reise hat mich doch etwas angestrengt. Ich werde mich lieber kurz ausruhen. Marie zeigt dir gleich alles, dann kannst du dich wie zu Hause fühlen.“

Zu Hause. Pah, dass ich nicht lache. Und wann würde es das Miststück endlich lernen, mich nicht mehr anzusprechen? Ich knirschte mit den Zähnen und wartete bis sie in dem Raum am hinteren Ende des Flurs verschwunden war.

„Ich möchte nur sichergehen, dass es deiner Mutter auch gut geht, dann können wir eine Tour durch das Haus starten, wenn du möchtest“, bot mir meine Tante an. Ihre Augen strahlten immer noch mit derselben Begeisterung und Gastfreundschaft wie vor eineinhalb Stunden am Flughafen.

Als sie weg war und ich plötzlich allein dastand, drehte ich mich erst mal im Kreis und bewunderte das lichtdurchflutete Innere des riesigen Hauses. In dem ovalen Flur, der selbst schon wie ein großes Zimmer wirkte, standen ein dunkelgrüner Kasten im Landhausstil und eine Kommode, auf der eine blau-weiß gemusterte Vase und ein Festnetztelefon standen. Helle Holztüren führten in alle Richtungen. Ich lehnte mich etwas zur Seite und spähte durch eine offene Tür in einen Raum, der aussah wie ein kleines Büro. Bücher über Bücher füllten die Regale an der Wand und am hinteren Ende stand ein breiter Schreibtisch mit einem Computer oben auf.

Auf der rechten Seite des Flurs führte eine breite, geschwungene Treppe in den oberen Teil des Hauses. Erst als ich mir beinahe den Nacken verrenkte und nach oben sah, erkannte ich, warum es in dem Flur ohne Fenster trotzdem so hell war. Von hier aus konnte man bis zum Dach hinaufsehen, das in einer Mansarde über der Galerie im ersten Stock aufragte. Ein riesiges Dachfenster war darin eingebettet und gab freie Sicht auf den strahlendblauen Himmel.

„Das Haus ist wohl etwas größer als dein Zimmer in London.“

Ich schoss zu Julian herum. Er lehnte mit einer Schulter im Türrahmen und hatte die Daumen durch die Gürtelschlaufen seiner Jeans gehakt. Ich streckte meine Schultern arrogant nach hinten und setzte mein perfektes Mädchengrinsen auf. „Du bist noch hier? Solltest du nicht schon lange unterwegs zu deiner eigenen Familie sein? Oder will dich dort vielleicht auch keiner haben?“ Die Spitzen in meiner Stimme schienen ihn nicht einmal zu berühren.

„Aber nein, Julian lebt bei uns“, hörte ich plötzlich meine Tante sagen, die gerade zurück aus dem Zimmer meiner Mutter gekommen war. „Komm mit mir. Ich zeige dir als Erstes die Küche und mache deiner Mutter nur noch schnell eine Tasse Tee.“ Sie nahm mich an der Hand und zog mich in den Raum, in dessen Tür Julian stand.

Als ich mich an ihm vorbeizwängte, verfing ich mich in Julians amüsiertem Lächeln. Mein Entsetzen darüber, dass er ebenfalls in diesem Haus lebte, stand mir mit Sicherheit ins Gesicht geschrieben und schien ihn nur noch mehr zu erheitern.

Kapitel 6

Cinderella

In der geräumigen Küche mit vanillefarbigen Fronten hing der Duft von frisch gebackenem Brot in der Luft. An dem großen Eichentisch auf der linken Seite neben der Tür konnten acht Personen Platz nehmen, doch mit mir als einziger dort wirkte er ein wenig wie der verlassene Laufsteg nach einer Modenschau.

Die Kochinsel in der Mitte des Raumes spiegelte sich in der Tür des Edelstahlkühlschranks, in dem Marie gerade herumwühlte. Hoffentlich hatte sie eine Landkarte für das riesige Teil, denn ich befürchtete schon, sie würde darin verloren gehen.

„Ah, da ist es ja.“ Sie kam mit etwas, das in Wachspapier eingepackt war, wieder zum Vorschein und holte einen Teller aus einem der oberen Küchenschränke, auf den sie dann das Gebäck legte. Zwanzig Sekunden ließ Marie den Snack in der Mikrowelle kreisen, ehe sie den Teller vor meinen verschränkten Armen hinstellte.

Mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt, setzte sich Marie neben mich. „Iss, Chérie. Du bist doch sicher hungrig.“

„Nein, überhaupt nicht“, murmelte ich, doch im selben Moment gab mein Magen ein verräterisches Knurren von sich.

Maries glockengleiches Lachen tanzte im Raum. „Du gehörst zur Familie, Jona, und bist uns herzlich willkommen. Du brauchst dich also nicht zu genieren. Wenn du irgendetwas möchtest, nimm es dir bitte.“ An dem freudigen Glanz in ihren Augen war zu erkennen, dass sie jedes Wort ernst meinte.

Aber warum gerade jetzt? Was trieb diese Frau dazu, heute die liebe Tante zu spielen, wenn sie sich die letzten siebzehn Jahre nicht den geringsten Dreck um mich geschert hatte? Für mich war sie eine Fremde. Niemals war sie zu Besuch in unsere kleine Wohnung in Cambridge gekommen, als ich noch bei meiner Mutter gelebt hatte. Und Charlene hatte eine Tante auch nie nur erwähnt. Ich wusste rein gar nichts über Marie und fragte mich, wie viel mehr sie denn wirklich über mich wusste.

Mein Magen knurrte erneut. Verlegen stemmte ich meine Faust in meinen Bauch in der Hoffnung, das Grummeln würde dadurch aufhören. Meine Tante lächelte mich auffordernd an. Es kratzte mich nicht. Aber es wäre doch eine Schande gewesen, das köstliche Brötchen wegzuwerfen, jetzt wo sie es schon einmal aufgewärmt hatte. Ich stibitzte das Gebäck vom Teller und knabberte an einer Ecke. Der würzige Geschmack der Kräuter-und-Frischkäsefüllung explodierte in meinem Mund. Mmh, fantastisch. Ich leckte mir die Krümel von den Lippen und biss ein größeres Stück ab.

Marie nickte zufrieden. Als der Wasserkocher, der auf der Marmorplatte der Küche stand, pfiff, legte sie mir ihre weiche Hand auf die Wange. Nur ganz flüchtig. Es war vorüber und meine Tante war aufgestanden, noch ehe ich überhaupt realisierte, dass ich mich gerade von ihr hatte streicheln lassen.

Sie tauchte einen Teebeutel ein paar Mal in eine Tasse voll dampfendem Wasser. „Ich bringe deiner Mutter nur schnell ihren Tee. Dann können wir mit der Tour beginnen.“

Irgendwie fand ich ihren Akzent ja ganz niedlich. Ich nickte und biss inzwischen noch einmal von dem leckeren Gebäck ab. Zwei Minuten später war der Snack ratzeputz aufgegessen und ich saß immer noch allein in der Küche. Aus zwei Minuten wurden fünf. Wo steckte sie bloß? Das Zimmer meiner Mutter lag doch nur ein paar Meter weiter.

Um mich abzulenken, zog ich eine Weile die geometrischen Figuren auf dem Tellerrand mit meinem Finger nach und kaute dabei auf meiner Unterlippe. Hatte sie mich etwa vergessen? In so kurzer Zeit? Man konnte nicht einmal Stimmen oder Schritte aus dem Flur hören. Nur das leise Tapp-Tapp-Tapp meiner eigenen Füße durchbrach die unangenehme Stille. Schließlich stand ich vom Tisch auf und spülte den Teller ab.

„Ich sehe, du machst dich bereits nützlich“, freute sich Marie hinter mir. Ich schnellte herum, und sie nahm mir das Geschirr aus der Hand, um es wieder zurück in den Schrank zu stellen. „Komm. Es ist an der Zeit, dir dein neues Zuhause zu zeigen.“ Mit ihren Händen auf meinen Schultern schob sie mich sanft zur Tür hinaus.

Eine Wand des Wohnbereichs auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs bestand rein aus Glas und eröffnete eine herrliche Aussicht auf die Bäume im Garten. Warmes Sonnenlicht brach durch das Fenster und fiel auf den schwarzen Flügel, der in dem Raum eindeutig die Vorherrschaft übernahm. Den vielen Blättern am Notenstand nach zu urteilen, war dieses glamouröse Instrument nicht nur zur Zierde hier. Im Vorbeigehen ließ ich meine Finger über die weißen Tasten streifen und spielte dabei drei unstimmige Töne hintereinander.

Neben einem offenen Kamin schwang das Pendel einer altmodischen Standuhr in einem hypnotischen Rhythmus hin und her. Er versetzte mich zurück in eine Zeit, in der nachts das Ticken einer Uhr mein einziger Trost gewesen war. Abwesend griff ich mir an den linken Ellbogen und erinnerte mich an eine längst vergessene Verletzung. Ich schob die Gedanken daran zurück in den tiefsten Kerker meiner Erinnerungen.

Nachdem ich meinen Rundgang in diesem Raum beendet hatte, zeigte mir Marie auch noch ihr Schlafzimmer und Alberts Arbeitszimmer – das kleine Büro, in das ich vorhin schon heimlich gespäht hatte. Als wir zurück in die Halle kamen, stand die Eingangstür verlockend weit offen. Eine warme Brise wehte herein und forderte mich auf, meine Chance zu nutzen und abzuhauen. Vielleicht … wenn Marie kurz mal nicht hersah … dann könnte ich zur Tür raus huschen und einen Vorsprung rausschlagen. Ich würde mich im Wald verstecken, bis es dunkel wurde, und dann zurück zum Flughafen trampen. Irgendwie ließ sich bestimmt ein Flugticket zurück nach England auftreiben.

Mit den Händen in meinen leeren Hosentaschen musste ich mir jedoch eingestehen, dass ich ohne Geld nicht sehr weit kommen würde. Ich brummte vor mich hin und versuchte mir angestrengt eine Alternative einfallen zu lassen.

„Hier ist unser Badezimmer. Du kannst es dir auch gerne ansehen, wenn du möchtest“, schlug Marie vor und stellte sich dabei ganz bewusst zwischen mich und die Eingangstür. Sie wusste offenbar genau, was mir gerade durch den Kopf ging.

Für den Moment war es wohl das Klügste, erst mal abzuwarten und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Später, wenn ich ein paar Minuten für mich selbst hatte, würde ich mir einen Plan überlegen, der mich hier rausbrachte.

Das einzige Zimmer, das ich im Erdgeschoss bisher nicht betreten hatte, war das meiner Mutter. Es war mir ganz recht. Sollte der Drache ruhig hinter verschlossener Tür in seiner Höhle bleiben. Leider ging aber gerade diese Tür auf, als Marie und ich zum vorderen Teil des Hauses und der Treppe zurückkehrten. Julian schlich leise heraus.

„Schläft sie?“, fragte ihn Marie mit leiser Stimme.

Julian nickte nur.

„Ah, der Krankenpfleger ist wohl immer im Einsatz“, schnappte ich zynisch. „Hast du sie auch gut zugedeckt und ihr einen süßen Gutenachtkuss auf die Wange gedrückt?“

Er lehnte sich plötzlich näher und flüsterte: „Ich kann das ja heute Abend mit dir machen, wenn du willst.“

Mein erstauntes Schlucken hallte durch den Flur. Ich machte einen Schritt rückwärts und sah ihn entgeistert an.

Im nächsten Moment gab ihm Marie einen Klaps auf den Arm. „Sei nett zu ihr, Julian.“ Über ihre Rüge konnte Julian nur schmunzeln. Dann drehte sich Marie zu mir. „Deine Mutter schläft sehr viel in letzter Zeit. Die lange Reise nach London hat sie zusätzlich erschöpft.“ Sie legte ihren Arm um meine Taille und schob mich sanft vorwärts. „Komm mit, Chérie. Ich bin sicher, du möchtest als Nächstes dein Zimmer sehen.“

Im oberen Stockwerk angekommen, teilte sich der Korridor nach beiden Seiten. Ich drehte mich auf der Galerie im Kreis und genoss die herrliche Sonne, die durch das Dachfenster strömte. Als ich mich dann über das Geländer lehnte, fiel mein Blick auf Julian, der gerade in Richtung Küche schlenderte. Die herabfallenden Sonnenstrahlen brachten die warmen Strähnen in seinem Haar zum Leuchten. Mein Herz klopfte ein klitzekleines bisschen schneller. Vielleicht wäre es gar nicht so übel, abends von ihm zugedeckt zu werden.

Plötzlich blieb Julian stehen. Er blickte über seine Schulter zu mir hoch, als wüsste er, dass ich ihn gerade beobachtete. Seine blauen Augen funkelten dabei.

Au Backe. Meine Ohren glühten, als ich vom Geländer zurückschnellte. Ich wirbelte herum zu Marie und ließ mich von ihr zu meinem Zimmer führen. Von unten tönte ein leises Lachen.

„Wir haben hier oben auch eine kleine Bibliothek“, erklärte mir Marie und zeigte dabei auf eine Tür, die rechts um die Ecke lag. „Du kannst dir also jederzeit ein Buch holen, wenn du möchtest. Julian wohnt in dem Zimmer da hinten. Und das hier ist deins.“

Na großartig. Julian lebte nicht nur im selben Haus, nein, er musste natürlich auch in dem Zimmer neben mir schlafen. Fünfzig Zentimeter Mauer waren alles, was uns nachts trennte. Ich konnte ein missbilligendes Stöhnen nicht unterdrücken.

Marie öffnete die Tür neben Julians und ließ mich vorausgehen. Als ich den ersten Fuß über die Schwelle setzte, befand ich mich plötzlich in einem fünf mal fünf Meter großen Fleckchen Himmel. Mir blieb die Luft weg, und ich hatte das Gefühl, dass mir der Mund gerade meilenweit offen stand.

Durch die großen, quadratischen Fenster auf zwei angrenzenden Seiten wurde das Zimmer geradezu von Sonnenlicht überschwemmt. Der Wind spielte verträumt mit den zarten weißen Vorhängen in der offenen Balkontür und gab dabei immer mal wieder kurz die Sicht nach draußen frei.

Die Gummisohlen meiner Stiefel machten ein quietschendes Geräusch auf dem hellgrauen Parkett, als ich zaghaft weiter in den Raum trat. Ich zog die Linien des Teddybären nach, der in das Brett am Fußende des hellen Holzbettes geschnitzt war. Dann ließ ich meine Fingerspitzen über die Bettdecke mit Blumendesign gleiten. Das seidenweiche Material fühlte sich verboten herrlich an – nicht zu vergleichen mit den kratzigen, steifen Bettlaken und Decken im Jugendheim.

„Ich hoffe, dieses Zimmer kommt dir nicht zu kindisch vor.“ Die unsichere Stimme meiner Tante brach durch meine Gedanken. „Albert hat die Möbel aus Holz von unserem eigenen Wald gezimmert. Damals, als wir erst frisch verheiratet waren und noch gehofft hatten, einmal selbst Kinder zu bekommen.“

In dem großen Spiegel an der Schranktür gegenüber vom Bett sah ich, wie Marie mit traurigem Gesicht in einem weißen Schaukelstuhl in der Ecke neben der Tür sanft vor und zurück schwang. Sie drückte dabei einen Teddy fest an ihre Brust. Obwohl ich gestern Nacht nicht wirklich aufgepasst hatte, was Charlene so alles erzählte, war mir doch in Erinnerung geblieben, dass meine Tante keine Kinder bekommen konnte. Wenn es jemand anderes gewesen wäre, hätte ich wohl einfach nach dem Grund gefragt. Doch das war die Frau, die mich vom ersten Moment an mit diesen großen, hoffnungsvollen und vor allem freundlichen Augen angeblickt hatte. Zu ihr wollte ich, wenn auch als Einzige in diesem Haus, nicht grob sein.

Doch mein Blick sprach vermutlich sowieso grad Bände, denn im nächsten Moment seufzte sie und sagte: „Ein genetischer Fehler.“ Sie erhob sich vom Schaukelstuhl, setzte den Bären zurück an seinen Platz und kam langsam auf mich zu. „Ich kann nicht schwanger werden.“ Als sie mir zärtlich über die Wange streichelte, fragte ich mich, ob sie sich in all den Jahren genauso sehr nach einem Kind gesehnt hatte, wie ich mich nach einer liebevollen Mutter. Mein Leben wäre so ganz anders verlaufen, wenn ich als ihre Tochter zur Welt gekommen wäre.

Marie hätte mich bestimmt geliebt.

Ich verbiss mir den Zorn über diese Erkenntnis. Schließlich wollte ich diese Frau vor mir gar nicht so gernhaben. Doch als sie ihre Hand von meinem Gesicht nahm, griff ich beinahe danach, um sie wieder zurück an meine Wange zu legen. Ich kaschierte diese dumme Geste, indem ich mich schnell an der Nase kratzte. Dann stapfte ich zu einer weiteren Tür im Raum, die einen Spalt offen stand. „Was ist da drin?“

„Ein Badezimmer. Beide Räume in diesem Stock haben ein eigenes.“

„Ich werd verrückt! Mein eigenes Badezimmer?“ Ich stieß die Tür weiter auf und lehnte mich kurz um die Ecke, dann blickte ich zurück zu Marie. „Lass mich raten. Ihr habt euch eine Tochter gewünscht?“

Meine Tante lachte. „Was hat mich verraten? Die rosa und weißen Fliesen?“

Ich nickte.

„Ja, ich hab mir immer ein kleines Mädchen gewünscht. Aber auch einen Jungen dazu. Die Fliesen in Julians Bad sind weiß und hellblau.“

Das machte mich neugierig. Waren Julians und mein Zimmer völlig identisch? Ich hielt es für besser, nicht danach zu fragen. Schließlich sollte sie nicht denken, dass ich in irgendeiner Weise an dem Burschen interessiert war. Denn das war ich gottverdammt noch mal auf gar keinen Fall.

„Wir essen um sechs“, teilte mir Tante Marie dann mit. „Nimm dir Zeit, um dich frisch zu machen und dich in deinem neuen Zimmer einzuleben. Albert hat dein Gepäck vorhin schon raufgebracht und es in den Schrank gestellt.“

Ein bisschen Zeit für mich selbst klang fantastisch nach dem langen Tag, an dem ständig irgendwelche Leute um mich herumgeschwänzelt waren. Ich nickte und freute mich schon auf die erste Dusche in einem privaten Badezimmer nach über zwölf Jahren.

Sobald die Tür allerdings hinter Marie zufiel, fühlte ich mich ein wenig verloren. Klar hatte sie gesagt, dass das nun mein Zimmer war, aber ich war immer noch Gast. Sie konnten es mein neues Zuhause nennen, so oft sie wollten – in ein paar Stunden würde ich von hier abhauen. Andererseits reizte mich dieses traumhaft schöne Bett ja schon sehr, es einmal zu testen.

Ich ließ mich vorsichtig auf die Matratze sinken. Nicht das leiseste Quietschen einer Bettfeder war zu hören. Meine Beine baumelten in der Luft, als ich zurück in das Kissen sank und begann, die kleinen runden Spots in der Decke zu zählen. Dabei schweiften meine Gedanken ab. Ich könnte jetzt aufstehen, mich nach unten schleichen und dann einfach zur Tür rausschlüpfen. Mit ein wenig Glück würden sie meine Flucht nicht vor dem Abendessen in zwei Stunden bemerken. Eine einmalige Chance.

Der seidene Vorhang über mir streifte mir im Wind übers Gesicht. Gleichzeitig wehte der Duft von Blumen und frisch geschnittenem Gras durchs Fenster. Ich atmete tief ein.

Was wäre, wenn ich bleiben würde? Könnte ich es sechs Wochen lang in diesem Haus aushalten?

Verlockend. Aber unmöglich.

Das Einzige, was ich tun konnte, war meine Abreise einen Tag hinauszuzögern. Immerhin wäre es doch eine Schande gewesen, nicht zumindest ein einziges Mal in diesem wunderbar weichen Bett zu schlafen. Ich kickte meine Stiefel weg, damit ich hier oben nichts schmutzig machte, kniete mich auf die Matratze und lehnte mich mit den Ellbogen auf das Fensterbrett, wobei ich meinen Kopf unter dem Vorhang durchsteckte. Beim ersten Blick auf die weiten Hügel vor meinem Fenster entfuhr mir ein beeindrucktes Pfeifen.

Ein Pfad führte vom Haus ungefähr hundert Meter zu einem riesigen Garten, der ein wenig aussah, wie ein überdimensional großes Gemüsebeet. Die Weinberge lagen in all ihrer Schönheit vor mir ausgebreitet.

In mehreren quadratischen Gärten ragten kleine Büsche Seite an Seite aus dem Boden. Breitere Wege trennten diese einzelnen Partien voneinander. Die noch jungen Reben wiegten sich sanft im Wind. Weiter draußen glitzerten die feinen Tropfen einer Bewässerungsanlange in der Sonne. Vögel hatten ihren Spaß darin. Noch nie zuvor hatte ich einen so bezaubernden Ort gesehen.

Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen und stelle mir vor, wie schön es gewesen wäre, als Kind hier frei herumzurennen und alles zu erkunden.

Wie schön wäre es wohl heute?

Was würde Quinn sagen, wenn er wüsste, in welch bildhübsches Gefängnis mich Abe gesteckt hatte? Er würde mir wahrscheinlich raten, auf meine Mutter zu pfeifen und das französische Leben zu genießen. Na ja, vielleicht mit einer etwas anderen Wortwahl.

Aber ich konnte meine Mutter einfach nicht aus meinen Gedanken streichen und so tun, als ob sie nicht da wäre. Oder vielleicht doch? Ich konnte es ja zumindest mal einen Tag lang versuchen. Ein Grinsen schlich sich in mein Gesicht. Ausgelassen sprang ich auf dem Bett herum und lief anschließend ins Bad.

Dieser Raum, mit seinen rosa und weißen Fliesen, war wie ein Traum aus Zuckerwatte. Warmes Licht fiel durch das mattierte Fenster und auf die breite Duschkabine in der Ecke. Vom Regal an der Wand zog ich ein flauschiges Handtuch und drückte es an meine Wange. Als ich es mir um die Schultern hängte, versank ich in dem frischen Duft von Pfirsichen.

Ich setzte mich auf den heruntergeklappten Klodeckel und stellte mir vor, ich wäre eine Prinzessin und das wäre mein Schloss. Der böse Hausdrache lebte unten in seiner Höhle, wo er hingehörte.

In der Wand neben der Dusche entdeckte ich als Nächstes eine kleine Klappe aus Metall. Sah irgendwie komisch aus. Ich stand auf und untersuchte das katzentürartige Ding genauer. Wenn man dagegen drückte, klappe es nach hinten weg. Aus Neugierde steckte ich schnell mal meinen Kopf hinein. Da drin war es stockdunkel. „Halloooo-oooo“, rief ich hinein und meine Stimme hallte lustig wider.

Jemand räusperte sich hinter mir.

Ich knallte mit dem Schädel gegen die Klappe, als ich zurückzuckte und mich schnell aufrichtete. Aua, das hatte weh getan.

„Das ist ein Wäscheschacht. Du wirfst deine alten Sachen da rein und sie fallen direkt in den Waschkeller.“

Ich blickte Julian scharf an und rieb mir die Stelle am Kopf, wo in wenigen Minuten sicher eine riesige Beule herausschießen würde. „Klopfen is’ wohl nicht in Frankreich, wie?“

„Eigentlich habe ich geklopft. Aber du hast nicht geantwortet. Ich wusste ja nicht, dass du hier drinnen Frotteeprinzessin spielst.“

Meine Wangen wurden heiß wie zwei glühende Kohlen. Mit einem Knurren zog ich mir das Badetuch von den Schultern und ließ es hinter meinem Rücken verschwinden. „Und was ist das?“, fragte ich und nickte dabei zu dem Kleiderstapel in seinen Armen.

Julian machte kehrt und ließ die ganze Ladung auf mein Bett fallen. „Marie wollte, dass ich dir das bringe. Anscheinend zieht sie die Sachen nicht mehr an. Sie meinte, du kannst behalten, was dir gefällt, und deine alten Klamotten verbrennen.“

„Das hat sie gesagt?!“

„Na ja, vielleicht nicht unbedingt das mit dem Verbrennen.“ Er grinste mich blöd an. „Ich dachte nur, jetzt wo du so viele neue Anziehsachen hast, kannst du die schäbigen Lumpen sicher entsorgen.“

„Meine Klamotten sind nicht schäbig!“ Das Geräusch meiner knirschenden Zähne vibrierte durch meinen Kopf. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich meine Backenzähne bald bis auf ein Minimum herunter geschliffen haben.

Julian deutete auf mein Bein. „Da ist ein Loch in deiner Hose.“

„Dieses Loch ist persönlich.“

„Ooh warte, verrat’s mir nicht. Es ist eine spezielle Erinnerung an einen deiner Raubzüge.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Die Jeans gingen dann wohl bei einer dramatischen Flucht kaputt, oder?“

Fall doch tot um!

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. Meine Lippen blieben versiegelt. Doch die Martens waren das aufgeschundene Knie und das Loch in der Hose allemal wert gewesen.

Julian lachte laut, als er mein Zimmer verließ, denn offensichtlich wusste er, dass er mit seiner Vermutung genau ins Schwarze getroffen hatte. Dämlicher Idiot. Genervt latschte ich zurück ins Bad, zog mich aus und stellte mich unter die heiße Dusche. Dieses Mal schloss ich aber vorher ab.

Ich konnte nicht genau sagen, wie lange ich unter der Dusche stand, doch als ich rauskam und mich in ein luftig weiches Badetuch einwickelte, hatte die Haut an meinen Händen und Füßen Ähnlichkeit mit Rosinen. Mein Haar duftete wie ein See aus Rosenwasser, und mein ganzer Körper sog gerade eine Lotion auf, die nach wilden Beeren roch. Marie würde schon nichts dagegen haben, dass ich den Kram hier im Bad verwendete. Schließlich hatte sie ja extra betont, dass ich mich wie zu Hause fühlen sollte.

Im Schrank neben dem Marmorwaschbecken fand ich einen Fön, mehrere Haarbürsten und eine große Auswahl an Spangen, Gummibändern in verschiedenen Farben, Haarreifen und weiß der Teufel, was noch alles. Sie hatte das ganze Zeug wohl kaum gekauft, als sie noch gehofft hatte, schwanger zu werden. Bestimmt hatte sie den Schrank gefüllt, als sie von meinem Besuch hörte. Die Lady machte es einem aber auch verdammt schwer, sie nicht zu mögen.

Als ich damit fertig war, mein Haar zu trocknen, fühlten sich meine üblicherweise strohigen Strähnen an wie ein Wasserfall aus Seide. Strahlendes Kastanienbraun umrahmte mein Gesicht, und ich musste schon zweimal hinsehen, um sicherzugehen, dass das wirklich ich im Spiegel war. Wie ein wilder Mustang schüttelte ich meinen Kopf hin und her, als ich übermütig aus dem Bad galoppierte. Mein weiches, duftendes Haar streichelte dabei angenehm über meine Wangen. Quietschend sprang ich aufs Bett und rollte mich auf den Rücken. Ich fühlte mich wie ein frisch gepflückter Pfirsich.

Im nächsten Moment hörte ich Schritte auf dem Balkon und hielt erschrocken den Atem an. Wer war das denn? Ich presste das Badetuch fester an meinen nackten Körper und beobachtete die offene Balkontür. Doch niemand kam herein. Auf Zehenspitzen schlich ich rüber und versteckte mich hinter dem Vorhang, dann lugte ich vorsichtig hinaus.

Da war niemand. Doch am hinteren Ende des Balkons wehten weiße Seidenvorhänge durch den Rahmen einer offenen Tür aus und ein – einer Tür, die genauso aussah wie meine.

Na toll. Teilten sich Julian und ich etwa den gleichen Balkon? Irgendwie hatte Marie wohl vergessen, diese unbedeutende Kleinigkeit zu erwähnen. Wenn ich mich nicht total irrte, war Julian gerade dabei gewesen, mir einen weiteren Überraschungsbesuch abzustatten. Mein aufgeregtes Herumtollen hatte ihn wohl verschreckt. Oder er zeigte einfach nur Anstand, wer weiß. Der Mann war für mich undurchschaubar.

Wie auch immer, ich sollte mir schleunigst etwas anziehen. Als mich das letzte Mal ein Junge nackt gesehen hatte, humpelte er anschließend mit einem gebrochenen Zeh und einem blauen Auge aus dem Mädchen-Duschraum – mit freundlichen Grüßen von meiner Faust.

Mein Körper hatte seither einige Kurven entwickelt und Julian war echt der Letzte, dem ich einen exklusiven Blick darauf gewähren wollte.

Ich holte meinen Rucksack aus dem Kleiderschrank und wühlte darin nach Unterwäsche, die ich blitzschnell anzog. Als Nächstes holte ich ein fades graues T-Shirt heraus, doch da fiel mir wieder der Haufen Kleider ein, den mir Marie vorhin per Boten hatte bringen lassen und der immer noch auf meinem Bett gestapelt war. Selbstverständlich würde ich Julians Rat, meine eigenen Sachen zu verbrennen, nicht befolgen, doch es konnte nicht schaden, einmal einen Blick auf Leihgaben meiner Tante zu werfen. Vielleicht konnte ich mir ja tatsächlich etwas borgen, nur für heute natürlich. Wenn ich mich morgen davonstehlen würde, brauchte ich ihre Sachen nicht mehr.

Marie war sehr großzügig mit ihrer Spende gewesen. So viele schöne Klamotten hatte ich noch nie zur Auswahl gehabt. Jede Menge langärmelige und kurzärmelige Shirts in verschiedensten Farben und Mustern lagen vor mir ausgebreitet. Nachdem ich jahrelang immer die gleichen Jeans und Sweater getragen hatte, kam es mir vor, als hätte ich gerade eine Schatzkiste ausgegraben.

Ich nahm ein T-Shirt nach dem anderen hoch und hielt es mir vor dem Spiegel an die Brust. Wow, was machten Leute nur mit so viel Luxus? Vorsichtig faltete ich die Kleider und räumte sie alle in den Schrank. Nur ein schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt ließ ich draußen und zog es über.

Marie hatte mir außerdem Hosen und Röcke spendiert. Bei der Affenhitze in Frankreich war eine abgeschnittene Jeans mit Fransen gerade recht. Überraschenderweise passten die Klamotten wie angegossen, obwohl die ausgefransten Jeans nur wenig mehr als meinen Hintern bedeckten. Für meinen Geschmack betonte auch das T-Shirt meine Figur, besonders meine Brüste, ein wenig zu sehr, doch das ließ sich leicht kaschieren, indem ich mein langes Haar mit meinen Fingern über meine Schultern nach vorn kämmte.

Eine ganz neue Jona stand nun vor mir im Spiegel. Doch das Ungewöhnlichste an mir war in diesem Moment das glückliche Grinsen, das breit auf meinen Lippen saß.

Hey, halt mal. Hatte ich echt gerade das Wort „glücklich“ verwendet? Nein, konnte nicht sein. Marie und ihre Familie hatten sie wohl nicht alle, wenn sie dachten, sie könnten mich mit einem hübschen Zimmer und netten Klamotten einwickeln. Ich gehörte nicht hierher. Und was noch viel wichtiger war, ich wollte gar nicht hier sein. Keiner konnte mich dazu zwingen. Auch nicht ein glatzköpfiger, alter Richter mit Holzhammer.

Es war nichts daran auszusetzen, einen Tag in diesem Traumschloss zu genießen, doch morgen war ich weg. Basta.

Der altmodische runde Wecker neben meinem Bett zeigte kurz vor sechs an. Das Abendessen würde gleich fertig sein. Ich warf noch einen letzten Blick hinaus auf den Balkon, wobei ich Acht gab, ja nicht hinauszusteigen. Das unsichere Holzgerüst fünf Meter über dem Boden rief mir meine Höhenangst deutlich zurück ins Gedächtnis. Doch von hier aus hatte man einen fantastischen Blick über die Weingärten und ich lehnte meinen Kopf verträumt gegen den Türrahmen.

Julians Tür stand auch immer noch offen. Von ihm war allerdings weit und breit nichts zu sehen. Ich atmete tief durch, um meine Nerven für das bevorstehende Abendessen mit meiner Familie inklusive dem Drachen zu stählern, kehrte den Weinbergen dann den Rücken und ging zur Tür. Als ich sie aufmachte, entfuhr mir ein Schreckensschrei.

Julians Faust kam geradewegs auf meine Stirn zu.

„Whoa!“, rief er ebenso erschrocken und zog ruckartig seine Hand zurück, ehe er mir damit die Lichter ausknipsen konnte. Im nächsten Moment fiel sein Blick auf meine nackten Beine … und verharrte dort.

„Ähm, ja … sie sind … ähm …“ Verlegen versuchte ich die Shorts in die Länge zu ziehen, um damit etwas mehr Haut zu bedecken. Was irgendwie so gar nicht funktionierte. „Kurz.“

Julian räusperte sich. „Zumindest hast du hierin nicht viel Platz, um Löcher rein zu reißen.“

„Na, wenn da nicht Prinz Charming vor mir steht.“

Julian musste lachen. Das niedliche Geräusch wirkte wie eine Abrissbirne auf die solide Schutzmauer, die ich schon vor Jahren um mich errichtet hatte.

„Komm mit, Cinderella.“ Er machte eine tiefe Verbeugung und schwenkte dann seinen Arm einladend in Richtung Treppe. „Das Bankett wartet bereits.“

„Dann beeilen wir uns lieber, bevor die Uhr zwölf schlägt und ich mich wieder in einen Kürbis zurückverwandle.“ Ich tapste leichtfüßig die Stufen hinter ihm hinunter und grinste dabei wie ein Honigkuchenpferd.

Kapitel 7

Französisches Klima

In der Küche hing ein warmer, würziger Duft, bei dem mir das Wasser im Mund zusammenlief. Ich ignorierte meine Mutter, die Marie gerade dabei half, das Mahl aufzutischen, und rutschte in der Essecke bis zum anderen Ende durch. Der Drache hatte seine Höhle also wieder verlassen. Zugegeben, sie sah viel besser aus als noch vor ein paar Stunden. Doch als sie sich zu mir drehte, bekam sie nichts weiter als meinen verächtlichen Blick zu spüren.

Julian, der hinter einem der beiden Stühle mit hoher Rückenlehne stand, beobachtete das Drama. Er schüttelte den Kopf, zog den Stuhl zurück und setzte sich hin.

Als Albert sich zu uns gesellte, sagte Marie auch meiner Mutter, sie solle sich setzen. Obwohl da drei freie Plätze waren, suchte sie sich ausgerechnet den neben mir aus. Ich verdrehte die Augen und stand von meinen Platz auf. Julians Mund stand offen, als ich mich auf den letzten freien Stuhl neben ihn setzte. Doch bevor er etwas sagen konnte, hustete meine Mutter ein klein wenig zu laut, um es als belangloses Räuspern gelten zu lassen. Julian seufzte daraufhin und machte seinen Mund wieder zu.

Warum kümmerte es ihn überhaupt, wie ich auf meine Mutter reagierte? Ich funkelte ihn böse von der Seite an, doch für den Moment zog der werte Herr es wohl vor, mich zu ignorieren.

Albert setzte sich auf die Eckbank neben den Drachen und Marie fing mit seinem Teller an das köstlich duftende Huhn und Gemüse auszuteilen. Mein Magen knurrte gerade, als Marie nach meinem Teller griff. Hoffentlich hatte es niemand gehört. Ich nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas vor mir und schob dann ein Stück Karotte in den Mund.

„Und, gefällt dir dein Zimmer, Jona?“, fragte mich Albert und biss von seinem warmen Baguette ab.

Den Mund gerade voll Hühnchen, nickte ich nur.

„Die Einrichtung ist vielleicht nicht gerade passend für einen Teenager“, fuhr er fort, während er sich und den anderen Erwachsenen ein Glas Wein einschenkte. „Wenn ich mich nicht irre, haben wir im Keller noch die Möbel von Maries altem Jugendzimmer. Wir können sie diese Woche ja vielleicht austauschen, wenn du willst.“

Sein Angebot überraschte mich. Erwartete er dafür vielleicht eine Gegenleistung? In meinen beinahe achtzehn Jahren hatte ich nur einen Menschen kennengelernt, der mir half, ohne dafür etwas zu erwarten. Quinn. Und der war meilenweit weg.

„Ist nicht nötig. In sechs Wochen bin ich sowieso wieder weg“, sagte ich in einem schrofferen Ton, als ich eigentlich wollte. Und außerdem wäre es eine Schande, auch nur ein Stück in dem märchenhaften Zimmer auszutauschen. Doch das sagte ich natürlich nicht laut.

Marie streichelte zärtlich über den Arm meines Onkels. „Siehst du? Ich hab dir doch gesagt, es wird ihr gefallen.“

Als ich ihren Blick über den Tisch hinweg suchte, kurvten ihre Mundwinkel nach oben. Mit diesem Lächeln, das ich heute schon mehrmals zu Gesicht bekommen hatte, schaffte sie es erneut, sich durch meinen Schutzmantel aus Stahl zu bulldozern.

Verdammt.

Ich konzentrierte mich schnell auf den Teller vor mir. Niemand sollte merken, wie sehr mich Marie mit allem was sie sagte oder tat berührte.

„Hast du Valentine und Henri im Weingarten gefunden?“, fragte sie unerwartet.

Julian war derjenige, der antwortete. „Mm-Hm.“

„Und werden sie später noch hereinkommen und Jona begrüßen?“

„Eigentlich hab ich die beiden gebeten, erst morgen vorbeizuschauen. Ich wollte nicht, dass Jona an ihrem ersten Tag gleich mit zu vielen fremden Gesichtern überfordert wird.“ Mit einem unlesbaren Ausdruck in den Augen sah er kurz zu mir rüber.

Ich wollte gerade ein Stück Brokkoli, das ich mit meiner Gabel aufgespießt hatte, in den Mund schieben, doch ich legte die Gabel stattdessen zurück auf den Teller. Ein seltsam leeres Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Ich konnte nicht verstehen, warum er plötzlich so nett zu mir war, wo er sich doch den ganzen Tag über benommen hatte wie ein Arsch. Na ja, vielleicht nicht den ganzen Tag.

Marie reichte Julian und Albert eine zweite Portion Hühnchen und blickte dann zu Julian. „Das war sehr rücksichtsvoll von dir.“

„Ja, überaus rücksichtsvoll.“ Innerlich zuckte ich bei meinem zynischen Tonfall zusammen, wo ich doch eigentlich nichts weiter als danke sagen wollte. Keine Ahnung, wer Valentine und Henri waren oder warum ich die beiden überhaupt kennenlernen sollte, doch Marie und Albert waren für einen Tag schon genug Fremde, mit denen ich mich herumschlagen musste.

Nach dem Essen gingen alle rüber in das große Wohnzimmer mit Flügel und Kamin. Nur meine Tante blieb in der Küche zurück. Ich beschloss ihr beim Saubermachen zu helfen, anstatt mich zu den anderen zu gesellen.

„Lass nur, Chérie“, sagte Marie und nahm mir die schmutzigen Teller aus der Hand. „Warum gehst du nicht auch rüber ins Wohnzimmer und machst es dir mit deiner Mutter und den anderen gemütlich?“

„Ah, lieber nicht.“ Während des ganzen Essens war ich den hoffnungsvollen Blicken meiner Mutter erfolgreich ausgewichen, da wollte ich mir den Abend nicht noch dadurch verderben lassen, dass ich noch mal in einen Raum mit ihr gesteckt wurde. Egal, für wie lange.

Meine Tante legte mir beide Hände auf die Wangen. „Es war ein langer Tag für dich. Ruh dich aus. Morgen werde ich dir dann die Weinberge zeigen.“ Sie küsste mich so rasch auf die Stirn, dass ich gar keine Zeit hatte zurückzuweichen, sondern einfach nur kurz meine Augen schloss. „Schlaf süß, Liebes.“

Schock übermannte das wohlige Gefühl, das ihr Jasmin-Parfüm und ihre zarten Hände versuchten in mir wachzurütteln. Ich blinzelte wild, während ich meinen Blick zu meinen Schuhspitzen senkte, drehte mich dann abrupt um und stapfte aus der Küche. Im Flur hielt ich noch einmal kurz an. Mist. Ich hatte gar nicht Gute Nacht zu ihr gesagt.

Ich wischte mir über die Stelle, an der Marie mich geküsste hatte. Dann hatte ich eben nicht Gute Nacht gesagt, na und? Das war nicht wirklich meine Familie. Marie und Albert waren meine Gefängnisaufseher. Kein Grund, sich irgendwie mit ihnen anzufreunden. Ganz besonders nicht, wenn mir ihre Anwesenheit sowieso nur auf die Nerven ging.

Oder … tat sie das wirklich?

Himmel noch mal, was machten die bloß mit mir? Das französische Klima war mir ganz eindeutig zu Kopf gestiegen. Ich hätte Marie lieber wegstoßen und sie warnen sollen, so etwas nie wieder zu tun. Als ich in meinem Zimmer angekommen war, schlug ich die Tür zu und sperrte sie alle aus – auch diese ungewollten Gefühle für sie.

In meinem Rucksack suchte ich nach meinem Notizblock und Bleistift. Damit setzte ich mich dann aufs Bett, stopfte mir das Kissen hinter den Rücken und machte es mir bequem. Als schließlich die Nacht über Fontvieille hereinbrach, hatte ich bereits über acht Seiten beschrieben, voll mit Verleumdungen über meinen ersten Eindruck von Frankreich und meinen neuen Familienmitgliedern. Es war zu dunkel geworden, um noch zu erkennen, was ich geschrieben hatte. Das Licht wollte ich aber nicht anmachen, daher legte ich den Block samt Stift schließlich beiseite und blickte mich in meinem Zimmer um. Bereits morgen würde ich diesen zauberhaften Ort verlassen. Ein elender Kloß bildete sich bei dem Gedanken in meinem Hals.

Es konnte nicht schlimmer sein, einem hungrigen Kind einen Blick durchs Fenster eines warmen Hauses auf einen festlich gedeckten Weihnachtstisch zu gewähren. Nur stand ich nicht draußen in der Kälte, sondern hatte sogar von dem Tisch genascht. Mit zwei Fingern massierte ich die pochende Stelle zwischen meinen Augen. Je länger ich im Schlaraffenland blieb, umso schwerer würde es werden, wieder abzureisen.

Von draußen tönte der Ruf einer Eule herein. Der sanfte Wind raschelte in den Bäumen. Das Holz des Balkons knarrte. Jemand stand da draußen.

Julian.

Ich hielt für eine unerträgliche halbe Minute den Atem an und lauschte, ob er auf meine Seite des Balkons rüberkam. Doch so frech würde er nicht sein. Da in meinem Zimmer kein Licht brannte, dachte er sicher, ich sei bereits eingeschlafen.

Außer dem Wind war draußen nichts mehr zu hören. Ich schlich aus dem Bett und zur Balkontür, wo ich vorsichtig um die Ecke spähte. Die Hände auf das Geländer gestützt, blickte Julian hinaus auf die Weinberge, die gerade in der Dunkelheit versanken. Der schmale Lichtschimmer aus seinem Zimmer tauchte seine Silhouette in weiches Gold.

Julian ließ den Kopf hängen. Unter seinem weißen T-Shirt zeichneten sich seine Schulterblätter ab. Eine unsichtbare Last schien ihm schwer auf den Schultern zu sitzen.

Man musste schon blind sein, um nicht mitzubekommen, dass es die angeschlagene Gesundheit meiner Mutter war, die ihm zu schaffen machte. Für einen Moment hatte ich das Bild vor Augen, wie Quinn mir aufmunternd die Haare raufte, wenn ich mal traurig war oder in Schwierigkeiten steckte. Vielleicht brauchte Julian ja auch jemanden, der ihm die Haare zerwühlte.

Ja genau … geh doch rüber und mach es, Schlaumeier!

Ich verdrehte die Augen über mich selbst. Manchmal kamen mir aber auch die dämlichsten Gedanken in den Sinn.

„Kannst du nicht schlafen?“ Julians Worte waren nur wenig lauter als ein Flüstern.

Woher zum Teufel wusste er, dass ich mich hier versteckte? Ich war doch ganz leise. „Ich bin nicht müde.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, doch meine eigene Stimme klang für mich wie die einer Fremden.

Nun drehte er sich zu mir und lächelte sogar ein wenig. „Komm raus. Nachts ist es hier oben am schönsten.“

Ich schüttelte schnell den Kopf. „Mm-mm.“

Einen kurzen Moment lang verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen. „Du hast Angst.“ Er sagte das mit solcher Überraschung, dass ich mich fragte, ob er sich wohl persönlich dadurch beleidigt fühlte. Er stieß sich vom Geländer ab. Mit den Händen in die Hosentaschen geschoben, spazierte er zu mir rüber. „Hoffentlich ist es nur die Höhe des Balkons, die dich nervös macht, und nicht ich.“

„Warum solltest du mich nervös machen?“ Die Frage kam ein klein wenig zittrig aus meinem Mund. Ich drückte mich mit dem Rücken fester gegen den Türrahmen, als er näher kam.

Vor meinem Zimmer blieb er stehen und lehnte sich mit dem Hintern gegen das Geländer. „Tja, warum nur …?“

Wir blickten einander viel zu lange an. In diesem Moment dachte ich, er wolle vielleicht sogar, dass ich in seiner Gegenwart nervös wurde. Aber das war eine blöde Idee. Ich schob den Gedanken beiseite und räusperte mich auf der Suche nach einem geeigneten Themenwechsel. „Wer sind eigentlich die beiden Leute, die ich morgen treffen soll?“

„Valentine und Henri? Oh, sie sind ein nettes Pärchen.“ Julian stützte sich mit beiden Händen auf dem Geländer ab und hievte sich nach oben, um auf der Balustrade zu sitzen.

„Nein, nicht!“ Meine ängstliche Stimme hallte durch die Nacht, als ich mich vom Türrahmen löste und meine Hände in einer hilflosen Geste nach Julian ausstreckte. Doch Panik hielt meine Füße fest am Boden verankert. Wenn er gleich nach hinten kippen und in die Tiefe stürzen würde, konnte ich ihm nicht einmal helfen.

Julian stützte sich immer noch auf dem Geländer ab, doch er hing gerade irgendwie in der Luft und zog dabei eine Augenbraue hoch. Meine Sorge störte ihn offenbar nicht wirklich, denn im nächsten Moment ließ er sich langsam auf das Geländer nieder. Seine grauen Sportschuhe baumelten einen Meter über dem Boden.

Sein Blick war nervtötend, denn er forderte mich damit heraus, doch rauszukommen und ihn von der lebensgefährlichen Holzkonstruktion herunterzuholen.

Ich verbiss mir den Ärger über seine Sorglosigkeit und blieb im sicheren Schutz meines Zimmers.

Julian klimperte amüsiert mit den langen Wimpern und fuhr dann fort, als wäre überhaupt nichts gewesen. „Valentine und Henri Dupres leben in einem Haus ein Stückchen die Straße runter. Sie sind schon etwas älter, arbeiten aber immer noch hart auf den Weinfeldern deines Onkels. Du siehst sie dann morgen früh.“

Das erinnerte mich wieder an das Abendessen und seine Fürsorge. Vielleicht war jetzt ja der geeignete Zeitpunkt, um ihm dafür zu danken, obwohl sich bei dem Gedanken daran so ziemlich alles in mir sträubte. Ich hüstelte leicht und drehte dann meinen Kopf weg, sodass der Vorhang meine Stimme verschleierte. „Es war übrigens nett von dir, das Treffen auf morgen zu verschieben.“

„Entschuldigung, was hast du gerade gesagt?“ Er grinste fies, und ich überlegte kurz, ob ich ihm ein Kissen an den Kopf werfen sollte. Doch dann wäre er womöglich noch rückwärts vom Balkon gestürzt, und ich wollte nicht daran schuld sein, wenn er sich sein Genick brach.

„Danke“, sagte ich etwas lauter, jedoch durch zusammengebissene Zähne.

Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. „Gern geschehen, Jona.“ Seine Stimme klang sanft wie das Schnurren eines Tigers und verursachte bei mir eine Gänsehaut. Dann meinte er: „Vorhin beim Essen hatte ich das Gefühl, du wärst überrascht, weil ich mich um dich sorge.“ Er neigte seinen Kopf leicht schief. „Warum?“

„Ich weiß nicht“, antwortete ich automatisch. Vielleicht auch deshalb, weil ich nicht wusste, ob ich ihn anlügen oder die Wahrheit sagen sollte. So wie er mich gerade ansah, fand ich, hatte er die Wahrheit verdient. „Ich dachte nur irgendwie, du kannst mich nicht leiden.“ Mein Krächzen verriet bestimmt meine Unsicherheit und darum ließ ich meinen Blick lieber mal auf den Spalt zwischen den einzelnen Bodenlatten des Balkons sinken.

„Du setzt ja selbst alles daran vorzutäuschen, dass du mich nicht leiden kannst und es dir egal ist, was mit mir passiert. Und trotzdem drehst du halb durch, weil ich hier oben sitze und vielleicht runterfallen könnte.“

„Hey, Freundchen! Wer hat was von vortäuschen gesagt?“ Ich sah hoch in sein Gesicht und fand dort etwas, das ich nicht klar deuten konnte. Es erinnerte mich an Rottweiler Rustys Blick, wenn er einen Knochen ins Visier genommen hatte.

Zwei Sekunden später rutschte Julian vom Geländer und stand wieder fest auf dem Boden. Einhundert verkrampfte Muskeln in meinem Körper entspannten sich, und ich atmete tief durch, wobei mir erst jetzt auffiel, dass ich die Luft überhaupt angehalten hatte.

Hol mich der Teufel, wenn er nicht gerade seinen Standpunkt klargemacht hatte.

Ein Mundwinkel wanderte nach oben. „Ich wünsch dir süße Träume, Jona.“ Damit verabschiedete er sich und schlenderte zurück auf seine Seite des Balkons.

„Gute Nacht“, flüsterte ich so leise, dass nicht mal ich selbst mich hören konnte.

Julian schmunzelte, als er durch die wiegenden Vorhänge in seinem Zimmer verschwand.

Eingekuschelt in eine watteweiche Wolke aus Daunen wachte ich auf. Das dämmernde Licht der Morgensonne schien mir aufs Gesicht. Ich gähnte laut, total entspannt und ausgeruht.

Leicht benommen blinzelte ich ein paar Mal und versuchte mir ein Bild darüber zu verschaffen, wo ich denn eigentlich war. Plötzlich schoss ich hoch. Wie konnte ich hier nur so ruhig und entspannt liegen, wo doch meine Mutter nur ein Stockwerk unter mir lag?

Der Boden war kalt, und ich zitterte leicht, als ich barfuß ins Badezimmer lief. Mit warmem Wasser wusch ich mir den restlichen Schlaf aus den Augen. Dann blickte ich hoch in den Spiegel und entdeckte darin das Gesicht eines unentschlossenen Kindes. Schokolade oder Zuckerstange? Traumschloss oder Freiheit? Wenn ich von hier verschwinden wollte, dann war jetzt der richtige Zeitpunkt.

Gestern hatte Marie für mich ein wunderbares Mahl zubereitet und ich durfte in einem himmlischen Bett schlafen. Jetzt war es an der Zeit die Kurve zu kratzen, bevor ich mich noch an den Luxus hier gewöhnte und nie wieder weg wollte.

„Was ist mit den Weinbergen?“, flüsterte das Mädchen im Spiegel. Ich konnte doch nicht gehen, ohne durch die Weingärten spaziert zu sein. Wenigstens einmal. Heute Abend wäre ich dann bestimmt unterwegs zurück nach England.

Fünf Uhr morgens war wohl noch etwas früh, um nach unten zu gehen und auf Marie zu warten. Ich kroch zurück ins Bett, kniete mich vors Fenster und steckte meine Füße unter die Decke. Mein Kinn auf meine Arme gestützt, blickte ich hinaus auf die Weinberge und träumte davon, was der heutige Tag wohl noch für mich parat hielt. Der erste und einzige Tag meiner Sklavenarbeit.

Was erwartete Albert wohl da draußen von mir? Ich konnte wohl kaum mit einer Gießkanne umherlaufen und die zehn Hektar Land bewässern. Dafür bräuchte ich schon fünfhundert Jahre oder länger. Ich reckte meinen Hals und versuchte die kleinen Trauben an den Büschen zu erkennen. Es war Mitte August, und sie waren sicher noch zu klein, um geerntet zu werden. Was könnte ich also sonst tun?

Ein wenig schockiert stellte ich fest, dass ich mich tatsächlich schon darauf freute, heute mit meinem Onkel und meiner Tante auf dem Feld zu arbeiten, egal, welche Aufgaben sie mir anschaffen würden.

Meine Zähne fingen an zu klappern, als ein kühler Wind zum Fenster herein- und mir um die Schultern wehte. Ich zog mir die Bettdecke bis zum Hals und wickelte mich darin ein wie ein Hotdog. Die Decke war immer noch kuschelig warm von letzter Nacht. Ich lehnte mich wieder aufs Fensterbrett und schloss meine Augen … nur ganz kurz. Doch bald schon übermannte mich der Schlaf erneut und ich nickte wieder ein.

Als ich das nächste Mal wach wurde, wärmte die Sonne bereits mein Gesicht und das morgendliche Gezwitscher von Vögeln war überall zu hören. Eine zarte Feder streichelte mich von der Augenbraue bis runter zur Nasenspitze. Das Schnurren einer zufriedenen Katze kam aus meiner Kehle. Ich blinzelte gegen die Sonne. Und fand Julians Gesicht auf Augenhöhe.

Mit den Gedanken immer noch in meinem Traum, in dem ich einem kleinen Spatz durch die Weinberge hinterhergelaufen war, wunderte ich mich, wie Julian plötzlich in meinen Traum kam. Wir blickten einander lange an. Keiner sagte ein Wort in diesem unwirklichen Moment.

Seine Mundwinkel kurvten nach oben und meine folgten. Was ich vorhin für eine Feder gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine Haarsträhne von mir, die Julian zwischen seinen Fingern hielt. Er kitzelte mich damit noch ein letztes Mal, bevor er sie losließ und mich mit dem Fingerknöchel leicht unterm Kinn anstupste. „Guten Morgen.“

„Hi.“ Meine Stimme war so warm wie die Sonne.

„Hoffentlich hast du nicht die ganze Nacht so geschlafen. Sieht mächtig unbequem aus.“

„Ich hab schon an schlimmeren Orten geschlafen.“ Die Sanftmut unserer Unterhaltung gekoppelt mit der Stille des Morgens legte sich wie eine extra Decke um mich. Eine Mischung aus Minze, Kräutern und Blumenduft hing in der Luft und kroch mir in die Nase. Ich kuschelte mich tiefer in die Beuge meiner Arme. „Was machst du eigentlich hier?“

„Dich aufwecken.“

„Mit einem Haarbüschel?“, kicherte ich.

Julian zuckte mit den Schultern. Da fiel mir erst auf, dass er gar kein T-Shirt anhatte. „Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dich mit einem Stock gepiekt?“

Bei der Vorstellung verzog ich das Gesicht. „Haarbüschel sind okay.“

Ich ließ meinen Blick über seine nackten Schultern und die kräftigen Oberarme schweifen. Straffe Brustmuskeln zuckten unter seiner makellosen, sonnengebräunten Haut, als er sich hockend mit den Ellbogen auf die Knie stützte. Ich hätte ihn stundenlang in dieser Pose betrachten können.

„Wir müssen in einer halben Stunde raus aufs Feld. Wenn du also vorher noch etwas essen möchtest, solltest du jetzt lieber aufstehen und nach unten gehen. Marie wird dir sicher gern ein Frühstück zubereiten.“

„Schon wieder etwas essen?“ Ich runzelte die Stirn. Mein Magen war von gestern Abend immer noch zum Platzen voll. „Was ist mit dir? Isst du nicht mit den anderen?“

„Morgens esse ich normalerweise überhaupt nicht.“ Julian stand auf und streifte sich die hellblauen Jeans über den Oberschenkeln glatt. „Also, was ist jetzt? Stehst du auf oder muss ich doch noch nach einem Ast suchen?“

Ich neigte meinen Kopf und blickte zu ihm hoch. „Nein, nein, bitte keine Waffen. Ich komm ja freiwillig.“

Sein verspielter Gesichtsausdruck nahm plötzlich etwas Verschlagenes an. „Davon gehe ich aus.“

Ich streckte meinen Hals und bestaunte Julian von hinten, als er zurück in sein Zimmer spazierte.

Kapitel 8

Teamwork

In dem Moment, als ich am Fuße der Treppe ankam, tauchte auch meine Mutter gerade aus ihrem Zimmer auf, eingehüllt in einen lila Morgenmantel. Das unerwartete Aufeinandertreffen brachte mich leicht aus der Fassung, daher bog ich links ab und marschierte schnurstracks zur Eingangstür hinaus anstatt, wie ich eigentlich vorhatte, in die Küche. Auf der Terrasse vor dem Haus stand eine Holzbank mit Tisch. Da setzte ich mich hin und ärgerte mich über mich selbst. Wieso nur konnte ich diese Frau nicht einfach ignorieren? Ständig ließ ich mir von ihr die Laune verderben.

Unter mir lag Lou-Lou zusammengerollt wie ein Fell-Himalaya. Sie hob kurz ihren Kopf, um mich mit einem gelangweilten Raunen zu begrüßen. Ich zog schnell meine Beine auf die Bank. Lieber kein Risiko eingehen.

Wenig später kam auch Marie heraus und fragte mich: „Hast du keinen Hunger, Chérie? Ich kann dir eine Tasse Kaffee oder Tee bringen, wenn du möchtest.“

„Nein danke.“ Ich klopfte mir auf den Bauch. „Das fantastische Abendessen von gestern wird mich sicher für ein oder zwei Wochen satt halten.“

Ach du lieber Gott. Hatte ich ihr etwa gerade ein Kompliment für ihre Kochkünste gemacht? Ihr Lächeln bog sich bis zu ihren Ohren. Ich musste in Zukunft echt vorsichtiger sein, mit dem, was ich sagte.

„Na gut. Sollen wir dann raus in die Weingärten gehen?“, schlug sie fröhlich vor.

Ich lehnte mich zur Seite und blickte hinter sie. Bis jetzt waren nur wir beide hier draußen. „Kommt Albert nicht mit raus?“

„Aber natürlich.“ Sie nahm meine Hand und zog mich hoch. „Albert und Julian sind schon vorausgegangen. Dein Onkel ist jeden Morgen bereits mit dem ersten Hahnenschrei auf und kann es kaum erwarten, bis er wieder hinaus aufs Feld gehen kann. Er liebt diese Weinberge über alles.“

Er war bereits draußen? Julian auch? Seltsam, dass er sich gar nicht um meine Mutter kümmerte. Wahrscheinlich hatte er aber kurz nach ihr gesehen, während ich noch oben war und mich für den Arbeitstag vorbereitet hatte. Immerhin hatte ich beinahe zehn Minuten gebraucht, um ein dunkelgraues T-Shirt und eine schwarze Hose aus Maries Kleidern auszuwählen.

Eigentlich wollte ich ja erst meine eigenen Sachen anziehen, doch dann dachte ich daran, dass sie bei der Arbeit in den Weinbergen vielleicht schmutzig werden würden. Sie sollten nett aussehen, wenn ich heute Nacht abhauen würde. Na ja, so gut es halt ging, wenn man von dem Loch im Hosenbein mal absah.

Marie schlang ihren Arm um meinen, und wir spazierten los, den schmalen Weg entlang, der vom Haus rüber zu den Gärten führte. „Allez, Lou-Lou!“, rief sie über ihre Schulter.

Mit einem weiten Gähnen erhob sich der Koloss und trottete neben mir her. Ich drängte mich etwas dichter an meine Tante, doch sie versicherte mir, dass der Bernhardiner zahm war wie ein kleines Kätzchen. „Ich glaube, ein Eichhörnchen war bisher das größte Tier, mit dem sie sich jemals angelegt hat. Und selbst da ergriff unsere Lou-Lou die Flucht.“

Ein Eichhörnchen? Ich lachte heiser. Wenn Lou-Lou auf den Beinen stand, ging sie mir bis zu den Hüften. Sie stupste meine Finger mit ihrer feuchten Schnauze an und schob dann ihren Riesenschädel unter meine Hand. Vermutlich wollte sie gestreichelt werden. Etwas zittrig kraulte ich ihr zotteliges Fell im Nacken. Fühlte sich nett an. Beinahe flauschig. Und ihren Kopf hatte sie bisher auch noch nicht gedreht, um mir die Hand abzubeißen. War wohl ein gutes Zeichen.

Je näher wir zum Eingang der Weinberge gelangten, umso zappeliger wurde ich. Der Duft von jungen Weinreben wehte um mich. Alles roch so … grün. Und saftig. Ich lief etwas schneller. Da mich Marie nicht loslassen wollte, zog ich nun sie hinter mir her und nicht mehr umgekehrt. Die Weingärten lagen vor uns ausgebreitet, noch viel größer und weiter als die Landebahn am Flughafen. Sie reichten wohl eine Meile in beide Richtungen. Kies und Schottersteine knirschten unter meinen Schuhsohlen, als ich mich wie ein kleines Mädchen im Kreis drehte und die Schönheit dieses Ortes in mich aufsog. Tausende kleine Reben standen wie Zinnsoldaten in Reih und Glied. Sie reichten mir gerade mal bis zum Kinn.

„Wahnsinn!“, sagte ich und staunte nicht schlecht.

„Es überrascht mich nicht, dass es dir hier gefällt, Jona.“ Marie grinste mich an. „Hier in Frankreich sagt man: Entweder hasst du die Weinberge oder du liebst sie dein Leben lang. In deinem Fall würde ich sagen, es liegt dir im Blut, dass du dich mit den Weinbergen verbunden fühlst.“

Es lag mir im Blut? Komische Wortwahl. Und doch hatte es nur eine Sekunde gedauert, bis sich dieser unglaubliche Ort mit mir verbunden hatte. Oder ich mich mit ihm. Unsichtbare Wurzeln schienen mir aus den Fußsohlen zu wachsen und sich tief in der Erde hier zu verankern. Ein angenehm warmes Gefühl in mir drin versuchte mir weiszumachen, dass ich endlich heimgekommen war.

Reiß dich zusammen, Dummkopf. Das ist feindliches Gebiet.

Ich streckte mein Rückgrat durch. Meine Gesichtsmuskeln verhärteten sich. „Was soll ich zuerst machen?“ Durch meine eiskalte Stimme distanzierte ich mich emotional sowohl von meiner Tante als auch von den Weingärten.

„Hmm, mal überlegen.“ Marie tippte sich mit einem Finger auf die Lippen. „Du könntest Julian fragen, ob er Hilfe mit dem Dünger braucht.“

Ich verfolgte die Richtung ihrer ausgestreckten Hand. Gut vierzig Meter von uns entfernt griff Julian immer wieder in einen Eimer, den er bei sich trug, und streute weißes pudriges Zeug ohne viel Bedacht unter die Büsche. Sah nicht allzu schwierig aus. Ich konnte das sicher auch.

Lou-Lous Pfoten stampfen neben mir, als ich rüber zu Julian joggte. Während ich so meine Probleme hatte, durch die beiden Drahtseile zu klettern, die entlang der Weinrebenreihen gespannt waren, um diese aufrecht zu halten, kroch Lou-Lou einfach unten durch.

Sieben Reihen weiter begrüßte mich Julian mit einem herzlichen Lachen. „Sieht so aus, als hättest du eine neue beste Freundin gefunden.“

„Oder sie will einfach ihre nächste Mahlzeit nicht aus den Augen verlieren“, murmelte ich und behielt den Bernhardiner dabei stets im Blickfeld.

Julian stellte seinen Eimer auf den Boden und zog die Nase hoch. „Ich hab dich gestern mit dem Blödsinn über den Hund ziemlich erschreckt, nicht wahr?“

„Nein, hast du nicht.“ Ich streckte ihm die Zunge raus. „Aber ich denke, du schuldest mir eine Entschuldigung schon alleine dafür, dass du es versucht hast.“ Meine Hände auf die Hüften gestützt, wartete ich darauf, dass Julian sagte: Es tut mir leid.

Er fing langsam an zu grinsen. „Ja. Genau.“

Mein Ego stampfte mit seinem unsichtbaren Fuß. „Das klang nicht gerade wie eine Entschuldigung.“

Er nahm den Eimer und ignorierte meine Beschwerde einfach, als er sich wieder an die Arbeit machte. Ich folgte ihm, wobei mir sein Schmunzeln wieder mal echt auf die Nerven ging. „Marie hat gesagt, ich soll dir helfen bei … na ja, bei was auch immer du hier tust.“ Ich winkte mit einer Hand in die Richtung des Pulvers, das Julian großzügig um die Büsche herum verteilte.

„Und ich dachte schon, du hast Gefallen an mir gefunden, weil du mir so nett hinterher dackelst.“

Ich prustete empört und fiel ein paar Schritte zurück.

„War nur ein Scherz, Jona.“ Julian deutete mir mit einem Kopfnicken an, dass ich ihm weiter folgen sollte. „Jetzt komm schon. Ich weiß ja, dass du nur hier bist, um zu arbeiten.“ Sein Lachen klang warmherzig und süß. Er hatte mich wohl wirklich nur aufgezogen.

Ich holte zu ihm auf. „Na schön. Was genau soll ich also machen?“

Er reichte mir den halbleeren Eimer. „Für den Anfang bestäubst du mal hier die Wurzeln mit diesem Mineralpulver. Ich hol inzwischen einen zweiten Eimer.“ Elegant sprang er über die zwei Reihen Draht links neben uns und lief zu einem großen weißen Container. Lou-Lou jagte ihm mit aufgewecktem Gebell nach, doch bereits nach wenigen Metern schlug sie einen Haken und verfolgte lieber einen kleinen Vogel durchs Feld. Während Julian einen zweiten Eimer mit diesem Mineralzeugs füllte, schob ich erst mal meine Hand tief in das weiße Mehl und ließ es durch meine Finger rieseln. Wozu das Zeug wohl gut war? Ich streute eine Handvoll auf den Boden und versuchte damit einen hübschen Kreis um eine Rebe zu formen.

„Du musst damit nicht so übergenau sein“, sagte Julian hinter mir und warf selbst wieder Pulver auf die dunkle Erde auf der anderen Seite des schmalen Trampelpfades. „Mit dem nächsten Regen wird der Dünger eingeschwemmt und die Wurzeln können sich die Mineralien aus dem nassen Boden saugen.“

Ich blickte nach oben in den wolkenlosen Himmel. „Sieht heute nicht unbedingt nach Regen aus.“

„Dann wird die Sprinkleranlage den Job übernehmen.“ Er zwinkerte mir zu und streute weiter.

Sogar nachdem er sich bereits von mir weggedreht hatte, starrte ich ihn immer noch an. Mein Herz schlug einen Buschtrommelrhythmus. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie solch kleine Gesten von seiner Seite bei mir so heftige Reaktionen hervorriefen. Er schaffte es, dass ich mehr von seiner Aufmerksamkeit haben wollte. Sehr viel mehr.

Ich lockerte meine Schultern und verdrängte diesen furchtbaren Gedanken so schnell es ging wieder. Dann streute auch ich weiter. Der Boden des Eimers war bereits in Sicht, als plötzlich der Kies hinter mir unter schnellen, schweren Schritten knirschte. Ich drehte mich um und sah diese kleine Frau, die wie ein Teekessel aussah, auf mich zustürmen. Vor Schreck ließ ich den Kübel fallen.

Ihr Haar war beinahe weiß, nicht länger als mein kleiner Finger und kräuselte sich in unzähligen Ringelschwänzchen auf ihrem Kopf. Sie zog ihre Oberlippe in einem weiten Lächeln zurück, wobei eine Reihe gesunder, jedoch schiefer Zähne zum Vorschein kamen. Wie versteinert blickte ich ihr in die türkisgrünen Augen, die von Falten umrahmt waren.

„Ah, Jona!“, rief sie erfreut, wobei mein Name aus ihrem Mund wie Schonaah klang. Die Arme weit ausgebreitet, sang sie in lustigem Französisch: „Je suis très heureuse de faire ta connaisance!“

Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was die Alte von mir wollte.

Plötzlich zog sie mich in eine herzliche Umarmung. Mein Körper passte sich ihrem runden Bauch wie ein Fragezeichen an. Sie schwenkte mich ein paar Mal hin und her und presste mir dabei sämtliche Luft aus den Lungen. Sprachlos und leicht panisch klammerte ich mich an ihren Schultern fest, damit sie uns nicht noch beide mit ihrem Enthusiasmus umwarf.

Erst als sie mich wieder losließ, brachte ich ein heiseres „Hallo“ heraus.

Der Teekessel quasselte weiter auf Französisch. Irgendwann schnappte ich dann den Namen Valentine auf und nahm einfach mal an, sie wolle sich mir vorstellen. Ganz offenbar wusste sie ja meinen Namen, auch wenn es an der Betonung scheiterte, also brauchte ich nicht viel zu sagen. Sie umarmte mich noch einmal und huschte dann davon.

„Das. War. Seltsam“, murmelte ich und versuchte mich wieder einigermaßen zu fangen.

Julian zog neben mir gerade ein schiefes Grinsen auf. „Um es grob zu übersetzen, Valentine hat sich gefreut, dich kennenzulernen, und sie spricht nur Französisch.“

Ich neigte meinen Kopf leicht schief und spiegelte sein Grinsen. „Nein wirklich? Darauf wär ich jetzt echt nicht gekommen.“

Er legte seinen Arm um meinen Hals, und ich spürte, wie sein Körper vor Lachen bebte, als er mich vorwärts zog. Sein angenehmer Duft nach Ozean und Wind übertönte sogar den intensiven Geruch der jungen Reben.

Die klitzekleinen Härchen an seinem Unterarm kitzelten mich am Kinn. Da erst wurde mir so richtig bewusst, wie nahe er mir wirklich gekommen war. Seite an Seite gepresst sickerte seine Körperwärme zu mir durch. Ich fühlte mich viel zu wohl in seinem Arm. Einen Moment lang spielte ich sogar mit dem Gedanken, meinen Kopf einfach an seine Schulter zu lehnen. Der Gedanke war es dann aber auch, der mich wieder wachrüttelte. Ich hob mein Kinn und blickte ihm in die fröhlichen blauen Augen, ehe ich mich aus seiner Umarmung wand.

Er war nicht mein Freund. Das hieß, wir sollten uns keinesfalls so nahe sein. Und was noch viel wichtiger war, ich sollte mich dabei um Himmels willen nicht so unglaublich gut fühlen.

Julian wurde still. Und trotzdem wusste ich genau, was er jetzt dachte. Ist es wirklich so schlimm?

Es war viel zu schön. Das war ja grade das Problem.

Sein Blick fiel auf meinen Kragen. „Hoppla.“

„Was ist?“ Ich zog an meinem T-Shirt und blickte nach unten. Julian hatte einen weißen Handabdruck auf meinem V-Kragen hinterlassen. Ich wollte es sauber klopfen, doch Julian kam mir zuvor und wischte wild drauf herum. Leider war er aber keine sehr große Hilfe, denn abgesehen davon, dass er mich damit total überraschte und ich beinahe meine Zunge verschluckte, verwischte er nur die Abdrücke seiner Finger zu einem staubigen weißen Fleck.

„Lass das. Du machst es nur noch schlimmer.“ Ich scheuchte zwar seine Hand weg, musste aber selber dabei lachen. „Jetzt hast du mein Shirt ruiniert.“

Der Blödian grinste nur. „Mach dir keine Sorgen. Ein T-Shirt kann man ja Gott sei Dank waschen.“ Er tippte mit seinem staubigen Finger auf meine Nase und setzte dann seinen Gang mit dem weißen Zeug fort.

„Ach ja?“ Ich tauchte meine Hand tief in den Mineralstaub und tanzte vor Julian. „Dann kann man das doch sicher auch waschen.“ Mit einem fetten Grinsen auf den Lippen drückte ich meine Handfläche fest gegen seine Brust. Ein netter weißer Händeabdruck leuchtete nun auf seinem dunkelblauen T-Shirt.

Julian wirkte überhaupt nicht überrascht und er wischte sich den Fleck auch nicht weg. Stattdessen machte er einen bedrohlichen Schritt auf mich zu und lehnte sich zu meinem Ohr. Dabei konnte ich seine Wange an meiner spüren und mir wurde schwindlig.

„Ich schätze mal, du würdest mich erschießen, wenn ich das bei dir täte“, murmelte er. Dann fasste er mir mit einer Hand an den Hintern und zog mich fest an sich. Oh fuck, mir blieb fast das Herz stehen. „Aber keine Angst, Prinzessin. Das kriegst du zurück.“

Wenn ich in diesem Moment klar bei Verstand gewesen wäre, hätte ich geschworen, dass er gerade meine Schläfe mit seiner Nasenspitze liebkoste. Mein Herz schlug wie verrückt. Im nächsten Moment ließ er mich los und machte mit seiner Arbeit weiter, als wäre nichts passiert.

Ich allerdings brauchte einen Moment, um mich zu fangen. Als auch endlich meine Knie aufgehört hatten zu wackeln, setzte ich meinen Gang fort, zog es aber vor, diesmal etwas mehr Abstand zu Julian zu halten.

Während der nächsten halben Stunde redeten wir so gut wie nichts miteinander. Erst als mein Eimer völlig leer war, füllte Julian ihn mir wieder auf und sagte dann: „Kannst du hier kurz alleine weitermachen?“

„Klar.“ Ich runzelte die Stirn. „Wohin gehst du?“ Ich wollte nicht, dass er mich hier draußen alleine zurückließ.

„Ich komm gleich wieder. Mach du inzwischen diese Reihe fertig, und wenn ich zurück bin, mach ich die andere Seite.“ Er marschierte los noch bevor ich etwas antworten konnte. Offenbar wollte er zurück zum Haus und sein Tempo wurde dabei stetig schneller. Hatte er etwas vergessen?

Ich schüttelte den Kopf und machte mich wieder an die Arbeit. Aber ohne ihn war das Pulverstreuen ganz schön langweilig. Ich hatte etwas mehr als fünfzig Meter geschafft, als Marie mich aufstöberte. Bei ihr war ein Mann mit schockierend rotem Haar und einer großen Knollnase.

„Das ist Henri“, stellte sie ihn mir vor.

Er reichte mir die Hand und meine eigene verschwand in seinen langen, schwieligen Fingern. Valentine so klein und rund und dieser Kerl so groß und dünn wie eine Bohnenstange – die beiden ergaben echt ein lustiges Paar.

„Hallo Henri“, sagte ich und versuchte dabei seinen Namen so auszusprechen, wie Marie es getan hatte. Ou-Rie.

Er lächelte freundlich. Aus seiner nicht gerade übermäßigen Redseligkeit schloss ich, dass er ebenfalls nur Französisch sprach. Cool. Eine weitere Person, mit der ich mich nicht unterhalten musste, obwohl er und seine Frau ja schon irgendwie nett wirkten.

Ich wollte gerade zurück an die Arbeit gehen, da hörte ich Maries heiteres Lachen hinter mir und drehte mich noch einmal um.

„Jona“, brachte sie mit knapper Müh und Not heraus. „Was ist denn das auf deinem Hintern?“

„Wie? Was meinst du?“ Ich verrenkte meinen Nacken, um einen Blick auf meinen Po zu werfen. Erst auf einer Seite, doch da war nichts. Dann die andere. Huch! Da war ein verräterischer weißer Handabdruck von Julian auf meiner Arschbacke. Der fiese Sack hatte also wirklich seine Rache bekommen. „Dafür mach ich ihn einen Kopf kürzer“, brummte ich mit hochrotem Gesicht in mich hinein, als ich den Staub von meiner Jeans abklopfte.

Julian kam erst nach einer halben Stunde zurück aufs Feld. Bis dahin war der Großteil meines Ärgers bereits verflogen. Ich erwähnte den Handabdruck gar nicht erst, doch Julian hatte sicher gemerkt, dass er weg war, als er mir einmal kurz unschuldig auf den Hintern sah. Als ich ihn dabei erwischte, verkniff er sich ein Grinsen.

Mit der Flasche kalten Mineralwassers, die er mir mitgebracht hatte, war alles wieder in Ordnung. „An so heißen Tagen ist es wichtig, dass du viel trinkst. Sonst bekommst du noch einen Hitzschlag“, warnte er mich und nahm einen Schluck aus seiner eigenen Flasche.

Bis zum ersten Schluck hatte ich gar nicht gemerkt, wie durstig ich wirklich war. Doch als ich erst einmal angesetzt hatte, konnte ich kaum noch aufhören und trank die halbe Flasche in einem Zug leer.

Der Morgen verging wie im Flug. Beinahe zu schnell. Und ehe ich mich versah, rief uns Marie zum Mittagessen.

„Geh schon mal vor“, sagte Julian. „Ich komme in ein paar Minuten nach. Dein Onkel braucht noch kurz Hilfe mit dem Bodenscanner.“

Lustigerweise wusste ich genau, wovon er sprach. Es handelte sich dabei um ein kleines Gerät, das Ähnlichkeit mit einem Taschenrechner hatte und das Albert den ganzen Morgen lang mittels eines angehängten Stifts hier und da in die Erde gesteckt hatte, um dann irgendetwas von dem kleinen Display abzulesen. Winzer verwendeten echt cooles Zeug.

Ich lief hinter Marie her und freute mich über die schattige Abwechslung, als wir am Haus ankamen. Da ich heute Morgen das Frühstück ausgelassen hatte, gab nun auch mein Magen ein verhungertes Knurren von sich. Ich wusch mir schnell die Hände und setzte mich dann an den Tisch.

Es dauerte nicht lange, da kam auch der Drache aus seiner Höhle und setzte sich zu mir. Dieses Mal war sie aber clever genug, nicht den Platz direkt neben mir zu wählen. Stattdessen sank sie in den Stuhl mir gegenüber. Unter ihren Augen waren wieder dunkle Ringe, und ihre Hände zitterten ein wenig, als sie nach ihrem Glas griff.

Sie nahm einen Schluck daraus und beobachtete mich dabei über den Rand hinweg. Um keine Schwäche zu zeigen, hielt ich ihrem Blick mit einem grimmigen Gesichtsausdruck stand. Wer zuerst wegguckt verliert! Und das würde sicher nicht ich sein.

Unglücklicherweise brachte sie der Augenkontakt auf die dumme Idee, sie könnte eine Unterhaltung mit mir anzetteln. „Wie gefallen dir die Weinberge? Julian meinte vorhin, du hättest eine Menge Spaß draußen.“

Julian meinte? Na prima. Er war also zu ihr gelaufen, als er mich heute Vormittag mal für eine halbe Stunde alleingelassen hatte. Verdammt, ich hätt’s mir aber auch denken können. Ein kleiner Funken Eifersucht entzündete schließlich die Bombe aus Zorn in mir darüber, dass sie überhaupt mit mir redete. „Der Richter hat mich hier hergeschickt, um Strafarbeit zu leisten. Und genau das mache ich. Nicht mehr und nicht weniger.“ Ich stand auf, um mir etwas zu trinken zu holen. Manchmal war es doch der klügere Schachzug auszuweichen – was immer nötig war, um sie zum Schweigen zu bringen.

Während ich mir Wasser aus der Leitung ins Glas laufen ließ, schlich sich Marie an und legte mir einen Arm um die Hüften. „Wirklich? Nicht mehr als Strafarbeit?“, flüsterte sie mir mit einem Schmunzeln zu. „Und ich habe gedacht, ich hätte dich lachen gehört.“

Ich funkelte sie von der Seite an, doch es half nichts. Ihr Strahlen war wohl in ihrem Gesicht angewachsen. Wieso musste sie nur so liebenswert sein?

Mit dem Glas in der Hand setzte ich mich zurück an den Tisch. Charlene senkte ihren Blick auf ihre knochigen Finger. Ihr Rücken war gekrümmt, ihre Schultern hingen nach unten. Sie sah aus, als könnte sie kaum noch ihren Kopf hochhalten. Ich konnte mich nicht erinnern, sie in den vergangenen Tagen jemals so zerschlagen gesehen zu haben.

Völlig unverblümt gaffte ich sie an, tief in Gedanken versunken. Plötzlich schnellte ihr Kopf in die Höhe. Total erschrocken schnappte ich kurz nach Luft. Durch ihre eingefallenen Wangen sah sie auf einmal unheimlich aus, als sich ein kleines, glückliches Strahlen um ihre Augen abzeichnete. Meine Mutter begann zu lächeln. Gott, jetzt machte sie mir richtig Angst. Meine Muskeln spannten sich an wie Drahtseile. War sie verrückt geworden? Sie sah aus, als wollte sie mich jeden Moment umarmen.

Wilde Panik packte mich. Lauf um dein Leben! Meine Beine bewegten sich unterm Tisch schon in Fluchtrichtung. Doch in diesem Moment wurde mir klar, dass sie gar nicht mich ansah, sondern vielmehr durch mich hindurch. Rüber zur Tür. Immer noch unter Schock stehend, drehte ich mich langsam um, doch hinter mir war niemand. Die Tür war zu.

Aber nicht mehr lange. Nur eine Sekunde später wurde die Türklinke nach unten gedrückt und Julian spazierte herein. Sein ernstes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als sein Blick zu Charlene wanderte. Das erste Lächeln galt ihr. Das zweite bekam ich ab.

Ich konnte mir nicht erklären, was hier gerade vor sich ging, aber etwas stimmte ganz und gar nicht.

„Oh, hier seid ihr ja endlich“, unterbrach Marie die angespannte Stimmung und küsste Albert, der hinter Julian die Küche betrat, auf die Wange. „Dann können wir jetzt ja essen.“

Die beiden Männer setzten sich an den Tisch, Julian neben mich. „Du hast einen leichten Sonnenbrand bekommen“, meinte er und fuhr mir sanft mit dem Fingerknöchel über die Wange.

Ich zuckte zurück und grollte angewidert. Seine Hand sank auf den Tisch. Offensichtlich beleidigt musterte er mich mit schmalen Augen.

Maries Lasagne roch fantastisch, doch irgendwie hatte ich soeben meinen Appetit verloren. Ich stocherte mit der Gabel in meinem Essen herum, brachte aber nicht viel hinunter.

Meine Tante legte mir nach einer Weile eine Hand auf den Arm. „Was ist los, Liebes? Hast du gar keinen Hunger?“

Die kleinen Härchen in meinem Nacken sträubten sich, als ich auch Julians fragenden Blick auf mir spürte. Vielleicht ahnte er ja, dass er der Grund war, warum ich keinen Bissen mehr runterbrachte.

Sei nicht albern. Woher sollte er das wissen? Ich konnte es mir ja selbst kaum erklären. Eifersüchtig auf seine Beziehung mit meiner Mutter zu sein fühlte sich so derartig falsch an. Aber was sollte ich dagegen machen?

„Ist vermutlich nur die Hitze“, murmelte ich.

„Aber natürlich. Du bist einfach das Klima hier in Frankreich noch nicht gewöhnt“, erwiderte Marie. „Was hab ich mir nur dabei gedacht, dich so lange auf dem Feld arbeiten zu lassen.“ Sie tätschelte meine Hand. „Du bleibst am Nachmittag wohl lieber im Haus.“

Allein mit dem Drachen? Niemals! Ich würde ihr nicht noch mal die Gelegenheit bieten, um mich herumzuschwänzeln und mich in ein Gespräch zu verwickeln. Lieber fiel ich in der Hitze tot um. „Mir geht’s gut. Ich möchte lieber wieder mit euch rauskommen.“

Außerdem war dies mein letzter Tag hier und den wollte ich unbedingt in den wunderschönen Weinbergen verbringen, bevor ich die Festung nachts verließ. Ziel: unbekannt.

„Na schön. Aber sag früh genug Bescheid, wenn es dir zu viel wird“, warnte mich meine Tante in ihrem stets lieblichen Akzent. Sie drückte meine Hand noch einmal kurz und aß dann weiter.

Um Julians Blicken auszuweichen, lockerte ich meine Strähnen hinter meinem Ohr und versteckte mein Gesicht hinter einem Vorhang aus meinem Haar. Als alle mit dem Mittagessen fertig waren, half Julian meiner Mutter zurück in ihr Bett. Dies war eine gute Gelegenheit, um in der Halle kurz mit Marie unter vier Augen zu sprechen. „Was war das, was du und Valentine heute Morgen gemacht habt? Als ihr die Büsche ausgerissen habt.“

Marie lachte. „Wir haben nicht die Weinreben ausgerissen, sondern nur Unkraut gezupft. Diese kleinen Pflanzen saugen sonst den Reben die ganzen Mineralien weg.“

„Kann ich euch dabei helfen?“

„Natürlich. Aber es ist langweilige Arbeit. Möchtest du nicht lieber wieder mit Julian unterwegs sein? Ich dachte, ihr hattet viel Spaß zusammen. Er hat dich gerne um sich.“

Und vielleicht hatte ich ihn auch lieber um mich, als gut für mich war. Doch es war eine dumme Idee, jemanden zu nahe an mich heranzulassen, der leider auch mit einem bestimmten Drachen unter einer Decke steckte. Tatsächlich war es überaus dämlich, irgendjemanden in diesem Haus zu nahe an mich ranzulassen. Ein kleiner Hauch Bedauern überkam mich bereits jetzt bei dem Gedanken, heute Nacht abzuhauen, ohne Marie Auf Wiedersehen zu sagen.

Verdammt, es war echt höchste Zeit für mich, die Kurve zu kratzen.

Ich seufzte unfreiwillig. „Ich würde lieber mit dir arbeiten als mit Julian.“

Ausgerechnet diesen Moment suchte sich Julian aus, um aus dem Zimmer meiner Mutter zu kommen. War ja klar, oder? Mir blieb entsetzt der Mund offen stehen. Ich erschauderte unter seinem Blick, und meine Schultern verkrampften sich, als er die Tür hinter sich zuknallte. Der Muskel in seinen Wangen zuckte, als er offenbar mit den Zähnen hinter geschlossenen Lippen knirschte.

Langsam kam er auf mich zu. Ich atmete etwas schneller, denn ich war sicher, er würde mir gleich eine fiese Bemerkung an den Kopf werfen. Doch das tat er nicht. Er ging einfach an mir vorbei und weiter zur Eingangstür.

„Marie, sieh zu, dass sie ihr Gesicht mit Sonnenmilch eincremt, bevor sie wieder rausgeht.“ Sein eiskalter Ton traf mich tief.

Kapitel 9

Ich wollte gar nicht spionieren

Die zierlichen Blätter der Weinrebe wiegten sich vor mir im Wind hin und her. Der angenehm saftige Duft stieg mir in die Nase, während der Dreck mir unter die Fingernägel kroch. Meine Handflächen waren schon ganz rot vom ständigen Gras- und Unkrautzupfen. In meinem gekrümmten Rücken protestierte jeder einzelne Muskel bei der kleinsten Bewegung.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut aufzuschreien oder gar den kleinen Stichspaten beiseite zu schleudern und in den Schatten zu kriechen, wo ich mich ausruhen konnte. Jede Minute kam mir mittlerweile wie Stunden vor und mein Körper verlangte nach einer Pause.

Beiß die Zähne zusammen, Montiniere!

Der Schmerz in meinem Rücken schien etwas nachzulassen, solange ich mich selbst irgendwie ablenkte, also nutzte ich die Gelegenheit, um mir für kommende Nacht einen Fluchtplan zurechtzulegen. Ich würde meine paar Habseligkeiten in meinen Rucksack packen und dann ein kleines Nickerchen machen bis, na ja, sagen wir mal Mitternacht. Bis dahin sollten auch alle anderen bereits eingeschlafen sein und niemand würde meine Flucht bemerken.

Die ersten paar Meilen könnte ich zu Fuß laufen oder vielleicht sogar per Anhalter fahren. Ohne einen Cent in der Tasche standen mir ja nicht viele Möglichkeiten offen. Um mir ein Flugticket kaufen zu können, würde ich einfach ein paar Leute am Flughafen um ein wenig Taschengeld erleichtern. Das war vielleicht kein grandioser Einfall, doch immer noch besser als die Alternative – nämlich Geld von Marie und Albert zu stehlen.

Es war nicht nur mein Versprechen an Quinn, das mich von Letzterem abhielt, sondern der Gedanke daran, wie enttäuscht meine Tante morgen sein würde, wenn sie es herausfand.

Ein flüchtiger Blick rüber zu Marie brachte mich auf die Idee, ihr einen Abschiedsbrief zu schreiben. Obwohl ich nicht vorhatte, ihre geliehenen Kleider mitzunehmen, wollte ich mich doch für ihre Gastfreundschaft und das gute Essen bedanken. Je länger ich darüber nachdachte zu verschwinden, umso schlimmer quälte mich mein Gewissen. Irgendwann gab ich auf und verdrängte den Gedanken daran komplett. Stattdessen ließ ich den Schmerz in meinem Rücken wieder die Kontrolle übernehmen. Dieses Gefühl war leichter zu ertragen, wenn auch nicht für lange. Letztendlich schmiss ich das Handtuch und mein Hintern sank auf den Boden.

„Die Arbeit sieht von Weitem leichter aus, nicht wahr?“, meinte Marie verständnisvoll. „Du solltest eine Pause machen und etwas trinken.“

Sie hatte recht. Mein Mund und Hals waren staubtrocken. Ich griff nach der Wasserflasche neben mir und setzte sie an meine Lippen. Oh Mann, war das gut. Im Schneidersitz verharrte ich im Schatten und beobachtete meine Tante eine Weile, wie sie mit unzerbrechlicher Leidenschaft weiter das Unkraut rund um die Reben aus der Erde zog. Ihre Liebe zu den Weinbergen war beinahe greifbar.

Ich fragte mich, was wohl mit ihrer Liebe und Unterstützung aus mir geworden wäre. Vielleicht würde ich sogar aufs College gehen. Meine Tage als krimineller Teenager hätte es wohl niemals gegeben. Schade, dass ich in der Gosse gelandet war anstatt in der Obhut meiner Tante. Aber warum war sie nicht gekommen und hatte mich zu sich geholt?

Ich nahm all meinen Mut zusammen und sagte schließlich: „Marie?“

Ihre schmutzigen Hände ließen das Büschel Löwenzahn los und sie drehte sich zu mir. Ich räusperte mich, doch Worte kamen trotzdem keine aus meinem Mund.

„Was ist los, Jona?“, fragte sie sanft. Das leichte Zittern meiner Finger blieb ihr offenbar nicht verborgen.

Ich versuchte, den Kloß in meinem Hals, der mich daran hindern wollte, die Wahrheit herauszufinden, runterzuschlucken. „Es sieht so aus, als wärst du froh darüber, dass ich ein paar Wochen bei euch leben muss. Und dann all die netten Sachen, die du mir geliehen hast …“ Händeringend senkte ich meinen Blick. „Warum hast du mich damals nicht bei dir aufgenommen, als Charlene mich einfach abgeschoben hat? Warum musste ich ins Kinderheim?“

Marie steckte ihren Spaten in die aufgewühlte Erde und wischte sich die schmutzigen Finger an ihrem T-Shirt ab. Dann rutschte sie auf den Knien zu mir rüber und nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Liebes, ich hätte dich in der ersten Sekunde nach Frankreich geholt. Ein Kinderheim ist kein guter Ort für ein kleines Mädchen.“

Aber wo hatte sie dann die letzten zwölf Jahre gesteckt? Die Hacken meiner Stiefel gruben sich in den Boden. „Warum hast du mich nicht abgeholt?“

„Weil ich nicht die geringste Ahnung hatte, dass es dich gibt, Chérie.“ Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es selbst nicht glauben. Aber was sagte sie da? Sie war Charlenes Schwester. Meine Mutter hatte mich doch sicher nicht vor ihrer Familie geheim gehalten. Oder etwa doch?

Tante Marie nahm meine Hand und drückte sie fest. „Deine Mutter war gerade mal neunzehn Jahre, als sie diesen Soldaten aus England kennenlernte. Sein Name war Jake oder Jack, glaube ich. Seinen Nachnamen hat sie mir nie verraten. Charlene war bis über beide Ohren verliebt und fest entschlossen, mit ihm nach Großbritannien zu gehen. Unsterbliche Liebe … ich glaube, das waren ihre Worte.“ Marie seufzte tief. „Arme Charlene.“

Meine Mutter war also verliebt gewesen, na und?

„Unsere Eltern hatten tagelang versucht, sie zur Vernunft zu bringen und ihr die Sache auszureden. Ich hörte sie oft miteinander streiten. Doch Charlene wollte von alledem nichts hören. Und weil unsere Eltern so sehr dagegen waren, lief sie eines Nachts heimlich davon. Sie hatte uns nur einen kurzen Brief hinterlassen, in dem stand, dass wir nicht nach ihr suchen sollten, denn sie würde nie wieder in dieses Haus zurückkehren.“

Meine Kinnlade klappte nach unten. Charlene war abgehauen? In ein fremdes Land noch dazu? Sie war wohl mutiger, als ich ihr zugetraut hätte. „Wie ging es mit ihr weiter?“

„Nach etwa einem Monat bekam ich den ersten Brief von meiner Schwester. Sie schrieb mir, dass es ihr gut gehe, dass sie Arbeit gefunden habe und in eine kleine Wohnung gezogen sei.“ Der Ausdruck in Maries Augen wurde immer trauriger. „Ich glaube, über all die Jahre habe ich fünf oder sechs Briefe von ihr erhalten. Sie hatte niemals einen Absender auf das Kuvert geschrieben, somit konnte ich ihr auch nie antworten. Es war für uns alle furchtbar, nicht zu wissen, wo sie steckte. Doch sie war erwachsen. Was sollten wir also tun? Das Schlimmste an der Sache war, dass ihr meine Eltern niemals verziehen haben. Sie starben beide vor vier Jahren. Charlene haben sie seit damals nicht wiedergesehen.“

Wow. Das war hart. Ich fragte mich, ob meine Mutter wohl traurig gewesen war, als sie vom Tod ihrer Eltern erfahren hatte. „Wie kam es dazu, dass sie nun bei dir und Albert lebt?“, wollte ich weiter wissen.

Marie saß mir gegenüber, kreuzte die Knöchel und umschlang ihre Knie mit ihren Armen. „Vor zwei Monaten stand sie plötzlich vor meiner Tür. Sie sah furchtbar aus, todkrank und völlig abgemagert. Sie brauchte dringend Hilfe.“

Ich kannte Marie zwar erst seit zwei Tagen, doch es war klar, dass sie Charlene noch im selben Moment vergeben hatte und sie, ohne zu zögern, in ihr Haus aufnahm – so wie sie es bei mir auch gemacht hatte. Dafür konnte ich Marie nur bewundern.

„Weißt du etwas über ihr Leben in England?“, fragte ich, um die seltsame Stille, die über uns hereingefallen war, zu brechen.

„Ich kann dir nur erzählen, was sie mir damals erzählt hat.“ Marie runzelte die Stirn. „Als sie Frankreich verlassen hat, war sie bereits schwanger. Der Soldat war dein Vater. Sie musste ihn einfach finden. Deinetwegen. Doch er hatte nicht mit einem Baby gerechnet. Und am Ende stand Charlene alleine da.“

Mein Vater. Der Soldat war mein Vater. Und er war nicht bei Charlene geblieben. Ich hatte ihn nie kennengelernt. Er wollte mich nicht. Mein Brustkorb wurde plötzlich zu eng für mein Herz. Mir tat das Atmen weh. Gab es auf dieser Welt denn nicht einen Menschen, der mich bei sich haben wollte?

„Jack ging dann von der Armee aus für einige Jahre nach Amerika“, fuhr Marie leise fort, als sie mein Entsetzen erkannte. „Deine Mutter blieb in England. Sie hatte Angst nach Hause zurückzukehren, mit einem Kind im Arm das unehelich geboren wurde. Besonders nach all den Streitereien mit unseren Eltern. Charlene war sicher, dass sie ein Enkelkind nie akzeptieren würden. Also versteckte sie dich vor uns. Sie hat mir nie etwas von dir erzählt.“ Maries trauriger Blick wurde warmherziger. „Charlene hat sich so sehr geirrt. Wir alle hätten dich sofort in unser Herz geschlossen. Kannst du dir vorstellen, wie überrascht ich war, als sie mir erst vor ein paar Wochen erzählte, was für eine hübsche Nichte ich habe?“

Ihre lieb gemeinten Worte halfen wenig gegen den Ärger, der in mir brodelte, seit sie ihre Geschichte begonnen hatte. Was hatte Charlene im Sinn? Was bezweckte sie damit, mich jetzt hierher zu bringen, wo ich doch meine Zeit im Jugendheim beinahe abgesessen hatte?

Sie hatte von einem Zuhause in Frankreich gesprochen. Richtig. Ein Zuhause, das sie mir achtzehn Jahre lang verwehrt hatte.

Scheiß auf sie und auf das alles hier! Ich würde ihr den Hals umdrehen!

Wieder voll bei Kräften ignorierte ich den stechenden Schmerz in meinem Rücken, stand auf und machte mich auf den Weg rüber zum Haus. Doch Marie hielt mich am Ellbogen fest. „Was ist mit dir?“

Was mit mir los war? Ich drehte mich zu ihr um. „Weil Charlene sich für mich schämte, musste ich fast mein ganzes Leben in einem Kindergefängnis verbringen! Hältst du das etwa für fair?“ Ich riss mich los und lief die lange Zeile von Weinreben entlang. Ihr flehender Ruf hinter mir wurde mit jedem Schritt leiser.

Die brennende Wut in mir presste meine Lungen zusammen, was das Rennen umso schwerer machte. Aber ich kämpfte mich weiter bis zum Garten. Mein Atem fühlte sich an, als würde ich versuchen, wie ein Vulkan Feuer zu speien. Ich kickte die Steine auf meinem Weg zur Seite, die dann in alle Richtungen schossen. Krebs war eine Möglichkeit, meine Mutter loszuwerden, doch heute würde ich dafür sorgen, dass sie den Löffel abgab.

Aber als ich beim Haus ankam, musste ich feststellen, dass mir jemand zuvorgekommen war. Durch die breite Glasscheibe im Wohnzimmer sah ich Charlene auf der Couch liegen und Julian setzte sich gerade zu ihr. Ich stand wie angewurzelt da und hielt sogar den Atem an.

Leichenblass war sie und ihr rechter Arm hing leblos von der Couch. Vorsichtig nahm Julian ihre Hand. Mit der anderen Hand strich er ihr die matten Haarsträhnen aus der Stirn und streichelte dann ihre Wange.

Die beiden in einem intimen Moment zu erwischen stand auf meiner Mach-das-niemals-Liste ganz weit oben. Doch aus irgendeinem Grund konnte ich auch nicht wegsehen. Ich schlich rüber zu der ausladenden Trauerweide im Garten und versteckte mich hinter ihrem dicken Stamm. Dann schielte ich um die Ecke, um herauszufinden, was weiter passierte.

Die Augen meiner Mutter waren geschlossen, doch sie versuchte unter offensichtlicher Anstrengung etwas zu Julian zu sagen. Ich hätte alles gegeben, um zu hören, was sie ihm anvertraute. Julian setzte sein sanftes Streicheln einige Minuten fort. Plötzlich öffneten sich Charlenes Augen weit und richteten sich auf Julians Gesicht. Was sie darin sah, brachte sie aus irgendeinem Grund zum Strahlen. Sie richtete sich etwas weiter auf und lächelte ihn liebevoll an.

Und dann traf es mich wie ein Blitz. Es war gar nicht, was sie in ihm sah, sondern was er mit ihr gemacht hatte, das die Besserung in ihr hervorrief. Das zärtliche Streicheln. Hatte ich nicht gestern genau dieselbe Stimulation von ihm erfahren? Am Flughafen. Und dann auch noch im Flugzeug selbst.

Auf ihre Ellbogen gestützt, wartete Charlene, bis Julian ihr zu einer sitzenden Position verhalf. Ein lebendiges Rot schoss ihr in die Wangen und vertrieb die Leichenblässe. Ihre Augen wurden weiter und verloren ihren glasigen Schimmer. Das Rückgrat, das vor wenigen Minuten noch wie gebrochen gewirkt hatte, richtete sich nun stolz auf. Sie sah glücklich aus. Stark und zufrieden.

Oh. Mein. Gott. Julian war ihr ganz persönlicher Schuss Heroin.

Ich sank mit meinem Rücken gegen die Trauerweide und stieß einen langen Atemzug aus. Was ich gerade beobachtet hatte wirkte so seltsam. Unwirklich. Was war Julians Geheimnis?

Ich lugte noch einmal um den Baum herum. Julian sagte gerade etwas zu meiner Mutter, wobei er ihr Kinn sanft in seine Hand nahm. Dann drehte er sich ohne Vorwarnung zur Seite und sah aus dem Fenster. Er hatte mich entdeckt.

Ich stand unter Schock und konnte mich nicht bewegen. Julian stand von der Couch auf. Sein Blick war eiskalt. Meine Nägel gruben sich in die Rinde des Baumes hinter mir und mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Während er mich in seinem Bann gefangen hielt, vergaß ich völlig, warum ich überhaupt erst hierhergekommen war. Die Welt begann sich um mich zu drehen. Ich musste hier weg. Mit großer Mühe gelang es mir schließlich, meine Augen von ihm loszureißen. Ich drehte im Stand um und marschierte zurück aufs Feld.

Marie sah mich besorgt an, doch ich lief geradewegs an ihr und Valentine vorbei und suchte mir in zwanzig Metern Entfernung einen Platz zum Unkrautjäten. Meine Knie gruben sich in die Erde, als ich den Löwenzahn mit völlig neuem Eifer aus dem Boden riss.

Geheimnisse. Geheimnisse. Was hatte es mit Julian auf sich, dass sich in seiner Gegenwart jeder gleich viel besser fühlte? Ruhiger. Und gesünder. Er konnte die Leute doch kaum mit irgendeinem Zauber belegen. Hypnose vielleicht? Ich schüttelte den Kopf. Erde rieselte von dem Bündel Unkraut, das ich gerade ausgerupft hatte, und ich warf es zur Seite. Mit meinem staubigen Arm wischte ich mir die Schweißtropfen von der Stirn und schnaubte bitterböse durch meine knirschenden Zähne. Verdammt, etwas sehr Seltsames ging hier vor sich.

Und Charlene? Der Drache erstand praktisch von den Toten auf. Wie sie ihn angesehen hatte … total hingebungsvoll. Das war so was von … „Wäh!“ Einfach ekelhaft. Sie war meine Mutter, verdammt noch mal, und somit etwa zweihundert Jahre zu alt für Julian. So etwas durfte einfach nicht sein.

Jemand legte mir eine Hand auf die Schulter. Erschrocken sprang ich auf. „Und warum zum Teufel interessiert mich das überhaupt?!“, brach es aus mir heraus, ehe ich überhaupt realisierte, wer vor mir stand.

Julian trat erschrocken einen Schritt zurück und sah mich verdutzt an. Er zuckte ratlos mit den Schultern.

Ich schnaubte lauter als ein wilder Stier. In mir tobte ein Sturm, und ich wusste nicht, wie ich mich selbst daran hindern konnte, gleich zu explodieren. Doch Julian blieb einfach regungslos stehen. Sein seidiges Haar glänzte golden in der Sonne, seine Augen funkelten wie die Oberfläche eines ruhigen Sees. Innerlich stöhnte ich. Wieso musste er nur so süß dreinschauen?

Oh nein! Diesmal nicht! Er würde mich nicht noch einmal mit seiner alten Taktik verwirren. Im Geiste verpasste ich mir selbst eine Ohrfeige, um wieder zu klarem Verstand zu kommen. Er konnte noch so süß tun, ich würde nicht mehr drauf reinfallen. Sollte er doch seinen Voodoo-Zauber bei jemand anderem abziehen.

„Lass das gefälligst!“, schrie ich ihn an.

„Was meinst du?“

„Hör auf, mich mit deinem Hokuspokus einzuwickeln!“

Sein linker Mundwinkel zuckte nach oben. „Jona, geht’s dir nicht gut?“

Er griff nach meiner Schulter, doch in diesem Moment ging eine schrille Alarmsirene in meinem Kopf los. Ich schlug seine Hand beiseite. „Mir geht’s ausgezeichnet.“ Ich streckte ihm meinen Finger ins Gesicht und machte dabei Schlitzaugen. „Aber ich werde nicht mehr zulassen, dass du mich infizierst … mit diesem, diesem …Glücksgefühl.“

Julian neigte seinen Kopf und stellte mit einer hochgezogenen Augenbraue offenbar meinen Verstand in Frage. „Ich denke du solltest den hier besser aufsetzen.“ Er hielt mir einen Strohhut entgegen. „Ein Sonnenstich ist eine ziemlich fiese Sache.“

Sonnenstich? Hatte er sie noch alle? Ich verschränkte die Arme vor der Brust und knirschte mit den Zähnen.

Da ich den Hut nicht annahm, setzte Julian ihn mir kurzerhand auf den Kopf, drehte sich um und marschierte in die andere Richtung. Ich war wie festgefroren und starrte ihm hinterher. Der Strohhut warf einen angenehmen Schatten über mein Gesicht. Er hatte ihn eigens für mich mitgebracht. Weil er sich um mich sorgte? Mein stählerner Kern drohte zu schmelzen.

Doch das war noch lange keine Entschuldigung für die Beziehung mit meiner Mutter. Und außerdem brauchte ich niemanden, der sich um mich sorgte. Am aller wenigsten ihn. Ich riss mir den Hut vom Kopf und schleuderte ihn Julian wie ein Frisbee hinterher. Der Strohhut traf ihn am Rücken und segelte dann zu Boden. „Ich will deinen dämlichen Hut nicht! Was ich will ist eine Antwort!“

Julian blieb stehen und drehte sich langsam zu mir um. „Eine Antwort?“ Er klang überrascht und arrogant zugleich. Nachdem er den Hut aufgehoben hatte, wischte er den Staub vom Rand, dann sah er wieder mich an. „Und wie genau lautet die Frage, Jona?“

Eine Sekunde verstrich. Zwei. Drei. Julian wartete, doch ich brachte die Worte einfach nicht über die Lippen. Ah, verflucht, wovor hatte ich eigentlich solche Angst? Nach einem weiteren tiefen Atemzug stapfte ich vorwärts, stelle mich auf die Zehenspitzen und blickte ihm todernst in die Augen. „Bist du der Liebhaber meiner Mutter, oder nicht?“

Julians großkotzige Art verschwand in diesem Moment. Er blickte entsetzt über seine Schulter, so als fürchtete er, dass mich jemand gehört haben könnte, schnappte mich dann am Arm und zog mich ein paar Meter weiter … weg von den anderen. Ich stolperte neben ihm her, bis er schließlich stehen blieb und fauchte: „Ich bin vieles, Jona. Aber ganz sicher nicht ihr Liebhaber.“

Ich wartete darauf, dass er endlich meinen Arm losließ, doch stattdessen zog er mich noch weiter zu sich. „Und wenn du aufhören würdest, anderen hinterherzuspionieren, dann würdest du gar nicht erst auf so dumme Gedanken kommen.“

„Ich hab nicht spioniert“, zischte ich zurück und riss meinen Arm los. „Jedenfalls nicht absichtlich.“

„Was bitte hast du denn sonst im Garten gemacht, als ich vorhin nach deiner Mutter gesehen hab?“

„Das geht dich nichts an!“

„Ach so. Aber was ich für eine Beziehung zu deiner Mutter habe geht dich schon etwas an, oder wie?“

„Ja genau! … Nein. … Aah, lass mich einfach in Ruhe.“ Ich fuhr mir aufgebracht mit den Fingern durchs Haar. Es ging mich etwas an. Schließlich redeten wir hier über meine gottverdammte Mutter. „Was hast du überhaupt vor? Willst du mein Stiefvater werden?“ Ein grauenhafter Schauer lief mir bei dem Gedanken den Rücken hinunter.

Julian antwortete nicht. Er zog nur seine Brauen tiefer und sah mich lange eindringlich an. Das war mir unheimlich. Ich wich einen Schritt zurück, doch der kleine Abstand zwischen uns hielt ihn nicht davon ab, meine Gedanken offenbar wieder einmal wie ein Buch zu lesen. Gott, war das nervig.

„Jetzt gib mir schon den verdammten Hut“, maulte ich. Das Stroh knirschte unter meinem festen Griff, als ich ihn Julian aus der Hand riss und mir wieder auf den Kopf setzte. Dann stürmte ich davon. Julian lachte hinter mir, doch das war mir egal. Der konnte mich mal.

Für heute war ich lange genug auf dem Boden gekniet. Ich zog es vor, wieder dieses weiße Pulver zu streuen, also holte ich mir einen Eimer vom Container und setzte die Arbeit von heute Vormittag fort. Ich hatte kaum eine Länge geschafft, als hinter mir der Kies knirschte und ich wusste, dass ich nicht mehr alleine war. Es hatte keinen Sinn zu hoffen, dass es Marie oder Valentine waren. Ich unterdrückte ein verärgertes Grummeln und blickte über meine Schulter. Julian hatte begonnen, die Reben auf der gegenüberliegenden Seite des Weges zu bestreuen.

Er holte rasch auf, doch er wich meinem Blick aus, als wir auf gleicher Höhe waren. Im Gegensatz dazu konnte ich nicht widerstehen, alle paar Schritte einen Blick in seine Richtung zu werfen. Der ausgefranste Saum seiner Hose schleifte im Staub. Ich ließ meinen Blick über seine langen Beine nach oben wandern und dann einen Moment auf seinen schlanken Hüften verharren. Was für ein Anblick. Sein flacher Bauch und seine muskulöse Brust zeichneten sich unter dem dunkelblauen T-Shirt ab. Die kurzen Ärmel spannten sich über seine starken Oberarme. Es juckte mich in den Fingern, diese Muskeln zu fühlen. Bei der Vorstellung wurden meine Wangen plötzlich heiß, und ich drehte meinen Kopf schnell zur Seite, ehe er etwas merkte.

Während wir wieder Seite an Seite arbeiteten, verflog mein Ärger von vorhin, was mir irgendwie Angst einjagte. Es fühlte sich vertrauter und viel sicherer an, auf jemanden böse zu sein, als eine plötzliche Schwäche für dessen Lächeln zu entdecken.

Vielleicht hatte ich mich ja geirrt. Vielleicht war da gar kein Hokuspokus. Was wäre, wenn das alles nur meine völlig verschrobene Art war, mit einer ganz einfachen Tatsache umzugehen? Nämlich damit, dass ich gerade dabei war, diesem Burschen zu verfallen? Und zwar unaufhaltsam.

Das angenehme Gefühl, das ich heute Morgen hatte, als er mich mit meiner Haarsträhne geweckt hatte, kam wieder in mir hoch. Wie konnte er nur in so kurzer Zeit so ein tiefes Loch in meinen Schutzpanzer schlagen? Das war praktisch unmöglich. Doch es ließ sich leider auch nicht abstreiten, dass er eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausübte.

Er sagte, er sei nicht Charlenes Liebhaber. Doch konnte ich ihm auch vertrauen?

Alle paar Meter wischte Julian seine Hand an seinem Hintern ab, nur um dann gleich wieder in den Pulvereimer zu greifen. Seine rechte Pobacke sah mittlerweile aus, als hätte er sich in einen Sack Mehl gesetzt. Das erinnerte mich an den Handabdruck, den er heute auf meinem Po hinterlassen hatte. An die Art, wie er mich an sich gezogen hatte. Meine Ohren begannen zu glühen und mir wurde seltsam flau im Magen. Schmetterlings-flau. Großer Gott! Ich sollte lieber gar nicht erst daran denken.

Ich nahm den Hut ab und fächerte mir damit Luft zu. Dann setzte ich ihn wieder auf und versuchte mich auf die Arbeit zu konzentrieren.

„Ist Quinn denn wirklich dein Liebhaber?“

Die Luft zischte mir aus der Lunge, als ich mich überrascht zu Julian drehte. Neugierde blitzte in seinen Augen.

Das möchtest du wohl gerne wissen, Freundchen! Ich zog es vor, mit einem Schweigen zu antworten.

„Ja, ich dachte mir schon, dass es nur dummes Gerede war“, sagte Julian zufrieden.

Das brachte mich aus irgendeinem Grund zum Schmunzeln, aber eine Antwort bekam er trotzdem nicht.

Obwohl wir uns in den nächsten zwei Stunden kaum miteinander unterhielten, genoss ich es einfach nur, in seiner Nähe zu sein. Einmal erwischte ich ihn sogar dabei, wie er mich heimlich beobachtete, als ich mich bückte und die Hosenbeine bis zu den Knien hochrollte, um meinen kreideweißen Schenkel etwas Sonne zu gönnen. Julian grinste nur selbstgefällig, bevor er sich wieder umdrehte und weiterarbeitete.

Ich würde sicher nicht viele Dinge vermissen, wenn ich heute Nacht von hier verschwand. Doch Julians Lächeln gehörte definitiv dazu.

Um fünf Uhr nachmittags kehrten wir alle gemeinsam zum Haus zurück. Ich war total ausgehungert und freute mich über den üppig gedeckten Tisch. Es gab frisches Brot, Wurst, Käse, allerlei Gemüse und Obst aus dem Garten und hartgekochte Eier. Zu meiner übermäßigen Freude stellte ich fest, dass wir ohne meine Mutter essen würden, denn die schlief anscheinend tief und fest auf der Couch im Wohnzimmer. Mit nur uns vieren am Tisch erfuhr ich zum ersten Mal, was es hieß, wie eine richtige Familie beisammenzusitzen.

Meine Tante erzählte Albert von einer neuen Boutique in der Stadt und dass sie da demnächst unbedingt mal reinschauen wollte. Währenddessen stibitzte Julian ein Stückchen Gurke von meinem Teller und stopfte es sich schnell in seinen grinsenden Mund. Ebenfalls gut aufgelegt, wollte ich ihn gerade zurechtweisen, doch Albert schnitt mir das Wort ab. „Na, Jona, wie fühlst du dich nach deinem ersten Tag draußen in den Weinbergen?“

Um ehrlich zu sein, hatte ich Mühe, meine Augen offenzuhalten. Und doch hatte ich mich noch nie in meinem Leben besser gefühlt. „Mein Rücken tut weh“, gestand ich mit einem kleinlauten Grinsen und schielte dabei zu Marie. „Es wäre wohl doch klüger gewesen, weiter dieses weiße Zeug am Boden zu verstreuen, als Unkraut zu zupfen.“

„Du meinst den Mineraldünger?“, fragte mein Onkel.

Ich nickte. „Ich hoffe ja nur, dass dieses komische Mehl beim nächsten großen Regen nicht zu Teig wird.“

Albert und Marie amüsierten sich über meine Besorgnis, während Julian nur den Kopf schüttelte. „Das wird ganz sicher nicht passieren“, erklärte mir Albert. „Der Dünger hat mit Mehl überhaupt nichts zu tun.“

„Was genau ist es dann?“, wollte ich wissen.

Mein Onkel warf einen tadelnden Blick zu Julian. „Junge, hast du ihr denn heute gar nichts erklärt? Ihr wart doch fast den ganzen Tag zusammen.“

Julian zuckte mit den Schultern und schluckte einen Bissen Brot hinunter. „Sie hat mich nicht gefragt.“

„Tz, tz, tz“, gab Albert missbilligend von sich und schüttelte dabei den Kopf. Ich verkniff mir ein Schmunzeln. Dann wandte er sich wieder mir zu. „Was du und Julian heute gemacht habt war, die Pflanzen mit Nährstoffen zu versorgen, damit sie kräftig und rasch wachsen. Du hättest den Dünger auch zuerst in Wasser auflösen und dann die Reben damit gießen können. Für die Weinreben macht es keinen Unterschied. Aber es ist schon etwas mühselig, alle paar Meter eine neue Gießkanne vollzumachen.“

Mir fiel ein begeistertes Glitzern in Alberts Augen auf, als er weiter von seiner Arbeit sprach. Es bereitete ihm offenbar große Freude, mir alles über die Weinberge zu erzählen: über die verschiedenen Arten der Trauben und wie die geografische Lage am Ende den Geschmack des Weins veränderte. Ich hörte ihm lange Zeit einfach nur zu, auch nachdem wir bereits alle mit dem Abendessen fertig waren.

„Wenn du möchtest, zeige ich dir morgen, wie man mit dem Tester umgeht und die Bodenbeschaffenheit daran ablesen kann“, sagte er voller Stolz.

Ich verspürte plötzlich ein schmerzhaftes Stechen in meiner Brust, denn für mich würde es in diesem Haus kein Morgen mehr geben. Wenn meine Familie aufwachte, würde ich schon längst über alle Berge sein.

Kapitel 10

Der Vogelunfall

Die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages schienen mir ins Gesicht. Ich kratzte mich an der Nasenspitze und schaffte es irgendwie, meine verschlafenen Augen zu öffnen. Stechende Kopfschmerzen erinnerten mich an Julians Warnung, dass ich in der sengenden Hitze lieber eine Kopfbedeckung tragen sollte. Ein warmer Spucketropfen lief aus meinem Mundwinkel und mein Kinn hinunter. Ich wischte ihn mit dem Handrücken weg und richtete mich auf. Was zum Geier–?

Wo war ich?

Ich streckte meine Arme hoch und meinen Rücken durch, wobei meine Wirbel knackten und ich laut gähnte. Dann blickte ich mich um. Okay, ich saß also an meinem Schreibtisch. In meinem Zimmer. In Maries Haus. Mist! Wie konnte das denn sein?

Auf dem Tisch vor mir lag ein halb fertiger Abschiedsbrief an meine Tante. Er war zerknittert, weil ich wohl die halbe Nacht drauf gelegen hatte.

Großartig. Die Arbeit gestern hatte mich derart erschöpft, dass ich mitten unterm Schreiben eingeschlafen war. In der Ecke neben der Tür wartete immer noch mein gepackter Rucksack auf mich. Alles, was ich wollte, war von hier abzuhauen. Und nun saß ich einen weiteren Tag in diesem Haus fest, gefangen mit dem Drachen.

„Nein, nein, nein!“ Ich schlug mit der Faust auf den Tisch und mein Kugelschreiber flog in hohem Bogen durch die Luft. Als ich ihn vom Boden aufhob, fiel mir die kleine Uhr auf meinem Nachtkästchen ins Auge. Ich hätte wohl besser den Wecker stellen sollen. Das hatte ich nun davon.

Heute Nacht würde ich keine Fehler mehr machen. Ich musste von hier weg und zwar schnell.

Ich machte mich kurz frisch und trottete dann nach unten, wo ich alle mit einem langen Gesicht auf dem Weg zur Tür hinaus grüßte. Nicht einmal Maries liebliches Lächeln konnte meinen eiskalten Blick zum Schmelzen bringen und auf Julians provokantes Augenbrauenhochziehen antwortete ich nur mit einem mürrischen Knurren.

Und dann stand ich vor ihr.

Na ja, eigentlich war ich sogar geradewegs in sie hinein gekracht. Meine Mutter kam gerade zur Tür rein, als ich hinaus huschen wollte. Ein großes blaues Buch fiel ihr dabei aus der Hand und landete aufgeschlagen am Boden. Verärgert ballte ich die Fäuste und maulte etwas Unverständliches. Doch der Drache strahlte mich an, als wäre er gerade aus einem Atomreaktor gekommen. „Guten Morgen, Jona!“

Oh, halt doch einfach die Klappe und geh mir aus dem Weg.

Ich wollte über das Buch auf dem Fußboden steigen, da bemerkte ich, dass es eigentlich ein Fotoalbum war, und zu meinem unsagbaren Entsetzen war da sogar ein Bild von mir drin.

Von. Mir!

Vor diesem Haus.

Da blieb einem doch die Spucke weg.

Marie bückte sich schnell, um das Album aufzuheben. Als sie wieder hochkam, rief sie freudig überrascht: „Wo hast du das denn gefunden?“

Charlene zuckte verlegen mit den Schultern. „Es ist eines der wenigen Dinge, die ich damals mitgenommen habe. Ich hab’s mir in all den Jahren immer und immer wieder angesehen. Sicher tausendmal.“ Bei ihrer ekelhaft süßlichen Stimme wollte ich am liebsten kotzen.

„Sieh nur, Chérie.“ Meine Tante drehte sich mit dem offenen Album zu mir. „Das sind deine Mutter und ich, als wir noch jünger waren. Oh Charlene, hier musst du ungefähr in Jonas Alter gewesen sein.“

Meine Knie gaben beinahe nach, als ich mir das Foto, das sie gerade herzeigte, genauer ansah. Die vergilbte Farbe deutete darauf hin, dass es wirklich schon vor vielen Jahren geschossen worden war, und trotzdem hätte ich schwören können, dass ich in dem Bild an der Hausmauer lehnte und in die Kamera lächelte. Dasselbe dunkelrot-braune Haar wehte um das Gesicht des Mädchens, dieselben braunen Augen glitzerten im Sonnenlicht. Das gelbe Kleid und die hochhackigen Schuhe sahen allerdings lächerlich an mir aus.

„Ich kann nicht glauben, wie ähnlich Jona dir doch sieht“, stellte Marie fest.

Mir wurde schlecht.

„Kommt mit ins Wohnzimmer. Dann können wir uns das Fotoalbum gemeinsam ansehen.“

Oder du könntest stattdessen eine Pistole holen und mir damit zwischen die Augen schießen.

Ich bedachte beide Frauen mit einem verschrobenen Blick. „Ich passe.“ Schlimm genug, dass ich aussah wie eine jüngere Ausgabe von Charlene. Da würde ich mir sicher nicht auch noch anhören, wie sie in Erinnerungen schwelgten und dabei jedes blöde Detail bemerkten, das mich mit ihr verband.

Vorsichtig zwängte ich mich an meiner Mutter vorbei, ohne sie zu berühren, und flüchtete nach draußen. Mit tiefen Atemzügen schaffte ich es, meinen Zorn schließlich unter Kontrolle zu bekommen. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand und blickte in den Himmel. Ein Schwarm Vögel zog gerade über mir vorbei. Dies würde ein weiterer, unerträglich heißer Tag in den Klauen des Drachen werden. Ich musste weg. Je weiter ich von meiner Mutter entfernt war, umso besser. Dachte sie allen Ernstes, sie könnte einfach so in mein Leben zurückspazieren und wir würden die besten Freundinnen sein? Als ob die letzten zwölf Jahre nie passiert wären? Dann war sie wohl nicht nur krebskrank, sondern auch geistesgestört.

Marie kam kurze Zeit später zu mir raus und gemeinsam gingen wir schweigend rüber in die Weingärten. Als ich mit meiner Arbeit begann, kam mir wieder mein Lied in den Sinn. Das, von dem ich den Titel nicht wusste, das mich aber immer irgendwie beruhigte. Ich summte es den ganzen Morgen vor mich hin.

Wie versprochen, zeigte mir Albert später, wie man den Bodenscanner verwendete. Das Gerät hatte kleine Knöpfe und machte jedes Mal ein lustiges Piep-Geräusch, wenn es Bodenproben auswertete. Ich spielte ein wenig damit herum, doch in meinem Hinterkopf lungerte immer noch die Begegnung mit meiner Mutter herum, und es ärgerte mich umso mehr, dass ich es gestern Nacht nicht geschafft hatte, mich zu verkrümeln.

Da Julian die Aufgabe zugewiesen wurde, mich aufzuheitern – und ich hatte gehört, wie Marie genau diese Worte gebraucht hatte, bevor sie ihn mit mir losschickte – blieben mir auch seine ständigen kurzen Trips zurück zum Haus nicht verborgen. Wenn das seine Art war, mich bei Laune zu halten, dann konnte ich auf seine Gesellschaft genauso gut verzichten. Was machte er überhaupt dauernd im Haus? Brachte er dem Drachen ein Lamm, das sie dann mit ihrem Feuerstrahl rösten konnte?

Und doch musste ich ihm jedes Mal hinterher sehen, wenn er sich wieder einmal für ein paar Minuten entschuldigte. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, doch in Wahrheit wollte ich ihn jedes Mal am Arm festhalten und anbetteln, dass er diesmal nicht zu ihr gehen möge. Himmel, was war nur aus mir geworden? Das Ganze verwirrte mich schon sehr.

Am Abend aß ich meinen Eintopf extra schnell auf und vorgetäuschte Kopfschmerzen waren meine Entschuldigung, um dem üblichen Gequatsche nach dem Essen frühzeitig zu entkommen.

Marie sagte mir am Fuße der Treppe Gute Nacht. „Du hast dich wahrscheinlich überanstrengt.“ Sie streichelte mir sanft über die Stirn. „Morgen wirst du nicht mit hinaus in die Weinberge kommen.“

Oh, wie recht sie doch hatte. Innerlich rieb ich mir schon die Hände. Doch gleichzeitig zog sich bei dem Gedanken, meine neugewonnene Familie nie wiederzusehen, eine Schlinge aus Stacheldraht um mein Herz.

„Ruh dich jetzt aus, Liebes“, sagte sie und nahm meine Hand. „Außerdem ist morgen Wochenende. Vielleicht finden wir etwas, das wir beide unternehmen können. Nur du und ich.“ Ihre Mundwinkel kurvten nach oben. „Wie klingt das?“

Es klang fantastisch! Der Kloß in meinem Hals hinderte mich daran, ihr die Lüge mitten ins Gesicht zu schleudern. Ich zog meine Hand zurück.

Aber es ist doch gar keine Lüge und das weißt du auch.

Ah, verflucht sei diese Stimme in meinem Kopf!

Ich versuchte das Durcheinander in mir zu ordnen, doch es war unmöglich. Also nickte ich nur kurz, drehte auf der untersten Stufe um und rannte nach oben. Als ich in meinem Zimmer angekommen war, knallte ich erleichtert die Tür zu und lehnte mich dagegen. Ein tiefer Seufzer kam über meine Lippen, als mein Blick Richtung Zimmerdecke wanderte. „Lieber Gott, lass mich von hier verschwinden, bevor ich noch völlig wahnsinnig werde und meine Meinung ändere.“

Ich huschte ins Bad, um zu duschen, zog dann meine eigenen zerschlissenen Jeans und das schwarze Top an, setzte mich an den Schreibtisch und schrieb einen neuen Abschiedsbrief für Marie. Als ich fertig war, faltete ich den Brief zweimal und versteckte ihn in meinem Notizblock. Später, auf meinem Weg nach draußen, würde ich ihn auf dem Küchentisch zurücklassen.

Draußen wurde es langsam dunkel. Das war’s also. Ich war bereit. Um ja nicht wieder zu verschlafen, stellte ich den Wecker auf Mitternacht. Seltsam, dass ich für diese einfache Aufgabe volle fünf Minuten brauchte. Mein Hals wurde eng und tat weh, während ich an der Uhr herumfummelte. Dann fiel mir ein, dass ich vielleicht lieber die Fenster und Balkontür schließen sollte, damit Julian nicht hörte, wenn in meinem Zimmer der Wecker läutete.

Julian.

Ich knurrte in mich hinein. An ihn sollte ich gar nicht erst denken. Aber irgendwie wollte er mir nicht aus dem Kopf gehen. Die letzten beiden Tage mit ihm waren … interessant. Ich brauchte nur die Augen zu schließen und sah ihn ganz deutlich vor mir: wie sich immer ein Grübchen auf seine Wange schlich, wenn er schief grinste, wie ihm manchmal eine Haarsträhne in die Augen fiel, wenn er sich vornüberbeugte, und er sie dann wegpustete. Oh Mann. Ohne es zu wissen, hatte ich wohl jedes kleine Detail von ihm in meinen Gedanken gespeichert. Das war kein gutes Zeichen.

Doch wen kümmerte es schon? Ich würde die Tatsache einfach für mich behalten. Ein leises Stöhnen kam über meine Lippen. Wie gern hätte ich noch einmal diesen Duft von wildem Wind an ihm gerochen. Nur einmal, bevor es Zeit war zu gehen.

Jetzt reiß dich endlich zusammen, Weichei!

Ich schwang mit dem Drehstuhl herum und blickte mich noch ein letztes Mal in diesem Zimmer um. Was für ein Palast. Und ich kehrte ihm den Rücken zu. Ich musste verrückt sein. Doch dann fiel mir auch meine Mutter wieder ein, und ich wusste, es gab keinen anderen Weg. Je eher, desto besser.

Ein dumpfes Geräusch, so als hätte jemand ein Kotelett auf den Balkonboden geworfen, riss mich aus meiner Grübelei. Ich stand auf und ging zur Balkontür. In dem Moment, als ich den Vorhang zur Seite zog, flatterte ein Spatz aufgeregt in die Luft, dreimal im Kreis und dann hoch zum Dach. Vor Schreck duckte ich mich und schlug meine Arme um meinen Kopf.

„Verrückte Vögel“, murmelte ich und wollte schon wieder umkehren, da lenkte ängstliches Vogelgezwitscher meine Aufmerksamkeit nach unten. Meine Augen gingen weit auf und mein Herz wurde zu Pudding.

Nur einen Schritt von mir entfernt saß ein junger Spatz auf den Balkonlatten und neigte seinen Kopf unsicher von einer Seite auf die andere, als er zu mir hochsah. Ich hockte mich langsam hin und wartete darauf, dass er aus Angst vor mir abhauen würde, doch außer seinem Kopf bewegte sich bei dem Vogel gar nichts.

„Was machst du denn auf meinem Balkon, Kleiner? Kannst du nicht fliegen?“ Vorsichtig streckte ich ihm eine Hand entgegen, doch da machte das Kerlchen ein paar Hopser rückwärts.

„Fass ihn nicht an.“ Obwohl die Stimme sanfter klang als raschelnde Blätter im Wind, sah ich erschrocken hoch. Julian spazierte auf meine Seite des Balkons. „Er ist vermutlich aus dem Nest gefallen. Da ist eines unterm Dach, gleich über deiner Balkontür. Als er sich langsam neben mich kniete, hüpfte der kleine Spatz weiter nach hinten, bis er in der Ecke des Balkongeländers in der Falle saß.

„Kannst du mir ein Handtuch aus dem Bad holen?“, sagte Julian.

„Ich glaube ja nicht, dass der Vogel trocken gerieben werden muss. Der braucht nur eine Fahrt nach oben.“

Julians Seufzen wurde von seinem süßen, schiefen Grinsen begleitet. „Geh einfach!“

Ich warf ihm noch einen skeptischen Blick zu, lief aber dann los und holte ihm, was er wollte. „Was hast du damit vor?“, fragte ich, als ich wieder neben ihm hockte.

„Ich versuche meinen Geruch nicht auf den Vogel zu übertragen, wenn ich ihn gleich zurück in sein Nest setze. Seine Mutter wird ihn nicht mehr akzeptieren, wenn er nach Mensch riecht.“ Er rutschte weiter vor und hielt seine Hände nahe am Boden, sodass der Vogel jede von Julians Bewegungen genau sehen konnte.

„Erschreck ihn nicht“, flüsterte ich. Doch Julian bewegte sich so sanft und geschmeidig, er hätte wahrscheinlich sogar ein scheues Reh im Wald einfangen können. Ich hielt den Atem an, bis er den Spatz endlich in einem Frotteenest in seinen Händen hielt.

Wir standen beide auf, dann drehte sich Julian zu mir und ließ mich unseren kleinen ängstlichen Freund genauer betrachten. „Sein Herz klopft wie eine Nähmaschine.“

Ich stieß ein erleichtertes Seufzen aus und widerstand dem Drang, den kleinen Kopf des Vogels zu streicheln. „Und was jetzt?“ Meine Stimme war nicht lauter als das Zu-Boden-Fallen einer Stecknadel.

„Es wird Zeit für den kleinen Ausreißer, in sein Nest zurückzukehren.“ Julian verwirrte mich, als er seinen Kopf nach oben neigte und dabei leicht in die Knie ging. Allem Anschein nach hatte er wohl vor, gleich loszufliegen wie Superman.

Jemand hier draußen hatte offenbar einen an der Waffel. Und ich war’s ganz bestimmt nicht. Ich zog eine Augenbraue hoch, verkniff mir aber eine dumme Bemerkung, indem ich mir auf die Zunge biss.

Julian richtete sich wieder auf und wich meinem Blick aus. Er räusperte sich. „Nun ja“, stammelte er verlegen. „Könntest du mir dann bitte den Hocker von da drüben holen, damit ich zum Nest raufsteigen kann?“ Er deutete mit einem Nicken auf seine Seite des Balkons hinüber, wo ein kleiner, runder Schemel in der Ecke stand.

Sofort packte mich nackte Panik. Ich trat von der Schwelle zurück in mein Zimmer und fasste mir mit einer Hand an die Brust. Ich schüttelte den Kopf und spürte dabei, wie gerade sämtliche Farbe aus meinem Gesicht wich.

„Ah richtig. Da war ja was.“ Er sah mich eindringlich an, atmete dabei durch die Nase aus und kräuselte die Lippen. „Könntest du dann den Vogel für einen Moment halten?“

Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Ich hatte noch nie einen Vogel in der Hand. Was ist, wenn ich ihm weh tue?“

„Keine Sorge. Du kriegst das schon hin.“ Er machte einen Schritt auf mich zu und überreichte mir dann das ganze Spatzen-Handtuch-Paket.

Behutsam legte ich meine Hände um den eingewickelten Vogel. Da begann der kleine Teufel zu zwitschern und mit den Flügeln zu flattern, als wollte ich ihm an den Kragen. „Oh Mann, ich schätze, er will zurück zu dir.“

Julian beruhigte mich mit einem Lächeln. „Der Kleine will zurück in sein Nest. Wir beeilen uns also lieber.“ Als ich immer noch nicht so recht wusste, wie ich den Vogel halten sollte, legte Julian seine Hände um meine. „Ganz ruhig. Du machst das prima. Drück nur nicht zu fest zu.“

Ich versuchte meine Muskeln zu entkrampfen und meinen Griff zu lockern. Doch um ehrlich zu sein, hatte ich so meine Mühe, mich überhaupt zu entspannen, während Julian mir so zärtlich mit seinen Daumen über die Hände streichelte. Das ging gar nicht.

Julian zwinkerte mir zu. „Und denk immer daran, der Vogel hat mehr Angst vor dir als du vor ihm.“ Dann schlüpfte er wieder durch den Vorhang nach draußen und holte den Schemel. Er platzierte ihn direkt vor meinem Zimmer und stieg hoch. „Mal sehen, ob das funktioniert.“ Als er seine Hände aufhielt, setzte ich den Spatz vorsichtig hinein. Meine eigenen Hände zitterten dabei immer noch.

Als Nächstes hob Julian den Vogel hoch, rollte dann mit den Augen und stöhnte frustriert. „Ein Hocker … war ja klar.“ Er hielt mir den kleinen Piepmatz wieder unter die Nase. „Hier. Halt ihn noch mal.“

„Was ist los?“, fragte ich besorgt und nahm Tweety noch mal in die Hände.

„Der Hocker ist zu niedrig. Ich komm nicht ans Nest. Und da ich nicht fli–“ Er unterbrach sich selbst, und als ich ihn verwundert anblickte, zog er nur mürrisch die Augenbrauen tiefer.

Lieber gar nicht erst darüber nachdenken, beschloss ich für mich.

Julian inspizierte das große, quadratische Fenster über meinem Bett und seine Laune wurde deutlich besser. „Denkst du, du könntest auf das Fensterbrett hier steigen?“ Sein ermutigender Blick verleitete mich dazu, es zumindest zu versuchen. „Du musst dich auch nicht raus lehnen. Wenn ich meine Hand runter strecke, dann gibst du mir einfach den Vogel.“

„Runter strecken? Von wo?“

Mit einer schwungvollen Bewegung hatte sich Julian auf das Geländer des Balkons gehievt. Mir gefror der Atem und ich wurde stocksteif. „Um Himmels Willen, Julian! Komm da sofort runter!“

„Mach dir nicht in die Hosen. Mir passiert schon nichts.“ Ohne zu wackeln, balancierte er auf dem Geländer rüber zur Hausmauer.

Ich hatte zu viel Angst davor, mich aus dem Türrahmen zu lehnen, also sah ich auch nicht, was er als Nächstes tat. Doch nur wenige Sekunden später hörte ich Schritte auf dem Dach über mir. Er hatte sich wohl irgendwie da hochgezogen.

„Das wäre alles so einfach, wenn …“, hörte ich ihn über mir mäkeln.

Wenn was? Wenn er fliegen könnte? Ich schüttelte fassungslos den Kopf.

„Okay, du kannst jetzt aufs Fensterbrett steigen.“ Seine Stimme kam von viel zu weit weg. Mir wurde dabei ganz schummrig.

Aber ich hatte es versprochen, also fasste ich all meinen Mut zusammen und kletterte über das Bett auf das Fensterbrett, wobei ich Acht gab, das Kerlchen in meinen Händen nicht zu zerquetschen. Ich konzentrierte mich fest darauf, was ich tat, und versuchte dabei nicht, nach draußen und unten zu sehen. Meine Knie wackelten verdächtig unter mir. Schnell hob ich den Spatz hoch, um auch selbst wieder sicheren Boden unter den Füßen zu erlangen.

„Etwas mehr nach rechts!“, rief mir Julian zu und ich gehorchte, wobei mir selbst das Ein- und Ausatmen schwerfiel. Julian lachte. „Das andere Rechts, Jona!“

Herrgott noch mal, ich befand mich hier in einer Ausnahmesituation. Kein Grund sich über meine Nervosität lustig zu machen. Mit glühend heißen Wangen hielt ich den Spatz auf die andere Seite. Julian nahm ihn mir ab und kurz darauf hörte ich aufgeregtes Gezwitscher von mehr als nur einem Vogel. Dem Himmel sei Dank. Ich ließ mich zurück aufs Bett fallen und atmete erleichtert auf.

Das rosa Handtuch segelte vor meinem Fenster vorbei. Ich stand auf und wartete, dass auch Julian vom Dach runterkam. Seine Schuhe und Beine erschienen vor meiner Balkontür und baumelten für einen kurzen Augenblick in der Luft. Schließlich ließ er sich fallen und landete in der Hocke auf dem Balkon. Ich schrie auf und machte einen Satz rückwärts.

Julian streckte sich und wischte sich die Hände lässig an der Hose ab. „Job erledigt.“

„Himmel, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt.“

„Tut mir leid, das wollte ich nicht.“ Er kam auf mich zu. „Aber ich bin mächtig stolz auf dich. Da raufzusteigen war sehr mutig von dir.“

„Findest du?“

Julian nickte. Wir sahen uns merkwürdig lange in die Augen. Als mir die Stille zwischen uns unheimlich wurde, hüstelte ich. „Erzähl mal, wie sieht’s da oben aus? Sitzen da noch mehr kleine Vögel im Nest?“

„Drei. Komm doch mit raus und sieh sie dir selber an.“

Darüber konnte ich nur lachen. „Ja, genau.“

„Nein, im Ernst. Ich denke, du solltest versuchen deine Höhenangst in den Griff zu bekommen.“ Er nahm meine Hand und zog mich sanft vorwärts. „Komm schon. Marie hat dir das schönste Zimmer im ganzen Haus mit diesem tollen Balkon überlassen, und du weißt es nicht einmal zu schätzen.“

„Ich … das stimmt doch gar nicht!“, protestierte ich und stemmte mich gegen sein Ziehen. „Ich liebe dieses Zimmer.“ Da zog Julian etwas fester und ich stolperte einen kleinen Schritt nach vorn. Und noch einen. „Halt, warte! Ich kann da nicht rausgehen.“

„Natürlich kannst du. Nimm einfach meine Hand und hör auf das, was ich dir sage. Ich halte dich fest.“

Ich wusste nicht, was von beidem mich am Ende überzeugte, ihm zu vertrauen: seine sanfte Stimme oder seine warmen blauen Augen. Doch bevor ich noch weiter protestieren konnte, stand ich bereits mit einem Bein draußen auf den dunklen Balkonlatten. Das Holz fühlte sich warm unter meiner bloßen Sohle an, doch es knarrte unheimlich, als ich vorsichtig mein Gewicht verlagerte. Meine Knie zitterten wie der Schwanz einer Klapperschlange. Bitte nicht brechen. Bitte nicht brechen. Langsam zog ich auch meinen linken Fuß nach.

Julian lächelte mir zu. „Du machst das großartig!“ Er schlang seine Finger durch meine und drückte dann fester zu, was mir zusätzlich Vertrauen gab. „Jetzt dreh dich um. Du musst nicht gleich beim ersten Versuch über das Geländer schauen.“

„Was?“ Umdrehen? Ich verzog das Gesicht zu einer ängstlichen Grimasse. Was verlangte er denn noch alles von mir?

Er ließ mir keine Zeit zum Nachdenken. Mit einem sanften Schubs drehte er mich so herum, dass ich auf die Hausmauer starrte.

„Was machst du denn da?“, quietschte ich panisch.

„Ich werde dich führen. Vertrau mir.“ Julian knipste das schwache Balkonlicht an, nahm dann auch meine andere Hand und zog mich sachte von der Mauer weg. „Ich lass dich nicht fallen. Ich versprech’s.“ Seine weiche Stimme in meinem Ohr versicherte mir, er würde sein Versprechen halten.

Einen zaghaften Schritt nach dem anderen machte ich rückwärts und verließ mich dabei ganz auf Julian. Als letztendlich doch die Hysterie einsetzte und mir schwindlig wurde, schloss ich meine Augen und folgte ihm blind.

„Atme, Jona.“

Einatmen. Ausatmen. Einatmen …

„Wir sind fast da.“

Wo da? An der Pforte zur Hölle?!“

Nach einem weiteren Schritt blieb Julian hinter mir stehen und schlang seine Arme um meine Taille. Er lehnte am Geländer, die Beine weit auseinander gestellt, und zog mich fest an seine Brust. „Du hast es geschafft. Sieh nur, was für einen tollen ersten Schritt du gemacht hast.“

Na hoffentlich war es nicht mein letzter. Ich öffnete langsam die Augen und betrachtete fassungslos die Fassade im fahlen Veranda-Licht aus gut drei Metern Entfernung. Ich war tatsächlich hier draußen.

Oh Gott, alles, was ich jetzt wollte, war, wieder reinzulaufen und mich in der hintersten Ecke zu verkriechen. Doch Julians Umarmung fühlte sich solide und sicher an. Er würde auf mich aufpassen.

„Und jetzt … Augen nach oben.“ Mit meiner Hand immer noch in seiner hob er seinen Arm und zeigte auf das kleine Knäuel aus Zweigen und Grashalmen unter dem Dachvorsprung. Drei kleine Murmelköpfe waren darin zu sehen. Die Mutter stand beschützend über ihrem Nachwuchs.

Es war wunderschön. Nicht nur der Anblick des Nestes über meinem Zimmer, sondern auch mit anzusehen, wie sehr sich eine Mutter um ihre Kinder kümmern konnte. „Ich hab mir immer jemanden gewünscht, der so liebevoll auf mich herunterschaut“, murmelte ich, ohne richtig nachzudenken.

„So, wie die Vogelmutter?“ Ich spürte förmlich, wie Julian mich von der Seite aus ansah. „Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber es gibt da jemanden, der sich genauso um dich sorgt und sich gerne um dich kümmern möchte.“

Ich gab einen grunzenden Laut von mir und verdrehte die Augen. „Lass mich raten. Der Drache, hab ich recht?“

„Ich spreche nicht von deiner Mutter.“

Ich runzelte die Stirn und neigte meinen Kopf zur Seite, sodass ich ihm aus nur ein paar Zentimetern Entfernung in die Augen sah. „Von wem dann?“

„Marie. Sie versucht schon die ganze Zeit, dich in ihre Arme zu schließen.“ Julian begann plötzlich mit seinem Daumen kleine Kreise auf meinem Handrücken zu zeichnen. Kleine Gänsehautschauer zuckten über meine Haut. „Sie bettelt förmlich um deine Erlaubnis.“

„Erlaubnis wofür?“

„Dich lieben zu dürfen.“

Die Wahrheit schnitt mir ins Herz. Tante Marie tat alles Mögliche und noch mehr, nur damit ich mich in ihrem Haus wohlfühlte. Aber durch den ganzen Hass für meine Mutter, den ich mit mir herumschleppte, konnte ich es einfach nicht zulassen, dass mir jemals wieder jemand so nahe kam wie Charlene. Denn am Ende würden sie mich sowieso alle verlassen. Und ich wäre wieder allein.

„Sie hat vorgeschlagen, dass wir morgen den Tag miteinander verbringen. Nur wir beide.“ Ich hatte keine Ahnung, warum ich das ausgerechnet Julian erzählte. Vielleicht, weil er mir vorkam wie jemand, zu dem ich offen sein konnte. So jemand wie Quinn. „Und dann hat sie mir auch so viele schöne Kleider geschenkt.“

„Leider hast du ja davon heute nichts angezogen.“ Neckisch zupfte er am Saum meines abgetragenen T-Shirts. „Aber sie weiß wirklich, wie sie jemandem das Gefühl gibt, willkommen zu sein, nicht wahr?“

„Ja, das tut sie.“ Ich schmunzelte. „Was man ja von dir leider nicht sagen kann.“

„Was soll das denn bitte heißen?“ In seiner Stimme schwang ein Lächeln mit.

„Tja, du warst nicht unbedingt der charmanteste Junge auf Erden, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben. Mit den ganzen Sticheleien und so … da wundert es mich auch gar nicht, dass du keine Freundin hast.“

„Wer sagt dir, dass ich keine Freundin habe?“

„Na ja … du. Ich meine, du hast doch selbst gesagt, dass du nicht Charlenes Liebhaber bist. Und ich sehe hier auch keine anderen Mädchen rumlaufen.“ Verdammt. Ich biss mir auf die Zunge. Wahrscheinlich wartete bereits irgendwo eine Frau auf ihn, nett und jung und nicht potthässlich wie der Drache. Bei dem Gedanken schlängelte sich eine unsichtbare Boa um meine Brust und tat, was Schlangen am besten konnten. Sie drückte zu. Als ich ihn daraufhin fragte: „Also … hast du eine oder nicht?“, war meine Stimme alles Mögliche, nur nicht selbstsicher.

„Nein …“ Julian zog das Wort in die Länge und lachte dabei leise.

Keine Freundin! Juhu! Und jetzt verpasst mir bitte jemand eine, denn ich sollte mich über diese Tatsache weiß Gott nicht so sehr freuen. Allerdings konnte ich die Schmetterlinge in meinem Bauch, die gerade die Boa um meine Brust vertrieben hatten, einfach nicht mehr kontrollieren. Mein Herz klopfte wie verrückt, was mich nur noch mehr ärgerte, denn so, wie mich Julian an sich drückte, musste er es mitbekommen.

Aus alter Angewohnheit, wie immer, wenn ich unsicher war, griff ich auf meinen bissigen Tonfall zurück. „Siehst du? Das wäre wahrscheinlich anders, wenn du ein bisschen netter zu Mädchen wärst.“

„Ja, vielleicht“, flüsterte er. Seine sanften Lippen kitzelten dabei mein Ohr. „Und doch halte ich dich heute in meinen Armen … nach nur drei Tagen.“

Ich schnappte entsetzt nach Luft. Mein Blick sank auf meine nackten Füße. Ich sollte gar nicht hier sein. Nicht in diesem Haus und ganz sicher nicht in Julians Armen. Und schon gar nicht sollte es sich so wunderbar anfühlen. Bereit, mich von ihm loszureißen, versteifte sich jeder einzelne Muskel in meinem Körper.

Julian drückte mich ein klein wenig fester an sich. „Schhh…“, machte er ganz leise. „Du erschreckst sonst die Vögel.“

Kapitel 11

Mitternächtliche Gespräche

Hätte jemals jemand versucht, mir weiszumachen, dass ich einmal auf einem Balkon fünf Meter über dem Erdboden sitzen würde und das Ganze auch noch genießen konnte, dann hätte ich ihn wohl in die Kategorie „völlig übergeschnappt“ eingestuft. Und doch saß ich hier und betrachtete die Sterne. Die warme Hausmauer hinter meinem Rücken wirkte dabei wie ein Kachelofen.

Julian, der wieder mal lässig auf dem Geländer saß, blickte auf mich herab und nickte in Richtung meiner angewinkelten Beine. „Deine Knie zittern ja gar nicht mehr. Du wirst dich doch am Ende nicht noch entspannen hier oben?“

Ich umschlang meine Beine mit meinen Armen und schenkte ihm sogar ein kleines Lächeln. „Sieht fast so aus.“ Obwohl mein Zittern von vorhin ja mindestens zu neunzig Prozent durch seine Umarmung ausgelöst worden war und gar nicht so sehr durch die Höhenangst. Aber das musste er nun wirklich nicht wissen.

„Also, was habt du und Marie morgen vor? Werdet ihr euch gegenseitig die Fingernägel pink anstreichen, in Bikinis auf der Veranda abhängen und Cocktails mit kleinen Schirmchen drin schlürfen?“ Er pustete sich dabei geziert damenhaft auf die Fingernägel und brachte mich damit zum Lachen.

„Das würdest du wohl zu gerne sehen, wie?“

Julian warf mir einen verspielten Blick durch seine langen Wimpern zu. „Auf jeden Fall.“ Er klang wie ein hungriger Wolf. Dabei durchzuckte mich ein prickelnder Schauer und hinterließ eine Spur von Gänsehaut auf meinen Armen. „Ist dir kalt?“, fragte er, wieder ganz er selbst, und zog Gott sei Dank den falschen Schluss.

„Dir entgeht wohl gar nichts“, murmelte ich und wich dabei seinem Blick aus.

Er sprang vom Geländer und zog seine graue Kapuzenjacke aus. Vor Überraschung weiteten sich meine Augen. Ich neigte meinen Kopf, sodass ich ihn im Blickfeld hatte, als er vor mich trat. Er ging in die Hocke, und ich lehnte mich automatisch vor, damit er mir die Jacke um die Schultern hängen konnte, obwohl ich eigentlich widersprechen wollte.

„Das ist wirklich nicht nötig. Ich kann mir auch meinen eigenen Sweater von drinnen holen. Du solltest sie anlassen.“

Julian setzte sich wieder aufs Geländer. „Schon okay. Mir ist nicht kalt.“

Mir auch nicht.

Doch als mir sein süßer Duft, der an seiner Jacke haftete, in die Nase stieg, beschloss ich lieber nichts zu sagen und einfach nur tief einzuatmen. Es war, als hätte jemand eine Flasche geöffnet und eine doppelte Dosis Julian wäre entwichen. Ich schob meine Arme durch die viel zu langen Ärmel, verschränkte sie auf meinen Knien und kuschelte meine Wange in das weiche Material des Sweaters. Sollte ich ihm mitteilen, dass er diese Jacke nie wieder zurückbekommen würde? Nee. Ich versteckte mein Grinsen in meiner Armbeuge.

Ein Grübchen zeichnete sich gerade auf seiner Wange ab und er zog die Augenbrauen leicht zusammen. Konnte er etwa schon wieder meine Gedanken lesen?

Er zog ein Bein an und stellte den Fuß auf das Geländer. Dann verschränkte er seine Finger um den Knöchel und stützte sein Kinn auf das Knie. „Tag drei deiner Strafe ist ja nun vorbei. Wie viele hast du noch mal vor dir? Fünfunddreißig?“

„Achtunddreißig.“

„Ah ja, richtig.“ Julian schmunzelte, doch ich verstand nicht, was daran so lustig war. „Und … wie ist der erste Eindruck von deinem neuen Zuhause?“

„Das ist nicht mein Zuhause.“ Schlagartig hatte sich meine Stimmung an die eisige Arktis angeglichen. Ich versuchte wieder etwas freundlicher zu klingen. „Aber alle hier sind ziemlich nett und mir gefallen das Haus und die Weinberge, falls du das meinst. Die Arbeit macht mir auch nichts aus.“ Ich legte meinen Kopf zurück und blickte hinauf in den Sternenhimmel. „Ohne Charlene wäre das hier sicher ein toller Ort zum Leben.“

„Warum, Jona?“ Sein trauriger Tonfall holte mich aus den Sternen zurück. Er ließ sein Bein wieder baumeln und lehnte sich nach vorn, wobei er die Ellbogen auf die Oberschenkel stützte. Das Balkonlicht spielte sanft in seinem blonden Haar. „Was genau wäre denn anders, wenn deine Mutter nicht hier wäre? Mal abgesehen davon, dass du dann bei den Mahlzeiten viel gesprächiger wärst.“

Julian grinste und ich zog die Augenbrauen tiefer. „Einfach alles.“

Er forderte mich heraus, indem er seinen Kopf leicht neigte. „Nenn mir nur eine Sache.“

„Warum interessiert dich das überhaupt?“

„Weil ich denke, du redest dir hier etwas ein.“

Tat ich gar nicht. „Eine einzige Sache?“ Ich könnte meinen Ärger endlich ablegen und die Tage hier genießen. Sonst fiel mir leider grad nichts anderes ein. Das Geräusch meiner knirschenden Zähne dröhnte in meinem Kopf. Ich hasste es, wenn er recht hatte und ich nicht. „Es würde hier nicht überall nach Drachenhöhle stinken.“ Ich grinste ihn bitterböse an. „Wo wir gerade davon sprechen, denkst du Charlene würde mich auch verstoßen wie eine Vogelmutter, wenn der Geruch von einer anderen Person an mir klebte?“ Provozierend rubbelte ich mit dem Ärmel seines Sweaters über meine Wange.

Julian blieb still. Doch er rutschte vom Geländer und setzte sich mir gegenüber auf den Balkonboden. Brennend blaue Augen starrten mich lange Zeit einfach nur an. Dann meinte er: „Wirst du immer sarkastisch, wenn dir jemand zu nahe tritt?“

Ja.

Sarkasmus war wie ein Schutzmechanismus. Vor Leuten wie ihm. Oder meiner Mutter. Oder sogar vor Marie. Wenn ich sie zuerst verletzte, konnten sie mir nicht mehr weh tun. Besonders, wenn sie sowieso vorhatten, früher oder später wieder aus meinem Leben zu verschwinden. „Warum fragst du?“

„Nur so. Seit wir uns kennen, habe ich noch nicht einmal erlebt, dass du etwas Nettes über deine Mutter gesagt hast.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ja. Na und?“

„Nichts und. War nur so eine Feststellung.“

Ja genau. Es nervte ihn tierisch. „Hör zu. Das bin eben ich. Und wenn sie sich in den letzten zwölf Jahren auch nur ein bisschen um mich geschert hätte, dann würde sie mich kennen und hätte mich vielleicht nicht hierher geschleift.“

„Wenn das wirklich du bist, warum hab ich dich dann noch nie in so einem Ton mit Marie sprechen gehört?“

Ich stieß einen langen Atemzug durch die Nase aus und senkte mein Kinn wieder auf meine verschränkten Arme. „Marie ist anders. Ich finde es schwer, ich selbst bei ihr zu sein.“ Allein der Gedanke an meine Tante besänftigte den brodelnden Sturm in mir.

„Oder vielleicht ist es auch nur zu einfach du selbst bei ihr zu sein. Schon mal daran gedacht?“

Ich blinzelte ein paar Mal. Hatte er gerade angedeutet, ich hätte einen sanftmütigen Charakter? Der hatte wohl einen Knall. Durch die Jahre im Jugendheim und zeitweise auf der Straße hatte ich eins ganz sicher gelernt: Sei hart, sonst gehst du unter wie ein Schiff unter Kanonenbeschuss. Nur die Stärksten behielten ihren Kopf an einem Ort wie dem Lorna Monroe Kinder- und Jugendheim, wo Lehrer versuchten, dir an die Wäsche zu gehen, und tyrannische Mitschüler es darauf abgesehen hatten, dich als Aushängeschild für Loser hinzustellen.

„Du verstehst das nicht“, brummte ich. „Und ich mach dir noch nicht mal einen Vorwurf deswegen. Von deinem Standpunkt in der Welt aus muss alles ziemlich einfach aussehen. Du lebst in einem Palast mit netten Leuten um dich, hast einen tollen Job bei Albert in den Weinbergen, wenn du dich nicht gerade um Charlene kümmerst … Du musst dir um nichts Sorgen machen. Aber die Dinge sehen nun mal ein wenig anders aus, wenn man sie von der Kanalisation der Gesellschaft aus betrachtet.“

Mit gekräuselten Lippen kam Julian plötzlich zu mir rüber gerutscht. Seine langen Beine reichten bis zur Mitte des Balkons, als er neben mir saß und sie ausstreckte. Sein linker Arm lehnte gegen meinen rechten. Die Nähe zu ihm ließ mich erschaudern, doch es war kein unangenehmes Gefühl. Im Gegenteil, ein aufgeregtes Kribbeln breitete sich von meinem Magen ausgehend in einer Spirale in mir aus, bis mein Herz beinahe so schnell klopfte, wie das des Vogels vorhin. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah er nachdenklich in den Nachthimmel. In seiner Haltung war leider seine Absicht nicht erkennbar.

„Was hast du vor?“, fragte ich ein wenig unsicher.

„Ach, ich will mir die Welt nur mal kurz aus deinem Blickwinkel ansehen. Wenn du nichts dagegen hast“, fügte er noch hinzu.

Ich machte große Augen, zuckte aber mit den Schultern und belächelte ihn. „Bitte. Mach nur.“

Er warf mir einen seitlichen Blick zu und dann passierte etwas Unerklärliches. Sein Ausdruck blieb zwar immer noch freundlich und auch ein wenig neugierig, doch seine Augen schienen in diesem ausgedehnten Moment eine Vielzahl an Emotionen zu durchwandern. Überraschung, Frustration, Mitleid, Angst, Freude, Zorn, Erleichterung. Ja sogar Hunger und Schmerz. Es war total verrückt. Für eine Sekunde hatte ich wirklich das Gefühl, er würde die Welt durch meine Augen erleben. Doch wie war das möglich?

Auf einmal fühlte ich, wie meine kleinen Härchen im Nacken zu Berge standen. Ein Eispickel war gerade dabei, mir wie eine Nähmaschine eine Linie von meinem Genick bis zum Ende meines Rückens zu stechen. Meine Zehen krallten sich gegen das warme Holz des Balkonbodens. Ich hatte ganz plötzlich den Drang, von Julian wegzukriechen – in Sicherheit. Aber ein noch viel stärkerer Impuls fesselte mich an Ort und Stelle. Wie ein Magnet, der auf einen gegensätzlich gepolten Magneten traf, wurde ich mit jeder Faser meines Körpers zu diesem Mann hingezogen. Ich hätte mich keinen Zentimeter von ihm wegbewegen können, selbst wenn ich wollte.

Und dann drang schlagartig dieses Gefühl von überschwänglichem Glück in mich ein und breitete sich in alle Richtungen aus. Meine Gliedmaßen wurden warm und mein Kopf wurde leicht. Benebelt. So etwas hatte ich in dieser Intensität noch nie erlebt. Es war noch um ein Vielfaches stärker als die anderen beiden Male, die er mich auf so seltsame Weise berührt hatte. Dabei hielt er diesmal doch sogar seine Hände vor mir versteckt.

Ich konnte mir nicht erklären, was hier gerade vor sich ging, aber ich wollte nichts lieber tun, als meine Arme um Julian zu schlingen und für immer in dieser Oase der absoluten Zufriedenheit zu bleiben. Etwas verband mich mit ihm, etwas in seiner Aura. Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich nur an ihn schmiegen und dann bekäme ich meine Antwort. Doch das war nicht echt. Ein Trick. Ich kämpfte darum, meinen Verstand über meine Instinkte zu schalten und mich hier nicht komplett zum Affen zu machen.

„Stell es ab!“, presste ich durch meine zusammengebissenen Zähne.

Das Gefühl verschwand. Genauso schnell, wie es aufgetaucht war.

Das Kribbeln in mir verebbte und schließlich konnte ich auch meine Zehen wieder entrollen. Julian rutschte ein paar Zentimeter nach rechts, ließ seine Hände entspannt auf den Boden sinken und blickte in den Himmel. Alles war wieder normal.

„Hmm. Du bist stark“, hörte ich sein Murmeln, doch ich war mir nicht sicher, ob er das gerade wirklich gesagt hatte oder ob mir mein Verstand immer noch Streiche spielte. Ich hatte Angst mich zu bewegen, denn wer konnte schon sagen, was passieren würde, wenn ich Julian noch einmal berührte? Ich hatte keine Lust, es heute Nacht herauszufinden.

Magie? Voodoo? Womit spielte er? Egal, was es war, es begann mir Angst zu machen.

Beruhige dich, Jona. Du bist müde, das ist alles.

Ja. Müde. Das musste es sein. Ich ballte meine Hände um die Bündchen von Julians Sweater zu Fäusten und vergrub sie in meinem Schoß. Nach einem langen und tiefen Seufzen brachte ich schließlich die Hysterie in mir zum Schweigen.

„Nun, wie sieht das Leben aus, wenn man es von der Gosse aus betrachtet?“, fragte ich leise.

„Gar nicht mal so übel.“

„Ach ja?“

„Mm-Hm. Es kommt weniger darauf an, wo man sich befindet.“

„Sondern?“

Julian rollte seinen Kopf zur Seite und sah mich an. „In welche Richtung man von dort aus blickt.“ In diesem Moment war es zwischen uns still genug, um das Lachen eines Marienkäfers zu hören. Dann seufzte Julian. „Du willst wirklich zurück in dein altes Leben?“

„Es ist das einzige, das ich kenne.“

Seinem verkrampften Kiefer nach zu urteilen, frustrierte ich ihn ein wenig mit dieser Antwort. Er rieb sich die Hände übers Gesicht. „Jona, warum willst du einen Apfel, wenn du vor dir Berge voller Trauben hast?“

Ich wusste nicht, wie ich darauf antworten sollte. War auch nicht nötig, denn kurz darauf sagte er: „Kann ich dich mal etwas ganz Persönliches fragen?“

Nachdem was gerade passiert war? Lieber nicht. Doch ich zuckte belanglos mit einer Schulter.

„Wenn deine Mutter bereits gestorben wäre und Marie dich letzte Woche aus dem Jugendheim geholt hätte, um mit dir hier zu leben, wärst du mitgekommen?“

„Natürlich“, hätte die Antwort lauten sollen, die ich Julian im nächsten Moment gab. Doch aus irgendeinem Grund fiel es mir schwer, ihn anzulügen. Also murmelte ich ehrlich: „Wahrscheinlich nicht.“

Julian nickte mit Bedacht. „Davon bin ich ausgegangen.“

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und streifte mir mein Haar hinter die Ohren. Meine Hände blieben in meinem Nacken, als ich den Kopf hängen ließ und die Stirn auf meine Knie legte. Es gab eine ganz einfache Erklärung dafür, warum ich wohl nicht mit Marie gegangen wäre. Ich wollte in meinem Leben nie wieder eine Bindung zu jemandem aufbauen. Zu niemandem.

Das allein war der Grund, warum ich bisher noch keinen festen Freund hatte, warum ich in der Jugendanstalt keine Freundschaften aufgebaut hatte und warum ich auch nicht zulassen konnte, dass Marie sich weiter in mein Herz schlich. Ich musste mich selbst davor schützen, verletzt zu werden, wenn ich wieder verlassen werden würde.

Julian zupfte sanft an meinem Hosenbein und holte mich damit aus meinem düsteren Grübeln zurück. „Es heißt nicht, dass dich jeder im Stich lassen wird, nur weil es deine Mutter vor Jahren getan hat, Jona.“

Ich zuckte hoch. Offenbar hatte Julian einen Schlüssel zu meinen Gedanken und ich konnte nichts dagegen unternehmen. „Doch, das heißt es. Wenn es meine eigene Mutter übers Herz gebracht hat, was sollte dann einen völlig Fremden daran hindern?“

Mein bissiger Tonfall wirkte sich in keinster Weise auf seinen sanftmütigen aus. „Manchmal tut den Menschen leid, was sie getan haben, und sie versuchen es wieder gutzumachen.“

Ein Alarm ging in meinem Kopf an. Diese Unterhaltung steuerte in eine Richtung, die mir Magenschmerzen bereitete. Ich biss wütend die Zähne aufeinander. „Und manchmal machen sie den gleichen beschissenen Fehler ein zweites Mal.“

Julians Augen wirkten mit einem Mal traurig. Er wusste also ganz genau, wovon ich sprach. Ich versetzte meiner Stimme eine ekelhaft süße Note. „Ich nehme an, Charlene hat dir erzählt, dass ich bereits zwölf war, als sie mich zum ersten Mal im Heim besuchte.“ Ich verdrehte bei der Erinnerung daran die Augen. „Hat ständig irgendwelche Entschuldigungen gepredigt und von einem neuen, schöneren Zuhause gefaselt. Sie hat versprochen, mich in ein paar Tagen zu sich zu holen, wenn alles geregelt sei.“ Ich machte eine Pause und holte wütend Luft. „Am Ende kaufte ich es ihr sogar ab. Mann, wie blöd war ich eigentlich? Kannst du dir vorstellen, wie schlimm es war, als sie ein paar Tage später dann doch nicht aufgekreuzt ist? Tja, tatsächlich ist sie die nächsten fünf Jahre nicht mehr aufgetaucht.“

Bis letzten Dienstag.

Ein grimmiges Lächeln setzte sich auf meine Lippen. „Diese Tatsache wird sie dir doch sicher nicht verheimlicht haben, oder? Ich meine, wo ihr beide euch doch so nahe steht.“

„Vielleicht hatte sie Gründe dafür, dass sie nicht wieder kam.“

Oh ja, er war voll informiert.

Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust. „Was für Gründe könnten das wohl gewesen sein?“

„Ich weiß nicht. Warum fragst du sie nicht einfach?“ Ein kleiner Schuss Unschuld hallte in seiner Stimme mit. Gerade mal so viel, dass ich mir sicher sein konnte, dass er über alles Bescheid wusste.

Sein absurder Vorschlag stieß mir sauer auf und ich konnte nur darüber lachen. „Ja genau. Als ob mich das in irgendeiner Weise interessieren würde. Sie kann ihre Lügen sonst wem erzählen, aber nicht mir. Dem Teufel vielleicht, wenn er sie am Ende ihres gottverdammten Lebens abholt.“

Julian presste die Lippen aufeinander. Er wirkte immer so betroffen, wenn ich schlecht über meine Mutter redete. Es machte für mich keinen Sinn, doch ich wollte ihn damit auch nicht bekümmern. Nicht heute Nacht.

Also räusperte ich mich kurz und versuchte wieder etwas freundlicher zu klingen. „Wie lange kennst du Charlene eigentlich schon?“

„Eine Weile.“

„Oh, bitte nicht gleich so viele Informationen auf einmal.“ Ich verdrehte die Augen hinter geschlossenen Lidern. „War sie bereits krank, als du sie kennengelernt hast?“

Julian nickte. Natürlich. Warum sonst sollte sich ein Krankenpfleger um sie kümmern? Eine plötzliche Neugier überkam mich und ich setzte meine Fragen fort. „Bezahlt sie dich für deine Unterstützung?“

„Albert bezahlt mich für die Arbeit in den Weinbergen.“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

Die Art, auf die Julian seinen Kopf neigte und mich ansah, ließ mich erahnen, dass er seine nächsten Worte mit Bedacht wählte. „Ich bekomme kein Geld von deiner Mutter. Aber sie bezahlt einen hohen Preis für meine Hilfe.“

„Und diese Anstalt, oder wen auch immer sie bezahlt, hat dich geschickt, um sie zu pflegen?“

Ein Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen. „So oder so ähnlich, ja.“

Plötzlich schreckte mich Valentines wütendes Gezeter unter uns hoch. Ich hatte keine Ahnung, dass sie überhaupt noch da war. Auch wenn ich kein Französisch verstand, war ich ziemlich sicher, dass sie gerade wild vor sich hin fluchte. Julian lachte laut auf und rief ihr dann etwas zu. Ich verstand wie immer nur Bahnhof.

Nun kicherte auch Valentine, als sie ums Haus verschwand.

„Was hat sie gesagt?“, wollte ich von Julian wissen.

„Sie hat die Vögel verflucht, die ihr auf die Pantoffeln gekackt haben, und gedroht, sie alle mit Henris Schrotflinte zu erschießen.“

Bei der Vorstellung, wie der Teekessel wegen ein wenig Vogelkacke Amok lief, musste ich auch kichern. „Und was hast du ihr geantwortet?“

„Dass sie aufpassen und nicht die Hausmauer durchlöchern soll. Die alte Schrotflinte geht öfter nach hinten los, als sie ein Ziel trifft.“

Es fühlte sich gut an, mit Julian zu lachen. Befreiend. Und wenn er mich nicht gerade wegen meiner Mutter nervte, war er ja wirklich ein niedlicher Bursche.

In der nächsten halben Stunde erzählte er mir alles, was er über Valentine und Henri wusste: wie alt sie waren, über ihre drei erwachsenen Kinder, die manchmal zu Besuch kamen, und was die beiden hauptsächlich in den Weinbergen machten. Allerdings war es eher seine sanfte Stimme, die mich unterhielt, als die Information selbst.

Ich betrachtete seine großen blauen Augen, während er weiter und weiter erzählte. Hin und wieder rieb er sich das Genick, wenn er versuchte, sich an etwas Spezielles zu erinnern. Und manchmal leckte er sich mit der Zunge über die Oberlippe. Dabei bekam ich Herzklopfen. Ich hätte ihm noch Stunden zuhören können.

Als mich ein Gähnen überfiel, versuchte ich es in meiner Armbeuge zu verstecken, nur damit er nicht aufhörte zu reden. Doch Julian bemerkte es natürlich. Er streifte mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Bei der zarten Berührung seiner Finger, die er über meine Wange zog, bevor er seine Hand wieder wegnahm, wurde mir heiß und kalt zugleich. Die Haut auf meiner Wange prickelte.

„Es war ein langer Tag“, meinte er. „Du solltest ins Bett gehen und dich ausruhen. Ich hab sowieso schon viel zu lange geschwafelt. Ich muss dich doch langweilen.“

„Nein“, rief ich fast ein wenig zu laut. „Bitte erzähl weiter.“

Das Funkeln in seinem Blick wurde für einen Moment noch intensiver als zuvor. Noch nie hatte ich so besondere Augen gesehen. Schließlich gab Julian meinem Bitten nach und fuhr mit seinen Erzählungen fort.

Nichts hätte mich heute Nacht davon abgehalten, seiner Stimme zu lauschen. Nicht einmal die Müdigkeit, die über mich hereinbrach. Ich schloss einfach meine Augen und hörte ihm weiter zu.

Bereits halb eingeschlafen, spürte ich, wie sich zwei Arme unter mich schoben. Einer unter meine Knie, der andere hinter meinen Rücken. Als ich sanft vom Boden hochgehoben wurde, rollte mein Kopf zur Seite und kam auf einer bequemen Schulter zum Liegen. Meine Nasenspitze stieß gegen Julians Hals. Seine Haut war warm und zart.

Langsam bewegte ich meine Hand über seine Brust nach oben und hielt mich an seinem Nacken fest. Sein kurz geschorener Haaransatz kitzelte mich an der Handinnenfläche. Wenn ich nicht gerade am Wegdriften gewesen wäre, hätte ich wohl meine Finger weiter nach oben in seine weichen Haarsträhnen geschoben und angefangen, damit zu spielen.

Weil ich mich so fest an ihn geklammert hatte, musste Julian sich mit mir runterbeugen, als er mich auf mein Bett legte. Sein sanfter, warmer Atem strich mir übers Gesicht. Ich öffnete kurz die Augen. Mit einem zarten Lächeln sagte er mir Gute Nacht.

Bitte geh noch nicht.

Julian zog seinen Arm unter meinen Knien raus und meine aufgestellten Beine kippten zur Seite. Mit Gefühl lockerte er meinen Griff um seinen Nacken. Dann legte er meine Hände auf meinen Bauch. „Schlaf süß, Prinzessin“, flüsterte er und strich mir dabei die Ponyfransen aus dem Gesicht.

Ich blinzelte in Zeitlupe und grub mein Gesicht tiefer in das Kissen. Durch einen Schleier aus Schlaf sah ich zu, wie Julian sich umdrehte. Seine Finger schweiften über den Wecker auf meinem Nachttisch. Die Zeiger der Uhr fuhren wie verrückt im Kreis.

„Wir sehen uns morgen“, sagte er in einem hypnotisch zuversichtlichen Ton und verschwand durch meine Balkontür.

Kapitel 12

Wilde Träume und ein Grund zu bleiben

Ich stand neben Julian auf dem Balkon und der kleine Spatz mit den Knopfaugen saß gemütlich in seinen Händen. Julian grinste, als würde er für Zahnpasta werben. „Bist du so weit?“

Ich nickte und er ging leicht in die Hocke. Als er sich dann ruckartig streckte, hob er vom Boden ab und schwebte nach oben zum Dach. In der Zwischenzeit salutierte ich wie ein Soldat der britischen Leibgarde und sang dabei „God Save the Queen“. Doch das Gezwitscher über meinem Kopf übertönte mein Trällern. Ich schmetterte gerade „Long may she reign“, da schoss ich plötzlich hoch, saß kerzengerade in meinem Bett und blickte mich verstört in meinem Zimmer um. Donnerwetter, ich hörte sogar noch, wie ich selbst vor Schreck nach Luft schnappte. Was war denn passiert?

Durch das Fenster strömte grelles Tageslicht. Aber Moment mal. Das konnte doch eigentlich gar nicht sein. Wieso war ich denn immer noch hier und nicht bereits in einem Flugzeug nach London?

Die Erinnerung an letzte Nacht kehrte langsam zu mir zurück. Ich. Julian. Der Balkon. Mir wurde plötzlich warm und ich musste lächeln. Hatte er mich wirklich in mein Zimmer getragen? Sein Duft schien immer noch im Raum zu hängen. Mmm. Ich atmete tief durch die Nase ein. Erst als ich dabei meine Arme um mich selbst schlang und meine Finger sich in weiche Baumwolle gruben, wurde mir klar, woher dieser angenehme Geruch tatsächlich stammte. Ich hatte immer noch Julians Sweater an.

Und meine Jeans obendrein. Er hatte mich letzte Nacht also tatsächlich zu Bett gebracht. Ich streifte mir die zerrauften Ponyfransen aus dem Gesicht. Die Bewegung rief Segmente aus meinen Traum wieder wach. Wie war das noch gleich … Salutieren? Hmm, da war doch noch etwas anderes. Als es mir mit einem Mal wieder einfiel, verzog ich stöhnend das Gesicht. Julian war geflogen. Sollte mich das irgendwie stutzig machen?

Mensch, du hast dabei die Königin von England gepriesen, also krieg dich wieder ein. Seltsame Dinge passieren nun mal in Träumen.

Ich drehte mich langsam zur Seite und blickte lange auf die Balkontür. Der Traum kam mir so wirklich vor. Julian war in die Hocke gegangen, bevor er in die Luft gestartet war. Genauso wie gestern Abend, als er den Vogel zurück ins Nest setzen wollte. Er hatte vor, da hochzu–

Schwachsinn. Er war doch kein Mutant. Und Superman war er ganz sicher auch nicht. Ich seufzte frustriert und ließ mich zurück in mein Kissen fallen. Er war einfach nur Julian, der normale Junge von neben an. Irgendwie süß, aber ganz normal.

Oder versuchte ich hier etwa, mir selbst etwas vorzumachen?

In diesem Moment ging plötzlich ein Alarm neben mir los und ich sprang mit einem Schrei aus meinem Bett. Panisch schlug ich mit der flachen Hand auf den Wecker, dreimal, bis er endlich aufhörte so schrill zu klingeln. Eine Hand über mein rasendes Herz gepresst, sank ich in meinen Schreibtischsessel und lehnte meinen Kopf erleichtert nach hinten über die Rückenlehne.

Oh Mann, was war das denn für ein verrückter Morgen? Vielleicht sollte ich lieber wieder unter die Decke kriechen und den Tag in zehn Minuten von neuem beginnen.

Ich machte mit dem Stuhl eine halbe Drehung, damit ich an mein Nachtkästchen rankam, und schnappte mir den Wecker. „Also, du doofes Ding, was ist dein Problem?“, brummte ich, denn ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich den Wecker richtig gestellt hatte. Und zwar auf–

„Mitternacht?“

Mein Magen rutschte mir bis zu den Knien und meine Kinnlade kippte nach unten. Beide Zeiger standen kerzengerade auf der Zwölf. Aber das war unmöglich.

Irgendwo in meinem Hinterkopf begann leise der Soundtrack von Die Schöne und das Biest zu spielen, und ich sah Herrn von Unruh vor mir, dessen Zeiger in seinem großen, runden Disneygesicht wild im Kreis liefen.

Das machte alles keinen Sinn.

Mit einem Stirnrunzeln schielte ich rüber zur Balkontür, als ob die Antwort auf all meine Fragen da draußen läge. Doch was war da schon, außer zehn Hektar Weinberge?

Julian.

Es mochte ja absurd klingen, doch ich bekam mehr und mehr das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht ganz koscher war. Besonders er nicht. Diese ständigen Glücksgefühle, wenn er mich berührte … das war schon etwas mehr als ganz normaler Irrsinn. Das war bizarr.

Da ich meinen Flug ohnehin schon wieder verpasst hatte – zum zweiten Mal – sollte ich meine Flucht vielleicht generell um ein paar Tage verschieben und hier etwas Detektivarbeit leisten. In Anbetracht der netten Stunden, die ich gestern mit Julian verbracht hatte, und Maries herzlicher Fürsorge würden mich ein paar Tage mehr oder weniger in diesem Haus schon nicht umbringen. Selbstverständlich würde meine oberste Priorität weiterhin sein, dem Drachen aus dem Weg zu gehen. Sollte an sich machbar sein. Sie kam ja sowieso nur zu den Essenszeiten aus ihrem Zimmer gekrochen und da musste ich Gott sei Dank weder neben ihr sitzen, noch mit ihr reden. Ich würde mich einfach voll und ganz auf Julian konzentrieren – das Objekt meiner Ermittlungen.

Ich holte meinen Notizblock aus der Schublade und begann gleich die wichtigsten Dinge über ihn aufzuschreiben. Schließlich würde Sherlock Holmes genau das Gleiche tun. Und wichtig stand in diesem Fall für seltsam.

Da war zuallererst dieses merkwürdige Glücksgefühl, mit dem er mich jedes Mal infizierte, wenn er mich berührte. Ich starrte die weiße Wand vor mir an. War es denn so schlimm, sich gut zu fühlen? Nein, nein! Bleib gefälligst bei der Sache! Ich blinzelte ein paar Mal und setzte meine Liste fort. Der nächste Punkt betraf die Wiederbelebung meiner Mutter, wenn ihm niemand dabei zusah. Besser gesagt – wenn er dachte es würde ihm niemand zusehen. Dann war da noch der seltsame Moment gestern Abend, als er versucht hatte, die Welt durch meine Augen zu sehen, und ich mich dabei fast an ihn geklammert hätte. Und zu guter Letzt, das eigenartige Verhalten mit dem Vogel, als er vom Boden losstarten wollte.

Sollte ich auch das Fliegen aus meinem Traum festhalten?

Nein, der Traum war einfach nur zu verschroben, um ihn aufzuschreiben. Aber was war mit der Uhr? Ich spitzte meine Lippen. Es war wohl kaum Julians Schuld, dass der blöde Wecker ein paar Stunden zu spät losging. Ich nahm die Uhr noch mal hoch und untersuchte sie von allen Seiten. Die letzten fünf Minuten hatten die Zeiger einwandfrei gearbeitet.

Ich klopfte mir mit dem Bleistift auf die Lippen und schwang mit dem Drehstuhl im Kreis. Was könnte ich sonst noch über Julian aufschreiben …?

Ein Klopfen an der Tür jagte mir einen furchtbaren Schreck ein. Blitzschnell und in Panik stopfte ich meinen Notizblock zurück in die Schublade und knallte sie zu.

„Ja bitte?“ Meine Stimme klang, als hätte mich gerade jemand beim Stehlen der Kronjuwelen erwischt.

Marie steckte ihren Kopf zur Tür rein. „Du bist wach, wie schön. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, weil du nicht zum Frühstück erschienen bist.“

„Ja, tut mir leid. Ich hab wohl verschlafen. Der Wecker hat … ein wenig durchgedreht.“

„Mach dir keine Sorgen. Es ist Samstag, da kannst du auch ruhig mal ausschlafen. Hast du immer noch Lust, etwas gemeinsam mit mir zu unternehmen?“

Da ich ja nun beschlossen hatte, noch ein paar Tage hierzubleiben, war gegen ein paar Stunden mit meiner Tante nichts einzuwenden. Es wäre sicher nett, Marie ein wenig besser kennenzulernen. Und dann kam mir in den Sinn, dass sie ja Julian auch schon länger kannte. Sie könnte mir bei meinen Recherchen über ihn noch sehr hilfreich sein.

Ein breites Grinsen setzte sich mitten in mein Gesicht. „Sicher. Was schwebt dir denn so vor?“

Marie trat über die Schwelle, ließ aber den Türgriff nicht los. „Möchtest du gerne in die Stadt fahren? Ich muss den Kühlschrank für nächste Woche auffüllen und könnte dabei ein wenig Hilfe gebrauchen. Davor könnten wir noch für dich shoppen, irgendwo zusammen zu Mittag essen oder uns ein Eis kaufen.“

Shoppen für mich? Lady, ich hab null Kohle. Und sie wollte wohl kaum mit einer Diebin gesehen werden. Aber Eiscreme hörte sich fantastisch an. Im Jugendheim hatte es niemals Eis gegeben und mit einer Tüte in der Hand vom Eisstand abzuhauen, ohne zu bezahlen, war eine saublöde Idee gewesen. Ich hatte damals auf der Flucht die gesamte Ladung Eis im Hyde Park verloren, ehe ich ein zweites Mal daran lecken konnte.

Ich sagte meiner Tante: „Ich zieh mich nur schnell um und komm dann runter.“ Als sie aus meinem Zimmer verschwunden war, schwang ich mit dem Sessel zurück zum Schreibtisch, stand auf und zog Julians Sweater aus. Ehe ich ihn weglegte, konnte ich aber nicht widerstehen, noch einmal daran zu schnuppern. Mmm, dieses Aftershave oder was immer es war, das er verwendete, war der Stoff, aus dem Mädchenträume gemacht waren.

In der Küche hatte Marie bereits ein kleines, verspätetes Frühstück für mich auf den Tisch gestellt und räumte gerade den Geschirrspüler ein. Sogar eine kleine weiße Vase mit Veilchen stand daneben. Ich hatte kaum den ersten Bissen meines Croissants geschluckt, da kam Albert zur Tür herein und setzte sich zu mir. Er sah aus, als wollte er mir etwas sagen, doch im Moment war er still und sah mir einfach nur beim Essen zu. Ich hatte ein ungutes Gefühl im Magen. Sollte ich ihn fragen, was los war, oder so tun, als wäre nichts?

Ich hielt seinem Blick stand und riss dabei ein kleines Stück von dem Croissant ab, das ich mir dann langsam in den Mund steckte. Albert schob das Glas mit Erdbeermarmelade näher zu mir. „Wie haben dir deine ersten beiden Tage in den Weinbergen gefallen?“, fragte er unscheinbar.

„Ganz gut. Denke ich. Ist vermutlich Arbeit wie jede andere.“ Ich zuckte mit den Schultern. Dann tunkte ich meine Messerspitze in das Glas und schmierte die Marmelade auf mein Croissant. Albert ließ mich dabei nicht aus den Augen. Und ich ihn auch nicht. „Der Bodentester war cool“, sagte ich zwischen zwei Bissen und dabei kam mir ein Grinsen aus.

Mein Onkel knöpfte sich die Hemdsärmel auf und rollte sie bis zu den Ellbogen hoch. „Oui, das ist auch mein liebstes Spielzeug.“ Seine Stimme war ein wenig leiser geworden, beinahe verschwörerisch, und mein Grinsen spiegelte sich in seinem Gesicht wider.

Ich schlürfte meinen Kaffee und setzte die Tasse dann zurück. „Kümmert sich heute niemand um die Reben?“

„An Samstagen und Sonntagen teilen wir die Arbeit normalerweise in Schichten ein. Dieses Wochenende sind Valentine und Henri auf dem Feld. Alle anderen haben frei. Obwohl ich ja nachher vielleicht noch mal kurz rausschauen werde. Nur um sicherzugehen, dass auch alles in Ordnung ist.“ Er warf einen kurzen, verkorksten Blick rüber zu meiner Tante, die mit einem grunzenden Schnauben antwortete.

„Natürlich wirst du das. Wann bist du in den letzten zehn Jahren denn nicht auch samstags und sonntags in den Weinbergen gewesen?“ Maries liebevoller Ton wärmte sogar die Luft im Raum. Sie wusste wahrscheinlich nicht einmal, wie man vorwurfsvoll klang.

Albert lehnte sich zur Seite, griff nach ihrem Arm, zog sie zu sich heran und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Handinnenfläche. „Aber das hast du alles schon gewusst, bevor du mich geheiratet hast.“ Er sah zu ihr nach oben und schmunzelte dabei. „Nun ist es zu spät für Beschwerden.“ Dann wandte er sich wieder mir zu. „Ich habe dir bei der Arbeit zugesehen, Jona.“

„Ach ja?“ Falls er mir nun vorwerfen wollte, dass ich nicht mein Allerbestes gegeben hätte, müsste ich ihn wohl daran erinnern, dass dies hier keine freiwillige Sache war und sie froh sein konnten, dass ich überhaupt noch mitmachte.

Marie setzte sich neben mich auf die Eckbank und neckte mich dabei: „Es hat dir doch Spaß gemacht, gib es zu.“

Ein wenig überrascht, drehte ich mich zu ihr und machte dabei ein skeptisches Gesicht, aber wirklich widersprechen konnte ich ihr nicht.

„Und du warst uns auch eine große Hilfe“, stellte Albert mit ernster Miene fest. „Du magst vielleicht nicht besonders glücklich über die Umstände sein, warum du hier bist.“ Er verzog den Mund nachdenklich auf eine Seite und rieb sich etwas verlegen den Nacken. „Aber so wie es aussieht, wirst du wohl noch eine Weile unser Gast sein.“

Eine sehr kurze Weile. Ich leckte mir einen Tropfen Erdbeermarmelade vom Finger, lehnte mich dann zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Meine Augen schossen zwischen Marie und Albert hin und her. Was kam als Nächstes?

„Deine Tante und ich möchten dich hier zu nichts zwingen. Aber wir könnten zwei flinke Hände wie deine in den Weinbergen schon gut gebrauchen. Besonders so kurz vor der Ernte, wo alles etwas schneller gehen muss. Darum wollten wir dir anbieten, richtig für uns zu arbeiten. So wie Julian. Und nur solange du bei uns zu Besuch bist.“

Mir gefiel, wie mein Onkel meinen Zwangsurlaub hier auffasste. Im Gegensatz zu den meisten anderen schien er zu verstehen, dass dies nur meine vorübergehende Wohnsituation war und nicht mein neues Zuhause.

„Natürlich werden wir dich für die Arbeit auch bezahlen“, warf Marie ein und nickte unterstützend. „Wie hören sich zweihundert Euro pro Woche für dich an?“

Mir trocknete gerade der Mund aus, weil er so weit offen stand. Damit hatte sie mich zweifellos überrumpelt. Mühevoll kämpfte ich mich zu meinem Sprachvermögen durch. „Sagtest du gerade zweihundert? Euro?

Der Drache hatte wohl vergessen zu erwähnen, dass ich hergeschickt wurde, um Sklavenarbeit zu verrichten. Von Bezahlung war nie die Rede gewesen.

Albert zückte seine Brieftasche und zog einen Hundert-Euro-Schein heraus, den er dann auf den Tisch legte und mit der flachen Hand zu mir rüberschob. „Das ist dein Lohn für die letzten beiden Tage.“

Oder wie ich es gerne nannte: mein Ticket zurück auf die Insel!

Der kleine rote Teufel auf meiner linken Schulter rieb sich gerade die Hände und lachte hämisch. Wenn Albert ernst meinte, was er gerade gesagt hatte, und ich nur noch eine weitere Woche hier aushalten würde, könnte ich am Ende mit drei von diesen strahlend grünen Scheinen in meiner Tasche hier rausspazieren.

Mit einem skeptischen, an beide gerichteten Blick gab ich ihnen noch einmal die Chance, ihr Angebot zurückzuziehen und das Geld wieder einzustecken. Beide sahen mich nur ermutigend an. Da merkte ich, wie meine Hand klammheimlich über den Tisch schlich und sich die einhundert Euro mopste.

„Dann bist du also einverstanden?“ Die Freude im Gesicht meines Onkels machte Maries Dauerstrahlen beinahe Konkurrenz.

Ich nickte. Ganz langsam.

„Ausgezeichnet. Dann wünsche ich den Damen noch einen wunderschönen Tag.“ Albert sah von einer von uns zur anderen. „Ich werde inzwischen mal zu Henri hinausschauen. Vielleicht braucht er ja meine Hilfe mit dem Bodenscanner.“ Er zwinkerte mir zu und drehte sich dann zu Marie, um ihren liebenswerten Protest mit einem Kuss zu stoppen. Als er mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lippen zur Tür hinausspazierte und nur noch wir beide am Tisch saßen, stützte Marie ihr Kinn in ihre Hand und seufzte.

„Er ist einfach unverbesserlich.“ Da war so ein romantischer Schimmer in ihren Augen, der mich rätseln ließ, ob sie ihn bereits nach diesen paar Sekunden vermisste. „Wenn du mit dem Essen fertig bist, kann ich dich vielleicht darum bitten, den Tisch abzuräumen? Ich möchte noch schnell eine Ladung Wäsche in die Waschmaschine schieben, bevor wir beide uns auf den Weg machen.“

„Klar.“ Als ich allein in der Küche war, summte ich mein kleines Lied und räumte dabei die Butter und Marmelade zurück in den Kühlschrank. Meine Tasse und den Teller spülte ich unter der Wasserleitung, da der Geschirrspüler bereits lief. Dabei spritzte ich ein paar Tropfen auf mein T-Shirt. Mit Blick nach unten rieb ich den Stoff auf dem Weg nach draußen trocken und stieß dabei mit Julian zusammen, der gerade in die Küche kam.

Wenn er nicht so schnell seinen Arm um mich gelegt hätte, um mich zu halten, wäre ich geradewegs gegen die Kommode mit der blau-weißen Vase gestolpert. Marie wäre bestimmt sauer oder zumindest sehr traurig gewesen, wenn ich die Vase zerbrochen hätte. Die sah ganz schön teuer aus.

„Whoa, ´Tschuldigung“, stieß er überrascht hervor.

„Schon okay. Ist ja nichts passiert.“

Obwohl ich bereits wieder fest auf meinen eigenen Beinen stand, ließ mich Julian nicht gleich los. Ich mochte, wie sein linker Mundwinkel nach oben wanderte und er seine Augenbrauen ein wenig tiefer zog. Alles was jetzt noch fehlte, damit ich mich in diesen Burschen verlieben würde, war das anzügliche Knurren eines Tigers.

Ein beängstigender Gedanke huschte mir in diesem Moment durch den Kopf. Was würde wohl passieren, wenn ich meine Hände auf seine Wangen legte, seinen Kopf zu mir nach unten neigte und ihn küssen würde?

Bei dir piept’s wohl!

War vermutlich so. Ich schaufelte den Gedanken beiseite. Ein Kuss würde bedeuten, meine Schutzmauer um mich aufzugeben. Und das durfte keinesfalls passieren. Ich drückte gegen seine Brust und befreite mich aus seiner Umarmung, die ja mittlerweile völlig überflüssig geworden war. „Lass mich los. Du zerdrückst mich ja.“

Julian steckte die Hände in die Taschen seiner dunklen Skater-Hose und betrachtete mich mit durchdringenden Augen. „Tut mir leid. Ich hab wohl vergessen, dass hier unten im Erdgeschoß keine unmittelbare Lebensgefahr für dich besteht.“

„Zumindest würde ich hier sicher nicht weit fallen und mir das Genick brechen.“

Er ignorierte meinen schnippischen Tonfall und lehnte sich um die Ecke, um einen Blick in die Küche zu werfen. „Ist deine Tante hier irgendwo?“

„Macht gerade die Wäsche.“

„Ich bin hier, Julian!“ Marie kam gerade die Treppen vom Keller rauf und hielt einen Korb voll frisch duftender Kleider unter ihrem Arm eingeklemmt. „Was brauchst du denn?“

„Kann ich mir euren Wagen ausleihen? Ich muss in die Stadt und etwas besorgen.“

Marie sah unsicher zu mir und wieder zurück zu Julian. „Jona und ich brauchen das Auto. Wir wollen auch in die Stadt. Aber du kannst ja mit uns fahren.“

Julian runzelte bedenklich die Stirn. „Ihr zwei wolltet doch einen Mädelstag machen. Da will ich wirklich nicht stören.“

Die Hände hinter meinem Rücken verschränkt, wippte ich auf meinen Fußballen auf und ab und sagte mit einer auffallend hoffnungsvollen Stimme: „Du störst nicht.“

Als Erstes wanderte nur Julians Blick zu mir, dann drehte er schließlich seinen Kopf in meine Richtung und neigte ihn leicht schief. Seine Lippen wurden schmal und seine Augenbrauen formten beinahe eine durchgehende Gerade. Jap, diesen Blick kannte ich. Er fragte sich gerade, was ich im Schilde führte.

Tja, Sherlock Holmes nutzte eben jede Gelegenheit, die sich ihm bot.

Als ich ihn als Reaktion auf seine Skepsis nur anlächelte, musste er schließlich einsehen, dass er im Moment nichts aus mir herausbekam. „Okay“, sagte er langsam. „Ich sehe nur noch kurz nach deiner Mutter und treffe euch dann draußen.“ Unsere Blicke waren wie miteinander verkettet, als er an mir vorbeiging. Oh, so misstrauisch. Er sah sogar noch mal zurück über seine Schulter.

„Beeil dich!“, rief ich ihm nach und klang dabei wie ein aufgeregtes Lämmchen.

Seine Augenbrauen wanderten noch mal ein paar Zentimeter tiefer, bevor er im Zimmer meiner Mutter verschwand.

Oh, der Tag wurde von Minute zu Minute besser.

Kapitel 13

Bestellung auf Französisch

Vom Rücksitz aus hatte ich eine gute Aussicht auf Julian, der im Beifahrersitz von Maries Geländewagen saß. So weit, wie es der Gurt zuließ, lehnte ich mich gegen die Tür, hob meine Beine auf den Sitz und betrachtete sein Gesicht etwas genauer, während wir über die holprige Landstraße fuhren. Bis jetzt war mir noch nie aufgefallen, wie seine perfekte, gerade Nase mit den hohen Wangenknochen und den intelligenten Augen harmonierte.

Julian drehte seinen Kopf nur ein paar Zentimeter, doch durch sein amüsiertes Lächeln war mir klar, dass ich ertappt worden war. Wahrscheinlich wurde ich gerade rot wie ein Stoppschild. Ich senkte meinen Blick, jedoch nicht für lange. Als ich wieder hochsah, blinzelte Julian noch zweimal, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn.

Draußen vor dem Fenster huschte die romantische französische Landschaft vorbei. Vielleicht sollte ich mich besser eine Weile darauf konzentrieren.

Nachdem wir die Ortstafel von Fontvieille passiert hatten, bog Marie in eine Einbahnstraße mit faszinierenden bunten Fassaden, die die gesamte Straße säumten. Dahinter konnte man in der Ferne die Berge erkennen. Marie parkte zwischen einem grünen Minivan und einem Cabrio und stellte dann den Motor ab.

Sobald ich die Wagentür aufgemacht hatte, konnte ich bereits das leise Gemurmel der Einkäufer um die Ecke hören, und ich wurde doch tatsächlich ein wenig aufgeregt. Ich stieg mit den anderen aus und folgte ihnen zum geschäftigen Marktplatz, doch dann blieb ich fassungslos stehen. Ein Hauch von Heimat lag über diesem Platz und rief in mir die Erinnerung an Freitagnachmittagsraubzüge wach.

„Hier sieht’s ja aus wie auf der Oxford Street“, stieß ich begeistert hervor und drehte mich dabei im Kreis, um auch all die kleinen Boutiquen und Geschäfte hinter mir zu sehen.

Julian stupste mich leicht mit dem Ellbogen in die Rippen und kicherte. „Nur ein bisschen kleiner, hm?“

„Viel kleiner.“ Aber das machte überhaupt nichts. Der sonnendurchströmte Marktplatz war eine gelungene Imitation. Als wir die Straße runter schlenderten, fiel mein Blick auf einen kleinen Stand mit allerlei T-Shirts, Shorts und auch ein paar Sweatern. Es waren wunderschöne, samtig weiche Stückte darunter. Es juckte mich beinahe in den Fingern, mir ein oder zwei Tops zu stibitzen. War wohl eine alte Gewohnheit. Doch ich schob meine Hände tief in die Hosentaschen. Mit Maries großzügiger Spende brauchte ich mich um neue Kleider nun wirklich nicht mehr zu sorgen.

Nichtsdestotrotz bot sich mir auf diesem öffentlichen Marktplatz gerade eine ganz andere Gelegenheit. Ich könnte ein wenig langsamer gehen, falsch abbiegen und mich blitzschnell aus dem Staub machen. Marie und Julian würden mich in diesem Getümmel niemals finden.

Tja, gestern hätte ich den Plan wahrscheinlich sogar in die Tat umgesetzt, um meiner Strafe namens Familie zu entkommen. Doch heute Morgen hatte ich eine Entscheidung getroffen und für den Moment würde ich auch dazu stehen.

Julian überraschte mich, als er sich plötzlich näher in meine Richtung lehnte und leise in mein Ohr sagte: „Sollte ich ein Auge auf dich haben, nur für den Fall, dass du uns in der Menge noch verloren gehst?“

Ich knirschte mit den Zähnen. Der konnte echt sein Geld auf einem Jahrmarkt mit Gedankenlesen verdienen. „Wenn du dir solche Sorgen um mich machst, hättest du wohl besser Quinns Handschellen mitnehmen sollen.“

Julian legte seinen Arm um meine Schultern und zog mich an sich heran, als wir weitergingen. „Vielleicht hab ich sie sogar dabei“, sagte er mit einem Schmunzeln und zog mit seiner freien Hand etwas aus seiner Hosentasche. Der blanke Stahl der Handschellen funkelte boshaft im Sonnenlicht.

Fassungslos stieß ich Julian weg. „Du meine Güte! Wer bist du? Abes böser Zwillingsbruder? Du wirst mir die ganz sicher nicht anlegen!“

Julian ließ die Handschellen wieder in seiner Tasche verschwinden. „Entspann dich, Jona. Das hatte ich auch nicht vor.“ Mit erhobenen Händen kam er aber dann wieder näher und grinste mich schief an. „Solange du versprichst, nicht abzuhauen.“

Solange er dieses nette Lächeln beibehielt, würde ich wahrscheinlich alles tun, worum er mich bat. Das kleine Mädchen in mir seufzte verträumt. Nach außen hin bemühte ich mich jedoch, cool zu bleiben. „Okay, Daddy. Möchtest du vielleicht auch noch meine Hand halten?“

Er biss sich auf die Unterlippe. Oh mein Gott, dachte er tatsächlich darüber nach? Ein entrüstetes Stöhnen entfuhr mir. „Das ist nicht dein Ernst!“

Seine linke Augenbraue schob sich andeutungsweise nach oben.

„Ich werd schon nicht abhauen, okay?“, versicherte ich ihm. Dann musste ich aber selber lachen. Das war sicher eine der dümmsten Unterhaltungen, die ich in meinem Leben geführt hatte. Zumindest mit einer echten Person. Mit den Tauben im Park zu reden zählte hier nicht.

Wir folgten Marie, die bereits ein paar Meter weiter die Straße runter spaziert war und sich gerade in einem Schaufenster verlor. Julian stupste mich noch einmal mit seinem Ellbogen und bot mir dann seinen Arm an.

„Ist das deine Rückversicherung, dass ich nicht doch noch verloren gehe?“ Sozusagen eine Alternative zu den Handschellen.

Julian blinzelte langsam und bewegte dabei seinen Arm nicht von der Stelle. „Komm schon. Ich warte nicht ewig.“

„Überhaupt nicht aufdringlich, Julian.“ Ich verdrehte die Augen, schlang aber dann meine Hand um seinen Arm und spürte, wie sein Bizeps zuckte, als er seine Hand in die Hosentasche schob. Hmm. Fühlte sich gut an. Ich könnte mich daran gewöhnen.

Als wir Marie erreichten, schwärmte sie gerade von einem karamellfarbenen Pullover in der Auslage. „Sieh nur, Jona. Der würde dir wunderbar–“ Sie unterbrach sich selbst, als sie sich zu uns umdrehte. Ihr Mund formte ein erstauntes, wenn auch freudiges Oh.

„Oh, nein, nein, nein! Das ist absolut nicht das, wonach es aussieht.“ Verdammt. Der Satz klang irgendwie komisch aus meinem Mund. „Julian fürchtet nur, ich könnte in der Menge“ – untertauchen – „verloren gehen.“

„Ach so.“ Sie drehte sich wieder zum Schaufenster zurück. In der blank geputzten Fensterscheibe spiegelte sich ihr entzücktes Lächeln. Sie glaubte mir wohl kein Wort. Und ganz offenbar war sie begeistert darüber, dass Julian und ich irgendwie, na ja, verlinkt waren.

Ganz toll. Danke, Julian.

Marie entschied, dass wir in diesem Geschäft mit unserer Shoppingtour beginnen sollten, und lenkte uns durch die breite, automatische Schiebetür.

Julian blieb allerdings davor stehen und ich ließ seinen Arm los. „Ich bin sicher, ihr Ladies braucht mich da drinnen nicht wirklich. Ich werde in der Zwischenzeit schnell zu Pauls Piano-Shop laufen und sehen, ob er etwas Neues für mich da hat. In zehn Minuten bin ich zurück.“ Sein Blick streifte meinen und seine Stimme wurde tiefer und sanfter. „Viel Spaß.“ Die Tür ging zu, als er einen Schritt zurück machte und in die Richtung losmarschierte, aus der wir gekommen waren.

Marie legte ihre Hand auf meinen Arm und lächelte sanftmütig. „Das Musikgeschäft ist nur einen Block entfernt. Julian wird bald wieder zurück sein.“

Ach du Scheiße, ich hatte wohl etwas zu lange hinter Julian her gestarrt. Mürrisch stapfte ich davon, doch ihr Kichern verfolgte mich.

Binnen Kurzem demonstrierte Marie, wozu eine französische Frau in Einkaufslaune im Stande war. Sie rauschte von einer Ecke des weitläufigen Ladens zur anderen und sammelte dabei Dutzende Kleidungsstücke ein, die sie alle über ihren Arm hängte. Mit ihrer freien Hand zog sie mich am Ärmel in Richtung einer der sieben Umkleidekabinen im hinteren Bereich. „Komm, Chérie. Lass uns die Sachen anprobieren.“

Schockiert blieb ich stehen und mit mir auch meine Tante, die meinen Ärmel zu spät losgelassen hatte. Die Wagenladung Kleider rutschte dabei fast von ihrem Arm. „Was ist?“, fragte sie. „Ich bin sicher, ich habe überall die richtige Größe für dich herausgesucht. Und es sind so niedliche Sachen darunter.“ Sie hielt mir den Haufen aus Regenbogenfarben entgegen.

Mit niedlich konnte ich nichts anfangen. Und was noch viel wichtiger war: Ich hatte nicht vor, auch nur einen Cent meines hart verdienten Geldes für Kleider auszugeben. Das war mein Ticket nach Hause. Und Klamotten hatte ich ja zurzeit ohnehin genug. „Ehrlich, ich brauche keine neuen Sachen. Was du mir diese Woche geschenkt hast, reicht sicher für die nächsten zehn Jahre.“

Sie wischte mein Argument mit einer Hand beiseite. „Unsinn. Kleider kann man doch nie genug haben.“ Dann schlich plötzlich ein Schimmer von Zweifel in ihre grünen Augen. „Oder geht es dir vielleicht um den Preis? Natürlich musst du für nichts bezahlen, solange du bei uns lebst, Jona. Albert und ich werden alle Kosten übernehmen. Das ist doch klar.“

Die Großzügigkeit meiner Tante und meines Onkels kannte offenbar keine Grenzen. „Danke. Aber das wird auf gar keinen Fall nötig sein“, murmelte ich. „Ich brauche wirklich nichts.“

Maries Mund verzog sich zu einem Schmollen. Na schön. Aber wenn du doch noch etwas findest, das dir gefällt, dann sag es mir bitte.“

Das würde zwar nicht passieren, trotzdem nickte ich, nur um sie glücklich zu machen. Eine Sekunde später war sie auch schon in einer der Kabinen mit Schwingtür verschwunden, und ich hatte Gelegenheit, mich ein wenig umzusehen, wenn auch nur zum Spaß. An allen Ecken standen schlanke Schaufensterpuppen, die die neueste Mode zur Schau stellten. Eine von diesen Puppen sah aus wie eine Afrikanerin, nur ohne Haare. Ich blieb stehen und bestaunte ihr kurzes granatapfelrotes Kleid.

Es war schulterfrei und man musste die Träger im Nacken verschließen. Der tiefe, herzförmige Ausschnitt formte ein tolles Dekolleté. Die Taille war höher angesetzt, im Babydoll-Stil. Es wirkte irgendwie mädchenhaft und gleichzeitig sehr elegant. Die schlanken Beine der Puppe zeichneten sich unter den drei hauchdünnen Lagen von Stoff ab, die den Rock bildeten. Außerdem hatte man ihre Füße in halsbrecherische High Heels gepackt. Das ganze Paket war atemberaubend.

„Du würdest sicher umwerfend in diesem Kleid aussehen. Ein wenig ungewohnt vielleicht, aber bezaubernd.“

Ich wirbelte herum und fand Julian lässig ausgestreckt in einem quadratischen Ledersessel neben einer anderen Puppe drei Meter entfernt. Den Kopf nach hinten auf die Rückenlehne gelegt und die Hände über dem Bauch verschränkt, blinzelte er unter seinen langen Wimpern hervor. Seine Mundwinkel zuckten.

Ich lachte laut. „Du spinnst. Ich in dem Kleid? Niemals.“

„Was passt dir denn daran nicht?“ Er richtete sich auf und lehnte sich dann, mit den Ellbogen auf die Knie gestützt, vor.

Ich machte einen Schritt zur Seite, um ihm einen besseren Blick auf die Puppe auf dem breiten weißen Podest zu gewähren, und fuchtelte wild gestikulierend vor dem Kleid herum. „Na, es ist knallrot.“

„Ja und?“ Geschmeidig wie ein Kater stand er von dem Ledersessel auf, schob die Hände in die Taschen und kam auf mich zugeschlendert. „Ein wenig Farbe würde dir zur Abwechslung mal ganz gut stehen. Warum trägst du eigentlich immer nur Schwarz? Du gehst ja nicht zu einer Beerdigung.“

„Noch nicht.“

„Jona“, sagte er mit tiefer Stimme. „Ich meine es ernst.“

Das tat ich auch. Doch dann zuckte ich mit den Schultern. „Keine Ahnung. Mir gefällt Schwarz eben. Damit fällt man am wenigsten auf.“

„Was wiederum ganz praktisch ist, wenn die Polizei hinter einem her ist, nehme ich an.“ Ein Zucken in seinem Kiefermuskel und ein Grübchen verrieten mir, dass er sich gerade wieder ein Schmunzeln verkniff.

Großartig. An mir nagte der Zorn. Die alltäglichen Eskapaden aus meinem Leben schienen ihn ja sehr zu erheitern. „Warum auf den ganzen Spaß verzichten?“, konterte ich. „Ein Adrenalinkick, wie man ihn während der Flucht spürt, würde dir und deinem steifen Leben vielleicht auch mal ganz gut tun.“ Ich setzte ein falsches Grinsen auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Uuh, Zicke“, sagte er affektiert. „Beißt du auch?“ Julian biss zweimal die Zähne aufeinander, sodass sie laut klapperten, machte kehrt und spazierte davon.

Ich hörte noch sein heiteres Lachen, woraufhin ich ihm den Mittelfinger zeigte, doch er sah es nicht mehr. Als er verschwunden war, wandte ich mich noch einmal dem Kleid zu. Ich … in Granatapfelrot. Der hatte doch einen Knall.

„Ich denke ich werde diese Hose und die paar Blusen nehmen“, hörte ich Marie etwas weiter hinter mir sagen. Ich drehte mich zu ihr um. Sie hielt gerade eine der Blusen hoch und betrachtete sie mit Skepsis, als wäre sie sich bei diesem Teil doch noch nicht ganz sicher. Schließlich legte sie sie aber zu den anderen über ihren Arm und sah zu mir hoch. „Gefällt dir das Kleid?“

Ich ließ erschrocken den Stoff des Rockes los. „Nein.“

„Warum nicht?“

„Ist nicht meine Farbe.“

Marie bestaunte nun die Puppe von oben bis unten, so wie ich gerade eben. „Ich denke, das Kleid würde dir sehr gut stehen.“

Nein, bitte. Nicht sie auch noch. „Bist du hier fertig? Ich hab vorhin auf der anderen Straßenseite einen netten Laden gesehen. Da können wir nachher noch reinschauen.“ Die Lüge sollte sie ablenken, damit sie das dumme Kleid vergaß und mich nicht auch noch dazu überreden wollte, es anzuprobieren.

„Ja natürlich. Wir können gleich los.“ Sie ging voraus und ich folgte ihr zur Kasse. Nachdem sie die Ladung auf dem Tresen abgelegt hatte, kramte sie in ihrer Tasche nach ihrer Kreditkarte und fragte mich nebenbei: „Ist Julian schon zurück?“

„Er wartet draußen.“

Die Verkäuferin scannte die Etiketten und schlichtete alles fein säuberlich in eine große Plastiktüte. Auf dem Display der Kasse stand am Ende ein Betrag von hundertneunundzwanzig Euro und siebzig Cent.

„Donnerwetter! So viel für ein Paar Hosen und drei Shirts?“, rief ich bestürzt.

Die Verkäuferin sah mich strafend an, doch meine Tante zuckte bei der Summe nicht einmal mit der Wimper. Als sie bezahlt und den Bon unterschrieben hatte, nahm sie mich bei der Hand und führte mich nach draußen, wo Julian schon auf uns wartete. Er trank gerade aus einer kleinen Flasche Mineralwasser, wischte dann den Rand mit seiner Handfläche ab und hielt mir die Flasche entgegen.

„Danke“, sagte ich und gab sie ihm zurück, nachdem ich einen großen Schluck genommen hatte. Er nickte einmal kurz.

Wir drei machten anschließend eine Tour durch vier weitere Geschäfte. Diese Frau war unersättlich. Sie kaufte Sweater, Blusen, Röcke und Schuhe. Am Ende mussten Julian und ich ihr bereits beim Tragen helfen, damit sie nicht wie ein Packesel die Straße entlanglaufen musste. Mindestens fünfhundert Euro hatte sie an diesem Vormittag ausgegeben, bevor wir uns endlich einen netten Platz auf der Terrasse eines kleinen Bistros suchten. Mein Magen knurrte schon seit einer halben Stunde und ich freute mich auf einen Happen zu essen.

Ich schnappte mir eine der laminierten Speisekarten auf dem Tisch und begann die Gerichte zu lesen. Doch da stand alles nur auf Französisch. Ich drehte die Karte um, doch auf der Rückseite war nur ein dicker Koch abgebildet, der seinen Arm um die Schultern eines mannshohen Baguettes schlang.

Julian sah mich über seine Karte hinweg mit einem Stirnrunzeln an. „Was ist los?“

Ich lehnte mich weiter zu ihm und flüsterte: „Da steht alles auf Französisch.“

Lächelnd verdrehte er die Augen. „Du bist hier in Frankreich, Jona. Natürlich steht da alles auf Französisch.“ Die metallenen Beine seines Stuhles scheuerten über den Asphalt, als er näher rutschte. „Komm, ich werd’s dir übersetzen.“ Er begann erst die Gerichte auf Französisch vorzulesen, wobei jedes Wort sinnlich von seiner Zunge rollte, und übersetzte sie dann in eine Sprache, die auch ich verstand. Am Ende war ich versucht, ihn zu bitten, mir die Karte doch noch einmal vorzulesen. Auf Französisch. Allein bei dem Gedanken daran bekam ich schon heiße Wangen, also ließ ich es lieber sein und entschied mich für ein Nudelgericht.

Als ein Kellner, der verblüffende Ähnlichkeit mit einem Pinguin hatte, an unseren Tisch kam, bestellte Julian für mich. „Möchtest du ein Glas Cola dazu?“, fragte er. Ich nickte und er gab die Bestellung weiter.

Nach zwanzig Minuten bekamen wir unser Essen. „Pour Mademoiselle“, sang der Pinguin und stellte mir eine Riesenportion Spaghetti hin.

„Gracias“, erwiderte ich und schenkte ihm ein stolzes Grinsen.

Julian schüttelte seinen Kopf, schmunzelte dabei und begann sein Hühnchen in Weinsauce zu verzehren. Ich war halb am Verhungern, also haute ich ordentlich rein, bis alle Nudeln und auch der letzte Tropfen Sauce verputzt waren.

„Möchtest du noch einen Nachtisch?“, fragte mich Marie und legte dabei ihre Hand auf meine, während der Kellner die Teller abräumte.

Ich tätschelte meinen prallen Bauch. „Ich glaub nicht, dass da noch was reinpasst.“

„Ach was. Ein wenig Eiscreme wird schon noch Platz haben, meinst du nicht?“

Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

Ohne auf meine Antwort zu warten, drehte sich Marie zum Kellner und sagte ihm etwas, das ich wieder einmal nicht verstand. Der Kellner nickte. „Möchtest du auch ein Eis?“, fragte sie Julian.

„Für mich nichts mehr, danke.“

Der Pinguin huschte davon und brachte mir und Marie kurz darauf je einen Eisbecher, der so hoch war, wie mein Schuh lang, und bis zum Rand gefüllt mit herrlichem Vanille- und Schokoladeneis. Obendrauf war noch eine Wagenladung Schlagsahne, in der zwei Waffelröllchen steckten. Ich schob einen Riesenlöffel voll in den Mund und wurde augenblicklich mit Hirnfrost gestraft. Dreiviertel des Bechers schaufelte ich daraufhin etwas langsamer leer, doch dann war endgültig Sendepause.

„Bitte“, jammerte ich und warf Julian dabei einen Welpenblick zu. „Kannst du mir nicht helfen, den Monsterbecher aufzuessen? Ist doch schade um das leckere Eis.“

Marie, die bereits mit ihrem Becher fertig war, gab Julian ihren langstieligen Löffel. Abwechselnd löffelten wir den Rest Eiscreme aus dem Glas. Am Ende fischte Julian eine Kirsche von ganz unten heraus. Sie war der krönende Abschluss.

Ich war zum Platzen voll und alles spannte bereits um meinen Bauch, doch diese kleine Kirsche sah verboten lecker aus. Noch nie hatte ich Gelegenheit gehabt, eine zu kosten. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen.

Aus Julians Augen grinste der Schalk, als er seinen Löffel mit der Kirsche darauf an seinen Mund führte. Mein Herz sackte nach unten und mein sehnsüchtiger Blick verwandelte sich in ein enttäuschtes Schmollen. Da zwinkerte mir Julian zu und balancierte die Kirsche auf dem Löffel in meine Richtung. Er hielt sie mir direkt unter die Nase.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Sollte ich sie ihm wirklich wegschnappen? Schließlich hatte er sie als Erster entdeckt.

„Jetzt mach schon. Sie gehört dir“, forderte er mich mit einem Lächeln auf.

Ich öffnete den Mund und Julian fütterte mich mit der kleinen roten Frucht. Dabei waren seine Augen die ganze Zeit auf meine gerichtet. Ich bekam fast eine Gänsehaut. Die Kirsche platzte zwischen meinen Zähnen. Whoa. Den sauren Geschmack hatte ich nicht erwartet. Ich verzog das Gesicht und schluckte das Fruchtfleisch, ließ den Kern aber im Mund. Ich rollte ihn an meinen Zähnen entlang, als wir wenig später das Bistro verließen und zu Maries Wagen zurück spazierten.

Wir legten noch einen kurzen Stopp beim Supermarkt ein, wo meine Tante noch einmal ein kleines Vermögen für Lebensmittel und Säfte ausgab, dann fuhren wir die Landstraße entlang zurück nach Hause.

Mit jeder weiteren Meile, die wir hinter uns ließen, sank meine gute Laune etwas mehr. Der Tag mit Marie und Julian war wunderschön gewesen. Doch bereits in ein paar Minuten würde die Visage meiner Mutter wieder alles zerstören.

Kapitel 14

Ein Lied für Jona

Zu Hause angekommen, schleppten Julian und ich die schweren Einkaufstüten hinter Marie in die Küche. Kaum hatten wir die Tür geöffnet, stieg mir auch schon der warme Duft von Schokoladenkuchen in die Nase und nahm mich mit auf eine Reise zurück in meine Kindheit. Ganz plötzlich verspürte ich den Wunsch, mich auf den Zehenspitzen zu drehen, bis mir schwindlig wurde. Ein Kichern entwischte mir, ohne dass ich es wollte. Doch der Anblick meiner Mutter, die sich gerade zum Backofen hinunterbeugte und den Kuchen herauszog, half schnell, dieses seltsame Verhalten unter Kontrolle zu bekommen.

„Ihr kommt gerade richtig zum Kaffee“, freute sie sich, als wir hereinkamen und die Tüten auf der Theke abstellten. „Ich hab deinen Lieblingskuchen gebacken, Jona.“

Wut fuhr spiralartig in mir hoch. Nicht nur, weil sie es wieder einmal gewagt hatte, mit mir zu plaudern, als trennten uns keine furchtbaren zwölf Jahre, sondern weil es eine Erinnerung war, die nur ihr und mir gehörte und die mich gerade zum Lächeln gebracht hatte. Ich kämpfte darum, mich wieder im Hier und Jetzt zu verankern und die Dinge aus meiner Vergangenheit im dunkelsten Verließ meines Gehirns wegzusperren, wo sie auch die letzten paar Jahre verschlossen waren.

„Und warum genau bist du dir so sicher, dass du auch nur ansatzweise weißt, was ich mag und was nicht? Ist ja nicht so, als hättest du in letzter Zeit mal im Heim vorbeigeschaut, um es herauszufinden.“ Meine giftige Stimme brachte mir einen kritischen Stoß von Julians Ellbogen in die Rippen ein. Es war mir scheißegal. Schließlich tat der Stoß ja nicht so weh wie der Stich, den ich vor einer Minute in meiner Brust gespürt hatte. Ich sah Julian nicht einmal an, sondern drehte mich um und suchte mir einen Platz am Tisch.

Marie brachte kurz darauf die Kaffeekanne und füllte unsere Tassen, während Charlene den Kuchen aufteilte. Sie reichte auch mir ein Stück auf einem weißen Teller.

Der Teufel sollte mich holen, wenn ich auch nur einen Bissen von dem verdammten Kuchen essen würde. Ich sah ihr fest in die Augen, hatte all die alten Erinnerungen wieder vergraben und sagte dann gefühllos: „Nein danke. Ich verzichte auf deinen beschissenen Kuchen.“ Die Temperatur um mich herum hatte gerade den Nullpunkt erreicht.

Meine Tante und mein Onkel tauschten daraufhin unbehagliche Blicke aus, doch keiner der beiden sagte ein Wort. Aber natürlich konnte einer seinen Mund wieder einmal nicht halten. Julians zarte Finger griffen nach meinem Kinn und er drehte mich mit dem Gesicht zu sich. „Hat dir schon mal jemand gesagt, was für ein rotzfreches Kind du bist?“

Kind? Ich war kein Kind mehr! Kinder hatten Mütter. Ich hatte keine.

Doch was er sagte, war gar nicht so wichtig. Es war sein enttäuschter und vielleicht sogar verletzter Blick, der mich wirklich traf. Ich starrte immer noch sprachlos in seine Richtung, als er bereits Zucker in seinen Kaffee löffelte, umrührte und sich dann in seinem Stuhl zurücklehnte, ohne einen Schluck zu trinken. Unglaublich, wie er es geschafft hatte, dass ich mir plötzlich wünschte, ich hätte nichts zu meiner Mutter gesagt.

Es jagte mir eine Heidenangst ein, wie viel mir seine Meinung plötzlich wert geworden war. Es war mir doch sonst immer egal gewesen, was Leute über mich dachten. Was war diesmal anders?

Ich schlürfte meinen Kaffee schwarz und schnell, um den grausigen Geschmack von schlechtem Gewissen runterzuspülen. Dann entschuldigte ich mich von der Runde, die gerade genüsslich ihren Kuchen aß, und machte mich aus dem Staub. Ich brauchte etwas Zeit für mich. Den ganzen Tag so viele Leute um mich zu haben strengte auf Dauer ganz schön an. Im Jugendheim hatte ich drei Viertel meiner Zeit alleine in meinem Zimmer verbracht. Das war hier unmöglich.

Umso überraschter war ich, als ich mich plötzlich in den Weinbergen wiederfand und nicht, wie erwartet, zusammengerollt und schmollend auf meinem Bett.

Dieser Ort war mir in den letzten Tagen so sehr ans Herz gewachsen, dass mir die Arbeit hier draußen heute richtig fehlte. Ich blieb auf dem Kiesweg stehen und massierte die Stelle zwischen meinen Augen mit Daumen und Zeigefinger. Ein zögerlicher Blick zurück zum Haus und nach oben zu meiner offenen Balkontür bestätigte meine beängstigende Vermutung. Ich war dabei, mich in diesen gottverdammten Ort zu verlieben. Scheiße noch mal. Ich drehte mich um und fuhr mir verzweifelt mit den Fingern durchs Haar, doch mein Blick schweifte zurück zu Julians und meinem Balkon. Ein langes Seufzen verließ meine Lippen.

Was würde Quinn jetzt sagen, wenn er mich hier sehen könnte? Mir fehlte mein Freund. Sein Schimpfen, wann immer ich wieder auf dem Polizeirevier aufgetaucht war, genauso sehr wie unsere frechen Unterhaltungen, wenn er mich vor dem Ausliefern an die Heimleitung noch schnell zu McDonald’s auf einen Cheeseburger und eine Cola entführt hatte.

Er würde wollen, dass ich glücklich war. Wenn du etwas nicht ändern kannst, dann mach das Beste draus. Das waren immer seine Worte gewesen. Vielleicht sollte ich endlich einmal auf ihn hören.

Ich kickte ein paar Steine aus dem Weg und konnte dadurch etwas Dampf ablassen. Doch die Zweifel und die Verwirrung ließen sich nicht so einfach wegpfeffern. Ich war in meinem Leben schon so oft weggelaufen, wenn ich wieder etwas Kleingeld oder ein paar neue Klamotten gestohlen hatte. Zweimal war ich sogar aus dem Heim abgehauen. Doch ich hatte es als blinder Passagier im Zug nie weiter geschafft als bis Gatwick oder Chelmsford. Ein Schaffner hatte mich jedes Mal erwischt und die Behörden verständigt.

Ich war es ziemlich leid geworden, immer nur vor etwas oder jemandem wegzulaufen. Vielleicht konnte ich – wenn auch nur für eine kurze Weile – die Vorteile dieses hübschen Hauses genießen, ohne mir den Kopf zu zerbrechen, was der nächste Tag für mich bringen würde.

Umgeben von all dem Grünzeug in den Weinbergen hob ich meinen Kopf und sah zum Himmel. „Was ist dein verdammter Plan für mich, häh?“ Ein paar Sekunden lang betrachtete ich die vorbeiziehenden Wolken, doch als klar war, dass es für mich keine Antwort gab, außer dass mir vielleicht ein Vogel ins Gesicht kacken würde, steckte ich die Hände in die Taschen und schleppte mich zurück zum Haus.

In der Küche war niemand mehr, doch ich hörte Stimmen aus dem Wohnzimmer. Ich erkannte Charlene an ihrem gedämpften, verzweifelten Ton. Auf gar keinen Fall wollte ich lauschen. Schließlich interessierte mich der Drache ja auch kein Stück. Doch als ich bereits die zweite Stufe der Treppe nach oben erreicht hatte, erwähnte sie plötzlich meinen Namen, und da änderte ich meine Meinung. Vielleicht sollte ich doch lieber kurz zuhören.

Ich schlich zurück nach unten und lauschte vor der angelehnten Wohnzimmertür.

„Sie wird ihre Meinung schon noch ändern, vertrau mir.“

Ich hatte eine unangenehme Vorahnung, was Julian damit meinte.

Meine Mutter klang den Tränen nahe, als sie antwortete: „Aber was ist, wenn sie mir niemals vergeben kann? Du siehst doch selbst, wie sehr sie mich hasst.“

Oh ja, ich lag goldrichtig mit meiner Vorahnung. Was mich allerdings überraschte, war, dass sich der Drache eher Julian anvertraute, als jemandem, der ihr doch viel näher stand, so wie Marie. Julian war schließlich nur ihr Pfleger und gehörte nicht zur Familie.

„Gib ihr einfach etwas mehr Zeit“, erwiderte Julian in dieser ruhigen Stimme, die auch ich schon öfter zu hören bekommen hatte. Zum Beispiel letzte Nacht, als er mich hinaus auf den Balkon gezogen hatte.

„Von allen hier weißt du doch am allerbesten, dass ich keine Zeit mehr habe!“

So hart es auch war, dies zuzugeben, aber der Kummer meiner Mutter schien wirklich aufrichtig zu sein. Sie so zu hören gab meinem Herz einen seltsamen Stich. Und das war nun schon der zweite innerhalb einer Stunde.

„Hab Geduld“, beschwichtigte sie Julian. „Ruh dich aus. Und spar deine Kräfte. Ich werde mich um alles Weitere kümmern.“ Dann wurde es plötzlich still im Zimmer.

Am liebsten hätte ich mich um die Ecke gelehnt, um zu sehen, was da drin vor sich ging. Doch ich durfte mich nicht verraten. Es fröstelte mich, als ich mich gegen die kalte Mauer hinter mir lehnte, zum Dach hochblickte und darauf wartete, dass einer der beiden etwas sagte.

Unharmonische Noten kamen vom Klavier, so als ob jemand im Vorbeigehen wahllos ein paar Tasten drückte. Dann räusperte sich meine Mutter. „Du hast dich verändert.“ Sie sprach viel leiser als zuvor.

Mit einem Hauch von Arroganz in der Stimme antwortete Julian: „Ach so?“

Mir war nichts an ihm aufgefallen. Er wirkte auf mich wie immer. Doch dann lag es wohl auch daran, dass ich ihn erst seit ein paar Tagen kannte. Vielleicht war die Veränderung, von der Charlene sprach, ja schleichend über die vergangenen Monate gekommen. Meine Neugier brachte mich beinahe um. Konnte dieses Weib vielleicht auch etwas präziser sein?

„Ich kenne diesen Blick“, fuhr sie endlich fort und klang dabei alles andere als freundlich. „Doch gerade du solltest wissen, dass es keine Möglichkeit für dich gibt.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Knapp und kalt. Oh ja, er wusste genau, wovon sie redete. Aber sollte ich es auch wissen? Was meinte sie mit Möglichkeit? Und wer war sie überhaupt, dass sie ihn belehren wollte?

Ich versuchte meine Gedanken zu beruhigen, damit ich mehr von ihrer Unterhaltung hören konnte, als Charlene schon beinahe fauchte: „Das weißt du sehr wohl! Halt mich nicht für dumm, nur weil du so viel älter bist.“

Als wer? Als sie? Hah, die hatte wohl heute ihre Tabletten noch nicht genommen.

Dann seufzte sie schwer. „Du kannst ihr doch niemals geben, was sie braucht. Am Ende wirst du sie nur verletzen.“

Sie? Halt mal. Über wen redeten die hier eigentlich? Ein glühend heißer Schwall von Eifersucht stieg plötzlich in mir hoch. Charlene sprach von einer anderen Frau? Kein Wunder, dass sie plötzlich so zickig wurde. Ich hatte also von Anfang an recht gehabt. Die beiden hatten was miteinander. Oder vielleicht wünschte sich Charlene das auch nur und nun war sie eifersüchtig … so wie ich.

Aber Julian hatte mir gestern gesagt, dass es in seinem Leben keine andere Frau gab. Und meine Mutter war auch aus dem Rennen. Was also–? Verdammt! Ich wollte mir einfach nicht vorstellen, dass er ein anderes Mädchen so im Arm halten würde, wie er mich gestern gehalten hatte. Das konnte … Er durfte nicht … Ach, halt einfach die Klappe Jona.

„Ich habe nicht vor, ihr oder sonst jemandem weh zu tun“, hörte ich Julian gereizt sagen. „Du kannst also ganz beruhigt sein, Charlene. Ich kenne meinen Platz. Meine oberste Priorität bist immer noch du. Jona–“ Er setzte kurz ab und sprach dann etwas heiser weiter: „Kommt erst an zweiter Stelle.“

Die Hände über den Mund geschlagen, versuchte ich das Geräusch zu ersticken, als ich scharf nach Luft schnappte.

Jemand kam zur Tür; ich hörte die Schritte im Zimmer. Für den Moment schluckte ich meine Verwunderung hinunter und raste die Treppe hinauf. Auf halber Höhe machte ich kehrt, damit es so aussah, als käme ich gerade erst aus meinem Zimmer herunter. Niemand sollte wissen, dass ich die letzten paar Minuten gelauscht hatte. Aber mein Herz klopfte wild vor Aufregung.

Als sie mich auf der Treppe sah, blieb meine Mutter kurz im Flur stehen. Für eine Schrecksekunde tat ich das auch, und ich fühlte mich, als hätte man mich trotz allem erwischt. Ein lila Schal war um ihre Schultern gewickelt und ließ ihr müdes Gesicht noch blasser wirken. Ohne ein Wort zu sagen, huschte sie weiter in ihr Zimmer und machte leise die Tür zu.

Ich war noch immer in meiner Schrecksekunde gefangen, die mittlerweile schon fast eine halbe Minute dauerte, und blickte auf den leeren Platz im Flur, wo meine Mutter gerade noch gestanden hatte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, doch ihr Schmerz hinterließ auch eine wunde Stelle in mir.

Weil ich das furchtbare Gefühl nicht abschütteln konnte, knirschte ich mit den Zähnen und machte mich wieder auf den Weg nach oben. Doch da hörte ich Musik aus dem Wohnzimmer kommen und blieb wie angewurzelt auf den Stufen stehen. Julian spielte auf dem Klavier.

Fasziniert von der lieblichen Melodie, wunderte ich mich, ob das vielleicht die Noten sein konnten, die er heute von Pauls Piano-Shop geholt hatte. Noch einmal schlich ich nach unten und schielte vorsichtig um die Ecke. Die Tür stand nun weit offen und ich konnte Julian am Klavier sitzen sehen, mit dem Rücken zu mir.

Gut, denn im Moment hätte ich ihm nicht in die Augen sehen wollen. Nicht nach allem, was ich vorhin gehört hatte.

Die harmonischen Akkorde hingen leicht im Raum und erfüllten mich mit seltsamer Ruhe. Obwohl … es ging hier um Julian, da sollte mir doch eigentlich nichts mehr wirklich seltsam vorkommen. Oder zumindest nicht mehr als sonst.

Ich lehnte mich mit der Schulter gegen den Türrahmen und lauschte seinem Spiel. Bald neigte ich auch meinen Kopf gegen das Holz und blickte verträumt zum weiten Fenster hinaus, vor dem gerade die feurige Sonne im Westen versank. Dabei merkte ich gar nicht, wann das erste Stück zu Ende war und Julian ein neues begann. Doch plötzlich zuckte ich zusammen. Er spielte mein Lied! Die Melodie, die ich so oft summte und von der ich nicht einmal wusste, ob ich sie jemals irgendwo gehört oder nur frei erfunden hatte.

Nur spielte er das Lied nicht eintönig, so wie ich es pfeifen oder summen würde. Seine Hände schwebten über die Elfenbeintasten und jubilierten dabei geradezu über die kleine Melodie.

Es dauerte nicht lange, da blickte Julian über seine Schulter und schenkte mir ein Lächeln, das größtenteils von seinen Augen ausging. Dann zwinkerte er mir zu.

Erwischt.

Mein Herz trommelte gegen meine Rippen. Wenn es noch ein klein wenig lauter schlagen würde, könnte es ihm als Metronom dienen.

Julian lud mich mit einem Kopfnicken ein, mich zu ihm auf die kleine schwarze Lederbank zu setzen. Zögerlich ging ich auf ihn zu. Hoffentlich hatte ich seine Geste nicht missverstanden. Doch als ich bei ihm ankam, rutschte er an ein Ende der Bank und vertrieb damit all meine Zweifel. Langsam sank ich neben ihn.

Er lehnte sich zu mir und sein vertrauter Duft hüllte mich ein. Seinen Kopf nur leicht in meine Richtung gedreht, berührten sich unsere Wangen flüchtig, als er flüsterte: „Kannst du die Seite für mich umblättern?“

Auf dem Notenständer war ein Heft mit Zeilen und einer Unzahl von schwarzen Punkten mit und ohne Striche, Rautezeichen und kleine Buchstaben. Ich verstand nicht einmal im Ansatz, was all das Zeug bedeutete. Aber eins war klar. Er war heute nur wegen mir mit in die Stadt gekommen.

Mit kalten, zittrigen Fingern blätterte ich für ihn um, dann saß ich so still, dass man mich leicht für einen Teil der Einrichtung hätte halten können. Seine Hände hielten niemals still. Manchmal streichelte er nur die Tasten, im nächsten Moment drückte er sie energisch nieder. Es wirkte beinahe so, als würde er die Tasten auf seine ganz eigene Art und Weise liebkosen. Für einen kurzen Augenblick stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn er mich auf diese Weise berühren würde.

Mein Blick schweifte zu seinem Gesicht und ich biss mir auf die Unterlippe, denn ich wollte diesen Gedanken um Himmels willen nicht weiterspinnen.

Zwei weitere Male stupste er mich sanft mit seinem Ellbogen an und flüsterte: „Nächste Seite, bitte.“ Dabei konzentrierte er sich die ganze Zeit auf die Noten vor sich.

Plötzlich war das Stück zu Ende. Die letzten Akkorde verstummten und es war totenstill. Händeringend saß ich da und wartete, bis er mich ansah. „Woher wusstest du …“, stammelte ich und machte dabei schmale Augen. „Ich meine … Dieses Lied. Woher hast du gewusst, dass es eine besondere Bedeutung für mich hat?“

Julian seufzte leise. „Wie hätte ich das nicht merken sollen, Jona? Du hast es gestern den ganzen Tag in den Weinbergen gesungen.“ Er streifte mir eine Haarsträhne hinters Ohr und streichelte mir sanft mit den Fingerspitzen über die Wange, als er seine Hand wieder zurückzog. Ein sinnlicher Schauer durchzuckte mich und ich nahm meine Gedanken von vorhin wieder auf.

Zwischen uns herrschte eine seltsame Stille. Mein Hals war so trocken, ich musste zweimal schlucken, bevor ich meine Stimme wiederfand. „Wie heißt das Lied?“, fragte ich heiser.

Julian lächelte in sich hinein, als wäre das ein Scherz, den nur er verstünde. Im nächsten Moment lag plötzlich seine Hand auf meiner in meinem Schoß. Ich blickte nach unten, meine Knie zitterten, doch wie immer, wenn Julian mich berührte, breitete sich schnell ein Gefühl der Wärme und absoluten Glückseligkeit in mir aus.

„Es heißt Hallelujah“, antwortete er.

Du meine Güte, mein Lied hatte einen Namen.

Und welche Ironie der Titel doch im Vergleich zu meinem traurigen Leben bot. Meine Hand wurde warm unter seiner und doch zitterten meine Finger ein wenig, genau wie meine Knie. Es störte mich ungemein, dass auch mein Herz schneller klopfte und ich viel schneller atmete als sonst.

Julian sollte nicht merken, wie nervös mich seine Berührung machte, also räusperte ich mich kräftig und fragte ihn dann: „Kannst du es noch mal spielen?“

Beinahe zärtlich rieb er mit seinem Daumen über meine Fingerknöchel, bevor er langsam seine Hand wegzog und nickte. Er blätterte zurück zur ersten Seite und las dann erneut seinen Weg durch das Wirrwarr von Noten, wobei er dem Klavier dieses wunderbare Lied entlockte.

Mein Blick schweifte hin und her zwischen seinem ernsten Gesicht und seinen Fingern auf den Tasten. Als er mich sachte mit seinem Ellbogen anstieß, wusste ich, dass es Zeit war umzublättern. Doch irgendwann legte ich einfach meinen Kopf an seine Schulter, machte die Augen zu und lauschte der Musik.

Ich war mir sicher, dass er nicht einmal pausierte, um auf die nächste Seite zu blättern. Wie konnte er dieses komplizierte Lied nur so schnell auswendig lernen? Aber eigentlich war mir das auch egal, solange er nur nicht aufhörte zu spielen.

Als die letzten Akkorde ausklangen und uns wie ein Schleier bedeckten, wollte ich mich nicht von Julian wegbewegen. Ich blieb einfach still sitzen, mit meinem Kopf an seiner Schulter und geschlossenen Augen. Julian saß so still wie ich, nur sein Kopf drehte sich leicht in meine Richtung; ich spürte seine Wange an meiner Stirn.

„Spiel es noch mal“, bat ich ihn leise.

Julian gab mir keine Antwort, doch nur einen Augenblick später spürte ich, wie seine Hände erneut zu tanzen begannen und meine liebliche Melodie erfüllte den Raum. Hätte er mir nur das kleinste Anzeichen mit einem Schubs oder einem Zucken gegeben, dass ich an seiner Schulter nicht willkommen war, hätte ich mich auf der Stelle verkrümelt. Doch er ließ mich Stunde um Stunde an ihm lehnen.

Und immer, wenn das Lied zu Ende ging, brauchte ich ihn nur ganz leicht anzustupsen, und er begann von vorn.

Noch einmal.

Und noch einmal.

Bis tief in die Nacht.

~ ❤ ~

Fortsetzung folgt … wenn ihr wollt. 😉

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