Winternachtsflüstern

Prolog

»Wie um alles in der Welt kann ich dir nur helfen, mein kleines Baby?«, krächzt meine Mutter mit Tränen in den Augen.

Eins-fünfundachtzig ist nicht gerade klein und ich bin mit Sicherheit auch kein Baby mehr. In zwei Wochen ist mein neunzehnter Geburtstag. Und ausnahmsweise werde ich diesen alleine feiern. Na ja, nicht komplett allein, nehme ich an. Die alte Lady mit den Pferden, bei der ich leben, und für die ich diesen Winter arbeiten werde, wird mir vermutlich irgendwann im Laufe des Tages alles Gute wünschen.

Ich ziehe die Hände meiner Mutter von meinem Gesicht und drücke sie fest. »Lass mich gehen, Mom. Bitte.« Das ist alles, was ich von ihr will.

Als sie auf unsere weiße Ledercouch im Wohnzimmer sinkt, knie ich mich vor sie auf den Angorateppich, der in viele blaue Quadrate unterteilt ist. Sie wirkt erschöpft. Das bin ich auch. Es war für uns beide ein hartes Jahr. Die Kämpfe mit meinem Stiefvater darüber, ob ich aufs College gehen werde oder nicht, fangen an, Narben in meiner Seele zu hinterlassen. Der Ex-Marine wohnt schon mein halbes Leben lang bei uns, doch selbst als Mom ihn geheiratet hat, habe ich seinen Nachnamen nicht angenommen. Mein leiblicher Vater mag ja tot sein, aber ich gebe ganz sicher nicht die einzige Sache auf, die mich noch an ihn bindet: den Familiennamen Monterey.

Moms Blick schweift an mir vorbei zum Fenster hinaus auf die kalte Straße vor unserem Haus. Oakspeak ist im November immer der romantischste Ort in ganz Oregon, doch heute haben sich die bunten Herbstblätter in der Stadt mit dem schweren Nebel angesaugt und hängen traurig von den Bäumen. »Ich weiß, du hast gesagt, du brauchst Zeit für dich selbst«, sagt sie heiser. »Aber Kanada? Adrian … bist du dir sicher?«

Den ganzen Herbst über hat sie versucht, mir meine Pläne auszureden. Ich glaube, für sie ist nicht die Tatsache, dass ich ausziehen werde, das eigentliche Problem. Das hätte ich auch getan, wenn ich mit meiner besten Freundin Sandy Cardington nach Portland aufs College gegangen wäre. Was meine Mutter wirklich bedrückt, sind all die Dinge, über die ich noch nicht mit ihr reden kann.

Dinge, die einen unergründeten Teil von mir betreffen, der mir selbst eine Scheißangst einjagt.

Sandy gefällt es ebenso wenig, dass ich mir eine Auszeit in einem anderen Land nehme, doch anders als meine Mutter hat sie meine Entscheidung in dem Moment akzeptiert, als ich zum ersten Mal mit ihr darüber gesprochen habe. Sie weiß, was in mir vorgeht, wenn ich still werde, und niemals hat sie mehr Antworten von mir verlangt, als ich in der Lage war, ihr zu geben.

Der Vorfall auf der Party zu ihrem siebzehnten Geburtstag hat so vieles verändert. Seit anderthalb Jahren steht mein Leben auf dem Kopf, und ich weiß bei Gott nicht, wie ich es wieder geraderücken soll. Wenn man dazu noch die ganzen Streitereien mit meinem Stiefvater nimmt, wird es in mir so laut, dass ich mich selbst kaum noch hören kann. Ich weiß nicht einmal mehr, wer ich wirklich bin, doch wird es langsam Zeit, dies endlich herauszufinden. Und das kann ich nur alleine tun. Weit weg von all dem Chaos, das mein Leben ist.

Mit meiner besten Freundin nach Portland zu ziehen, wäre eine Möglichkeit gewesen, um von hier wegzukommen und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Aber um ehrlich zu sein, brauche ich im Moment auch den Abstand zu ihr, sonst bekomme ich das Durcheinander in meinem Kopf niemals auf die Reihe. Deshalb habe ich im vergangenen Sommer einen Dartpfeil auf die Weltkarte an meiner Tür geworfen — und dieser hat entschieden, dass ich das nächste halbe Jahr an einem Ort namens Moonbreak Falls in der Nähe der Stadt Edmonton in Kanada leben werde.

Neunhundert Meilen liegen zwischen Oakspeak und Moonbreak Falls. Das sollte weit genug entfernt sein, um mein Leben zu sortieren und etwas Neues zu beginnen. Wie es nach dem Winter weitergehen wird, weiß ich noch nicht. Aber ausnahmsweise will ich auch noch gar nicht so weit in meine Zukunft blicken.

Ich habe alles gepackt, was ich brauche. Der Zug fährt in drei Stunden los. Jetzt bleibt nur noch eine Sache zu tun.

Mich zu verabschieden.

1. Ein neuer Anfang

An diesem Morgen ist es kalt genug, dass einem Biber die Eier abfrieren würden. Nach nur zwei Minuten draußen, um eine Armladung voll Brennholz für den Ofen hereinzutragen, fühlen sich meine Finger tot an. Trotzdem bleibe ich für einen Moment auf der Veranda des kleinen Farmhauses stehen und drehe mich um.

Moonbreak Falls liegt unter einer friedlichen Decke aus Dezemberschnee begraben, der wie Diamanten in der aufgehenden Sonne funkelt. Alles ist noch still. Freitag ist der einzige Tag in der Woche, an dem sich Ruth Beckett erlaubt, mal etwas später aufzustehen — was in ihrem Fall allerdings auch nur bedeutet, dass sie bis halb acht im Bett liegen bleibt und ihr Lieblingskochbuch durchblättert, bis sie den richtigen Kuchen gefunden hat, den sie fürs Wochenende backen will.

Ich liebe Ruth. Von dem Moment an, als mich die vierundsiebzig Jahre alte Frau mit dem immer gleichen grauen Dutt auf dem Kopf vor vier Wochen vom Bahnhof abgeholt hat, war sie nichts als gütig zu mir. Obwohl sie mich überhaupt nicht kannte, gab sie mir das Gefühl, in ihrem Heim willkommen und bereits ein Teil ihrer Familie zu sein.

Da ihr einziger Sohn und dessen Frau schon früh ums Leben gekommen sind, ist leider nicht mehr viel von ihrer richtigen Familie übrig. Sie hat einen Enkelsohn, den sie schon von Kindesalter an aufgezogen hat und der ihr immer dabei geholfen hat, die Pferdefarm zu betreuen, bis er vor zwei Jahren aufs College ging. Anscheinend ist North Beckett ein sehr talentierter Eishockeyspieler und hat ein Stipendium für die Calgary University erhalten, die einhundertneunzig Meilen von hier entfernt liegt. Ruth ist die stolzeste Großmutter der Welt, wenn sie von ihm erzählt — und dabei klingt es immer so, als wäre der Junge kaum aus den Windeln raus.

Die einzige andere Person, die Ruth zu ihrer Familie zählt, ist Madelyn, eine kleine Dunkelhaarige, vermutlich in meinem Alter oder etwas älter, die zweimal die Woche vorbeikommt, um das Haus sauber zu halten. Bis jetzt weiß ich noch nicht allzu viel über sie, denn es bleibt kaum genug Zeit für ein Hallo, wenn wir uns an den Nachmittagen begegnen. Die sechs Pferde und die Arbeit im Stall plus der vielen kleinen Reparaturen rund ums Haus halten mich tagsüber ganz schön auf Trab. Allerdings habe ich gelegentlich beim Essen herausgehört, wozu Maddie immer herzlich eingeladen ist, dass sie eigentlich im Lebensmittelladen in der Stadt arbeitet und außerdem keine Leute aus den USA leiden kann — wozu ich zweifellos gehöre.

Dass sie mich immer den Yankee nennt, wenn sie mit Ruth spricht und dabei denkt, ich kann die beiden nicht hören, stört mich schon seit zwei Wochen nicht mehr. Da ist sie nämlich über die Heugabel gestolpert, die ich draußen vor dem Stall vergessen hatte, und hat eine Bauchlandung in einem Haufen Pferdescheiße gemacht. Über den Anblick konnte ich auch Tage später noch lachen. Nun kann sie mich nennen, wie immer sie will.

Als mir auf der Veranda klar wird, dass mein Atem nicht mehr länger als warmer Nebel aus mir herausströmt, sondern inzwischen in meiner Nase gefriert, lasse ich die wunderschöne Landschaft hinter mir und gehe ins Haus. Das Holz werfe ich in einen Korb neben dem offenen Kamin, der noch nie angezündet wurde, seit ich hier bin, weil eigentlich immer nur das Feuer im Kachelofen brennt. Auch jetzt ist immer noch etwas Glut darin, die die Holzscheite in wenigen Minuten entflammen wird.

Ruth hat mir erklärt, dass wir das Feuer niemals komplett ausgehen lassen dürfen, vor allem nicht über Nacht, denn Kanada ist im Winter absolut erbarmungslos. Sogar die Pferde haben es warm und gemütlich im Stall, und tagsüber, wenn ich sie raus auf die Koppel bringe, hält sie ihr teppichdickes Winterfell gut geschützt. Zumindest hoffe ich das. Ich hatte bisher noch nie etwas mit Pferden zu tun. Alles, was ich über sie weiß, hat Ruth mir beigebracht, seit ich angefangen habe, hier zu arbeiten, darum könnte ich mich natürlich auch irren und sie frieren sich da draußen in Wahrheit den Arsch ab.

Ich hocke mich vor den Kachelofen, der sich durch die Mitte des gesamten Hauses nach oben zieht und dabei jeden einzelnen Raum berührt, und schiebe drei Scheite in die Öffnung. Dann stochere ich noch ein wenig mit dem Schürhaken in der Glut herum. Hinter mir knarzt die alte Treppe, was bedeutet, dass die Dame des Hauses auch bereits aufgestanden ist. Ich drehe den Kopf über die Schulter und begrüße Ruth mit einem Lächeln, das so warm wie die Atmosphäre im Wohnzimmer mit all ihren kleinen Dekorsachen auf den Regalen und der blauen Couch ist, die das gleiche Blümchenmuster wie die niedlich zurückgebundenen Vorhänge trägt.

»Guten Morgen, mein Junge«, sagt sie, während sie näherkommt und mit ihrer faltigen Hand durch mein zerzaustes blondes Haar streichelt. Sie humpelt immer noch ein wenig in ihren Filzpantoffeln, weil ihr vor zwei Tagen ein Honigglas auf den rechten Fuß gefallen ist. Aber zumindest ist sie ohne ihren Gehstock heruntergekommen, was auf jeden Fall ein gutes Zeichen ist. Obwohl ihr Fuß in der ersten Nacht auf das Doppelte seines Umfangs angeschwollen war, hatte sich die sture, alte Lady vehement geweigert, einen Spezialisten aufzusuchen. Anscheinend ist Mr. George Alexander Valentine nämlich ein Scharlatan und kein Arzt, und Ruth kann sich nicht erklären, wie er überhaupt an seine Lizenz zum Praktizieren gekommen ist. Er führt seine Ordination wohl schon lange über den Ruhestand hinaus, weil es keinen anderen Arzt in der Stadt gibt. In jedem Fall würde sie sich aber lieber von einem Tierarzt behandeln lassen als von ihm.

Ich frage mich, ob hinter ihrer Abneigung gegen den Doktor vielleicht mehr stecken könnte, als sie mich wissen lässt. Aber ich bin noch nicht lange genug auf der Farm, um sie danach zu fragen.

Da sie nach einem Barfußlauf durch den kalten Schnee gestern allerdings wieder angefangen hat, im Haus herum zu schlurfen, hat sie zumindest meine Sorgen zerstreut, es könnte etwas Ernstes sein, und ich habe es aufgegeben, sie zu einem Arztbesuch überreden zu wollen. Vielleicht hat sie ja recht damit, wenn sie mir immer wieder sagt, dass sie wohl kaum so alt geworden wäre, wenn sie wegen jeder kleinen Verletzung, die sie sich in all den Jahren auf dieser Farm schon zugezogen hat, immer gleich hysterisch geworden wäre.

Ich schließe das eiserne Ofentürchen und folge Ruth in die Küche, wo das Kochbuch bereits offen vor ihr auf der Theke liegt und nur darauf wartet, sie beim heutigen Kuchen unterstützen zu dürfen. Während sie ihr Lieblingslied vor sich hin summt, bindet sie sich noch eine rotkarierte Schürze um die Taille. Man sieht sie kaum einmal im Haus ohne eines von diesen Dingern herumlaufen. Sie passen perfekt zu ihren altmodischen Kleidern.

»Hast du etwas Leckeres gefunden, das du heute backen willst?«, frage ich und schenke uns beiden eine Tasse Kaffee ein, nachdem ich den Reißverschluss meiner dunkelblauen Daunenjacke aufgezogen habe. Ruth genießt morgens üblicherweise ein herzhaftes Frühstück aus Brötchen mit Butter und Marmelade, doch mir reicht der Kaffee mit Milch und Zucker völlig.

»Ja, das habe ich. Da Weihnachten vor der Tür steht und North morgen nach Hause kommt, werde ich ein paar Schokoladenkekse backen. Die mag er am liebsten.«

Eine verwunderte Falte formt sich zwischen meinen Augenbrauen, während ich sie über meinen Becherrand hinweg ansehe. »Dein Enkel kommt nach Moonbreak Falls?«

»Oh, ja!« Sofort tritt wieder dieses warme Funkeln in ihre lächelnden grauen Augen, das ich schon so viele Male zuvor gesehen habe, wenn sie voller Liebe über North spricht. »Die Winterferien verbringt er immer zu Hause. Habe ich das nicht erwähnt?«

Ähm. Nein?

Und wie hätte ich das ahnen sollen? Darüber hat sie bisher noch kein einziges Wort verloren. Witzigerweise war ich der Meinung, Ruth und ich würden ganz allein in diesem Winterwunderland leben. Maddie ist ein notwendiges Übel, an das ich mich gewöhnt habe, weil ich kaum der richtige Partner für einen Besen oder Wischmopp bin, aber der Gedanke daran, dass das Haus schon ab morgen zu dreißig Prozent voller sein wird, entringt mir ein Seufzen. Mehr Menschen in einem Raum bedeuten auch mehr Gelegenheiten für Streitereien. Und davon hatte ich in den letzten Jahren bereits mehr, als ich ertragen kann.

Andererseits werde ich die Festtage selbst zu Hause in Oakspeak verbringen, und da freut es mich dann doch, dass Ruth an Weihnachten nicht alleine auf der Farm ist.

»Keine Sorge, Adrian«, sagt Ruth, die ganz offensichtlich mein plötzliches Unbehagen bemerkt hat. »Nächstes Wochenende backe ich wieder einen Kuchen für dich. Aber jetzt warte erst einmal ab, bis du meine Kekse gekostet hast. Du wirst sie garantiert genauso sehr lieben wie meine Torten, versprochen.«

Es ist nicht der Kuchen, der mir Sorgen bereitet, aber es ist lieb von ihr, dass sie das glaubt. »Ganz bestimmt.« Mit Schokoladenkeksen kann man nie etwas falsch machen, und nichts, was Ruth Beckett gebacken hat, seit ich hier angekommen bin, hat jemals weniger als absolut lecker geschmeckt. Das Beste, was ich jemals in Kanada gegessen habe, war der Kirschkuchen, mit dem sie mich zu meinem neunzehnten Geburtstag überrascht hat.

Während ich noch einen weiteren Schluck Kaffee trinke, tanzen Bilder des fünfjährigen Jungen aus ihrem geliebten Fotoalbum vor meinen inneren Augen hoch, der sich eine Handvoll Kekse in die Pausbacken schiebt. Ruth hat mir das Album beinahe jeden Abend gezeigt, seit ich in dieses Haus und in das Zimmer im oberen Stockwerk eingezogen bin. Die älteste Version von North, die in diesem Album zu finden ist, stammt noch aus seiner Schulzeit vor zehn Jahren. So sehr ich es auch versuche, ich kann mir den schlaksigen Jungen einfach nicht als athletischen Erwachsenen vorstellen. Es kleben zwar ein paar Zeitungsartikel aus jüngerer Zeit hinten im Fotobuch, doch auf jedem dieser Bilder trägt der Kerl einen Helm mit Gesichtsschutz passend zur Eishockeyausrüstung, womit sie nicht unbedingt viel über die Person preisgeben, zu der er geworden ist. Das schmutzige Kind, das mit seinem Border Collie vor dem Kachelofen auf dem Fußboden liegt, soll inzwischen ein Champion am College sein? Das Bild will mir einfach nicht in den Kopf.

Sobald meine klammen Finger an der heißen Tasse aufgetaut sind, schiebe ich erst einmal alle Sorgen bezüglich einer weiteren Person in diesem Haus beiseite und trinke den restlichen Kaffee in großen Schlucken aus, dann stelle ich die leere Tasse in die Spülmaschine. »Bis später, Ruth.« Es gibt noch viel zu tun, bevor wir zusammen zu Mittag essen können, deshalb schnappe ich mir meine Handschuhe von der Truhe neben der Tür, ziehe den Reißverschluss meiner Jacke wieder zu und gehe raus in den Stall.

Ich muss nur einen Flügel des Scheunentors aufdrücken, und schon begrüßen mich sechs Pferde mit einem freundlichen Schnauben. Fünf Erwachsene und ein dunkelbraunes Fohlen. Das Jüngste, Sunny, wurde erst letzten Frühling geboren und ist ein quirliges, schlankes Ding, das ständig um seine Mutter, die Fuchsstute Princess, herumhopst. Ich nehme zwei Karotten aus dem Korb neben dem Tor und gehe damit zuerst zu den beiden rüber. Ruth meinte, der kleine Racker braucht besonders viel Zuwendung, denn das ist sein erster Winter. Wir wollen nicht, dass er krank wird.

Symphony, die elegante Schimmelstute, und ihre Nachbarin Luna mit dem glänzenden dunkelbraunen Fell scharren dabei bereits ungeduldig mit den Hufen in ihren eigenen Boxen auf der anderen Seite des breiten Gangs. Sie wissen, dass ich ihnen morgens immer etwas Leckeres mitbringe. »Nur mit der Ruhe. Es ist ja genug für alle da«, raune ich und reibe über den weißen Stern auf Lunas Stirn, während ich einen Apfel aus dem Eimer vor ihrer Boxentür an sie verfüttere. »Ja, das schmeckt dir, nicht wahr?«

Symphony reckt mir den Hals über die Tür ihrer eigenen Box entgegen und stupst mich frech an der Schulter, bis auch sie ihren Leckerbissen bekommen hat.

Nicht ganz so ungeduldig ist dagegen Lunas Bruder, Calito, der große schwarze Hengst, der eine etwas geräumigere Box weiter hinten im Stall bewohnt, doch auch er spitzt die Ohren voller Neugier. Der alte Junge behält mich mit seinen mystisch dunklen Augen die ganze Zeit über im Blick. Ein Schwall schwarzer Mähne verhängt dabei Dreiviertel seines Gesichts. Pascal ist sein ebenso kohlschwarzer Freund, nur sind all seine Knöchel weiß, und die beiden Pferde schnauben fröhlich, während sie genüsslich die harten Brotstücke kauen, die sie von mir erhalten haben.

Ehe ich aber meine Arbeit hier im Stall verrichten kann, müssen sie alle Platz machen, darum öffne ich zuerst die Türen für Calito und Pascal und führe die beiden dann an zwei Stricken, die ich an ihren Halftern befestige, hinaus auf die Koppel. Hier ist zwar kein einziges grünes Fleckchen zu sehen, doch die Pferde haben auch hier draußen einen Unterstand mit frischem Heu, wo sie sich zusammenrotten können, falls ihnen kalt ist. Dieselben Stricke verwende ich als Nächstes auch für Symphony und Luna, doch als zum Schluss die hübsche Princess und ihr Fohlen an der Reihe sind, reicht ein Seil völlig. Sunny muss nicht angeleint werden. Er geht dahin, wo auch immer seine Mammi hingeht.

Sobald alle Pferde sicher auf der verschneiten Weide angekommen und die Ställe leer sind, schließe ich das Scheunentor und hänge drinnen meine Jacke an einen Haken an der Wand. Es grenzt beinahe schon an ein Wunder, wie warm es hier drinnen ist. Andererseits kommt es mit Sicherheit von der teuren Isolierung und den Millionen Tonnen Heu und Stroh, die auf dem Boden unter dem Dach gelagert sind. Das ist nicht nur Pferdefutter, sondern auch ausgezeichnetes Dämmmaterial.

Die erste Arbeit meines Tages besteht darin, alle fünf Boxen auszumisten. Der ganze Mist wird dann mit der Schubkarre nach draußen befördert und auf einem großen Haufen hinter dem Stall abgeladen. Ist zwar nicht die schönste Arbeit der Welt, aber nachdem ich mich inzwischen an den Geruch der Pferde gewöhnt habe, empfinde ich die körperliche Anstrengung als richtig erfüllend. Sie gibt mir die Möglichkeit, meine Gedanken endlich einmal von all den Dingen abzuziehen, die mich über so viele Monate hinweg beschäftigt haben, und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Darauf, wer und was ich wirklich bin. Das ist es, was ich hier draußen für mich herausfinden will. Denn ich weiß es immer noch nicht.

Zwei Stunden später liegt der dreckige Teil der Arbeit hinter mir und ich steige über die Leiter zum Heuboden über den Boxen hoch. An der Wand lehnt die Heugabel, die ich mir greife, doch in diesem Augenblick springt ein fettes graues Fellknäuel aus der Ecke und attackiert meine Schnürsenkel. »Oh, großer Gott!« Meine Hand fliegt an meine Brust. »Chester! Ich schwöre, irgendwann spieße ich dich noch mit der Mistgabel auf!«

Sobald sich mein Schleuderatem beruhigt hat, sinke ich in die Hocke und streichle den Tigerkater mit den hübschen Bernsteinaugen. Einige Heufäden hängen in den weißen Teilen seines Fells um die Vorderpfoten, was wohl ein Indiz dafür ist, dass er bis eben noch im warmen Stroh gepennt hat. Ruth sagt, er ist ein Streuner, der alle paar Tage vor ihrer Tür auftaucht, um ein Schälchen Milch abzustauben, doch ich habe eher so das Gefühl, der Kleine ist gar kein Obdachloser. Der süße Gauner war klug genug, in dieses Katzenparadies einzuziehen, mit all den leckeren Mäusen im Stall, wo er es das ganze Jahr über warm und gemütlich hat.

Weil es kein Verbrechen ist, auch mal ein paar Minuten Pause zu machen, setze ich mich vor dem großen, runden Fenster mit den Kreuzstreben ins Heu und blicke von hier aus hinaus auf die Farm. Chester springt dabei auf meinen Schoß und schnurrt wie ein Traktor, während ich ihn hinter den Ohren kraule. Ob König des Stalls oder nicht, jeder braucht hin und wieder mal ein paar Streicheleinheiten. Das brauchen wir beide.

Allerdings will ich vor Mittag noch etwas Arbeit hinter mich bringen, darum setze ich den Tiger mit den weißen Pfoten schließlich ins Stroh und beginne damit, das Heu mit der Gabel durch die Luke nach unten zu schippen, um den Pferden nachher ein nettes Bettchen daraus zu bereiten.

Als ich später wieder ins Haus komme, hängt bereits der verzaubernde Duft von Schokoladenkeksen in der Luft und trägt ein warmes Gefühl in meine Brust. Eine weitere würzige Note liegt unter dem süßen Duft und ich kann mir sehr gut vorstellen, was Ruth zu Mittag gekocht hat.

Nachdem ich meine Jacke an den Haken gehängt und meine Schuhe ausgezogen habe, folge ich dem Klappern von Geschirr in die Küche und stelle sofort fest, dass ich recht hatte. Es gibt Hackbraten zu Mittag. »Hi, Ruth«, sage ich als Warnung, weil ich sie nicht erschrecken will, falls sie mich nicht reinkommen gehört hat — was schon einige Male der Fall war. Man denke an das Honigglas. Ihre Augen sind immer noch so scharf wie die eines Falken, aber ihr Gehör hat in den Jahren doch etwas nachgelassen.

»Du kommst gerade richtig, Adrian!« Strahlend dreht sie sich zu mir und drückt mir einen Stapel Teller in die Hand, den ich zum Tisch hinübertrage. Dabei runzle ich aber die Stirn, denn es sind drei.

»Wer isst denn heute mit uns?«, frage ich Ruth, während sie den Hackbraten und Bratkartoffeln in einer Pfanne aufträgt. Bis heute haben wir freitags immer allein gegessen und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie gesagt hat, ihr Enkel kommt erst morgen nach Hause.

»Maddie ist vorbeigekommen, um mir dabei zu helfen, das Haus zu dekorieren und ein bisschen weihnachtlicher zu gestalten«, teilt sie mir mit und drückt mich fröhlich auf den Stuhl, der inzwischen mein angestammter Platz an diesem Tisch geworden ist. Jetzt erst fallen mir auch die vielen Tannenzweige auf, die überall hinter den Bildern an den Wänden eingeklemmt stecken, die Lichterketten in den Fenstern, und sogar ein Büschel Mistelzweige hängt im Mauerbogen zwischen der Küche und dem Wohnzimmer. »Morgen haben wir nicht genug Zeit, aber ich wollte, dass alles fertig ist, bevor North heimkommt.« Und da ist es wieder, das liebevolle Funkeln in ihren Augen.

»Dein Enkel mag die Weihnachtszeit wohl sehr, hm?«

»Nein, er hasst sie.« Ruth bleibt mitten im Zimmer stehen und legt sich die Hand auf die Brust, während sie herzhaft zu lachen beginnt. »Er beschwert sich immer, dass er sich mit all dem Schnickschnack und Glitzer wie ein Wichtel in Santas Haus vorkommt. Darum muss ich schnell sein und alles aufhängen, bevor er die Kartons mit dem Weihnachtszeug vor mir verstecken kann.«

Ah, ja. Sie liebt zwar ihren Enkelsohn, aber Weihnachten liebt sie offenbar noch mehr. Ich verstehe. Schmunzelnd nehme ich die Bratengabel, um jedem von uns ein hübsches Stück auf den Teller zu legen, und rufe dann: »Maddie!«, weil ich die kanadische Menschenverächterin irgendwo im Haus herumwerkeln hören kann. »Essen ist fertig!«

Das Mädchen mit den dunkelbraunen Haaren kommt eine halbe Minute später die Treppe herunter und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. »Hi, Stallbursche«, sagt sie freundlich genug, um die gute Stimmung nicht zu kippen. Aber es wäre nicht Madelyn, wenn sie nicht auch noch eine kleine Stichelei für mich parat hätte, bevor wir mit dem Essen beginnen. Und ich weiß, dass sie gleich folgen wird, sobald sie ihre Nase krauszieht. »Schätzchen, Pferdedung war ja vielleicht im achten Jahrhundert ein sexy Parfüm, aber heutzutage ist es doch etwas aus der Mode.«

Mit einem Grinsen schaufle ich mir selbst ein paar Kartoffeln auf den Teller und werfe ihr dabei einen flüchtigen Blick unter den Wimpern zu. »Das Gleiche lässt sich auch über Au de Wischmopp sagen, und doch trägst du es jeden Tag.«

Als sich ihre Lippen etwas fester aufeinander drücken und sie diese hinter einer Serviette versteckt, ohne bereits etwas gegessen zu haben, weiß ich, dass sie nicht mit den Zähnen knirscht, sondern nur verbissen versucht, ein Lachen zu verstecken. Schade. »Nimm die Serviette runter, Maddie«, raune ich. »Ich bin mir sicher, ein Lächeln würde dir verdammt gut stehen.«

Sie verdreht die Augen — natürlich. Dann legt sie die Stoffserviette aber doch wieder auf den Tisch und schiebt sich das lange Haar hinter die Ohren. Kein Lächeln. Dafür schießt jedoch kurz mal ihre Zunge heraus. Und ihre Mundwinkel zucken auch. Ich nehme, was ich kriege, und schippe auch ein paar Bratkartoffeln auf ihren Teller.

Während des Essens besprechen Madelyn und Ruth, was sie noch alles vom Dachboden holen müssen, um das Haus fertig zu bekommen, ehe North auftaucht. »In der blauen Schachtel in der Kommode sind die Socken für den Kamin. Ich glaube, deine ist vom letzten Jahr auch noch darin«, schnattert Ruth zwischen zwei Bissen.

Maddie starrt mich daraufhin lange und intensiv genug an, sodass ich nicht drum herumkomme, den Kopf zu heben und ihr meine Aufmerksamkeit zu schenken. Dieses Mal grinst sie aber doch, bevor sie den Mund aufmacht. »Bekommt der Yankee auch eine Socke?«

»Aww, ich wusste doch, dass du in Wahrheit total auf mich stehst!«, gurre ich wie ein Täubchen und klatsche mir die linke Hand aufs Herz, weil ich die rechte zum Weiteressen brauche.

Und das ist der Moment, in dem ich Madelyn Brunswick zum ersten Mal lachen höre, seit wir uns begegnet sind. »Träum weiter, Cowboy!« Mir war klar, dass sie dadurch hübsch aussehen würde, und der Klang lässt mich fast glauben, dass wir es nun doch endlich geschafft haben, eine Kerbe in das Eis zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten zu schlagen.

»Das sind Pferde da draußen, Maddie.« Ich schiebe mir eine Gabelvoll Hackbraten in den Mund und zwinkere ihr dabei über den Tisch zu. »Die geben keine Milch.«

»Heilige Jungfrau Maria«, bringt sich Ruth mit ihrem Altweiberkichern ein. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt behaupten, das ist wahre Geschwisterliebe.«

»Gott behüte!«, platzen Maddie und ich gleichzeitig heraus und konzentrieren uns von da an lieber nur noch auf das Essen vor uns.

An diesem Abend sitzt Ruth immer noch in ihrem knarrenden Schaukelstuhl vor dem warmen Ofen und arbeitet mit Nadel und Faden an einer gigantischen Weihnachtssocke, als ich ihr Gute Nacht sage. So wie es aussieht, wird das wohl meine, denn sie hat bereits meinen halben Namen in den Stoff gestickt und macht sich gerade an das I. Die Geste trifft mich tief ins Herz, und so bleibe ich wie angewurzelt stehen und blicke noch für einige stille Sekunden auf ihre Hände.

Ein warmes Lächeln erscheint dabei in Ruths faltigem Gesicht. »Jedes Familienmitglied bekommt seinen Platz am Kamin, mein Junge«, sagt sie sanft und hilft mir dadurch, mich mit einem Seufzen aus meiner Trance zu befreien.

»Danke, Ruth.« Als ich an ihr vorbeigehe, greift sie aber noch nach meiner Hand und drückt sie liebevoll. Mit einem Lächeln erwidere ich den Druck und murmle: »Gute Nacht.«

Zum ersten Mal seit Jahren fühle ich mich tatsächlich wieder willkommen in einem Haus und so schlurfe ich sentimental die Treppe mit dem rechten Winkel und dem kleinen Plateau in der Mitte hinauf zu meinem vierzehn Quadratmeter großen Zimmer, das komplett mit Birkenholz eingerichtet ist. Mit meinem Handy setze ich mich aufs Bett, lehne mich ans Kopfende und rufe Sandy an.

Anfangs haben wir fast jeden Abend gequatscht, aber mit der Zeit wurden wir etwas nachlässiger. Ich vermisse sie wirklich. Scheiße, ich vermisse mein Zuhause und alle, die ich dort kannte — na ja, fast alle. Trotzdem hilft die Auszeit hier im verschneiten Norden, wo man sich auf nichts als die Arbeit und die wenigen Menschen im Umkreis konzentrieren kann, sehr dabei, einigen Bullshit loszuwerden.

Ich muss mich endlich bis zum Kern meiner Seele vorgraben und schauen, was darin verborgen liegt. Ich will herausfinden, wer ich wirklich bin — ohne die beiden Cardington Geschwister, die das für mich unmöglich gemacht haben.

Das fröhliche Gesicht meiner besten Freundin erscheint nur eine Sekunde eher auf dem Display, bevor ihre Stimme zu hören ist. »Hi, Adrian!« Mit dem fürsorglichen Ausdruck in ihren Augen, mit dem sie zweifellos geboren wurde, besitzt sie das unglaubliche Talent, mir immer sofort ein warmes Gefühl zu bescheren. Es gab Tage in meinem Leben, an denen ich ernsthaft dachte, ich wäre in Sandra Michelle Cardington verliebt. Doch dann waren da auch andere Zeiten, in denen ich wusste, dass dies nicht weiter von der Wahrheit entfernt liegen könnte.

»Hey, Sands. Wie war deine Woche?«

»Anstrengend.« Sie verdreht die Augen. »Das College ist bei weitem nicht so spaßig, wie sie dich immer glauben machen wollen.«

Plötzlich wird ihr Gesicht kolossal. Alles, was ich noch von ihr sehen kann, sind ihre Augen und ihre Nase, die sie förmlich an den Bildschirm drückt, begleitet von einem verschwörerischen Flüstern. »Überleg es dir lieber zweimal, bevor du wieder zurückkommst, Herzchen!«

Damit bringt sie mich schamlos zum Lachen. »Das werde ich.« Aber im Moment denke ich überhaupt nicht ans Heimkommen. Das kommt noch früh genug, wenn meine sechs Monate als Au-pair zu Ende gehen.

Sandys Tonfall wird ernster, während sie das Handy wieder weiter von sich weghält und ihr Gesicht dadurch auf normale Größe schrumpft. »Und, wie geht’s dir so in Kanada? Genießt du die Zeit mit der lieben Omi noch?«

Ich nicke. »Inzwischen wird auch die Arbeit mit den Pferden immer mehr zur Routine.«

»Kein Muskelkater mehr?«

»Kein Muskelkater mehr.« Trotzdem ziehe ich eine Grimasse, denn die Erinnerung an die Schmerzen in meinen Armen und meinem Rücken während meiner ersten Arbeitswoche auf der Farm sind noch frisch. Wer hätte geahnt, dass einen tägliches Pferdemist- und Schneeschippen fitter halten würde als ein Workout im Fitness-Studio? Aber mir gefällt, wie sich mein Körper dezent definiert hat, und das in so kurzer Zeit.

»Hast du für nächste Woche irgendwelche großen Abenteuer geplant?«, neckt sie mich als Nächstes und streift sich dabei mit der freien Hand das schokobraune Haar über die Schulter.

Daraufhin schüttle ich nur den Kopf. Sie weiß, dass es hier außer Schnee absolut gar nichts gibt. Und dass Ruth mir eine Socke genäht hat, oder dass Maddie mir heute ihr erstes Lächeln präsentierte, sind Dinge, von denen ich ihr heute Nacht nicht mehr erzählen möchte. Auch nicht, dass North Beckett morgen vom College nach Hause kommt. Ich weiß nicht einmal, was mich davon abhält. Sind ja eigentlich keine großen Sachen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, je weniger ich jedem aus meinem alten Leben über die Tage hier erzähle, umso leichter kann ich den Zauber dieser außergewöhnlichen Reise für mich behalten und das Beste aus der Zeit hier machen. Oder vielleicht möchte ich auch einfach nicht über mich selbst reden, wer weiß? »Und du? Irgendwelche Pläne?«

Ein dramatisches Seufzen entweicht meiner Freundin. »Jap. Ich werde versuchen, mir den Stoff für die Semesterprüfungen einzuhämmern. Da wäre ich gerade auch viel lieber in Kanada.«

»Nein, wärst du nicht!«, lache ich über sie. »Du kannst Kälte nicht ausstehen. Und Schnee. Und Abgeschiedenheit. Du würdest keine Woche hier überleben.«

»Da hast du wohl recht«, kichert Sandy. »Ich hab keine Lust darauf, mir den Hintern schockzufrosten. Nächstes Mal such dir bitte eine Farm auf Hawaii aus, dann fahren wir gemeinsam.«

»Abgemacht.« Ich presse die Lippen aufeinander und mein Lachen verebbt zu einem sentimentalen Lächeln. Ich schätze, ich habe wohl doch etwas Heimweh.

Als hinter ihr die Tür aufgeht und ihr Freund Thane den Kopf ins Zimmer steckt, offensichtlich auf der Suche nach ihr, dreht sie sich über die Schulter zu ihm und senkt das Handy dabei so weit ab, dass ich nur noch die schwarzen Pusteblumen auf ihrem weißen T-Shirt sehen kann, das sich über ihre Brüste spannt. Nett. »Ich komme in einer Minute«, dringt ihre Stimme zu mir durch. Sie wollen sich heute Abend wahrscheinlich noch einen Film ansehen, was das hier in ein sehr kurzes Telefonat verwandeln wird. Ich mag Thane Griffyn. Zuhause war er die einzige nicht-verwirrende Komponente in einem endlosen Spiel aus verrückten Gefühlen.

Sobald das Klicken der Tür zu hören ist, schenkt mir auch Sandy wieder ihre ganze Aufmerksamkeit.

»Film?«, frage ich sie.

»Nein. Cam ist gerade gekommen.«

Bei der Erwähnung ihres Bruders breitet sich schlagartig ein mulmiges Gefühl in meinem Bauch aus, doch ich versuche angestrengt, meinen Ausdruck dabei unverändert zu lassen. Sandys mitfühlender Blick verrät mir, dass ich kläglich daran gescheitert bin. Aber es freut mich, dass sie inzwischen viel besser mit Cameron zurechtkommt als damals, als die beiden noch Kinder waren und im selben Haus gewohnt haben. Keine üblen Streiche mehr, nehme ich an, dafür aber ein wirklich dickes Geschwisterband.

»Er hat Essen vom Chinesen mitgebracht«, fügt sie hinzu.

»Klingt lecker. Richte den Jungs schöne Grüße aus. Lass aber lieber Thane die Box öffnen. Man kann nie wissen.«

»Selbstverständlich!« Sandy verzieht angewidert das Gesicht, denn ich bin offenbar nicht der Einzige, der sich noch lebhaft daran erinnert, wie Cameron ihr einmal einen Frosch ins Essen gepackt hat, als sie dreizehn war. »Pass auf dich auf, Adrian.«

»Du auch. Und viel Glück für die Prüfungen. Ich melde mich nächste Woche wieder.«

Sie pustet mir einen Luftkuss zu, ehe sie auflegt, und ich lasse meinen Kopf nach hinten an die Wand kippen. Sandy und ich — das war eine Zeit lang eine recht nette Vorstellung, aber niemals wirklich eine Option. Sie hat mir einmal erzählt, woran sie erkannte, dass Thane Griffyn der Richtige für sie ist. Dass sie wirklich in ihn verliebt war … und zwar schwer. Sie meinte damals, es hätte alles etwas mit den Schmetterlingen zu tun. Und nicht nur mit einem oder zwei. Es musste genau die richtige Anzahl sein. In ihrem Fall waren das wohl siebzehn.

In neunzehn Jahren hatte ich kein einziges Mal Schmetterlinge im Bauch, wenn ich mit Sandy zusammen war. Aber ich habe mich bei ihr immer sicher und glücklich gefühlt. Und heute Nacht wünschte ich mir, ich könnte sie umarmen.

Was Cam angeht … das ist eine ganz andere Geschichte.

Ich werfe die schwere Steppdecke beiseite und schwinge noch einmal die Beine aus dem Bett. Dann gehe ich zum Schreibtisch, der komplett mit meinen Zeichensachen übersät ist. Zum traurigen Abschied hat mir Sandy einen neuen Zeichenblock für die Reise geschenkt, mit hochwertigem Papier und in exquisites Leder gebunden. Auf den ersten paar Blättern habe ich Skizzen von ihr aus meiner Erinnerung gemacht, um mir auf der langen Zugfahrt hierher die Zeit zu vertreiben. Außerdem auch noch Portraits von Leuten in meinem Zugabteil. Seit meiner Ankunft in Moonbreak Falls habe ich aber kaum zweimal einen Bleistift zwischen den Fingern gehalten.

Mit dem Zeichenblock an meine aufgestellten Beine gelehnt, mache ich es mir wieder auf dem Bett gemütlich und fange an, erneut das Mädchen zu umreißen, das mein ganzes Leben lang nebenan gewohnt hat. Ihr Haar weht im kalten Winterwind, ihr fröhliches Gesicht ist dem Himmel zugewandt und sie breitet ihre wunderschönen Schmetterlingsflügel aus, während sie auf Pascal, dem edlen schwarzen Hengst, durch die verschneiten Berge von Kanada reitet. Ich liebe es, Menschen in meinen Zeichnungen in Fantasy-Kreaturen zu verwandeln, und ich muss schon sagen, Sandy macht sich wirklich gut als geflügelte Elfe.

Ihr Bruder hingegen kam auf dem einzigen Bild, das ich je von ihm gezeichnet habe, etwas gefährlicher heraus. Niemand hat es jemals zu Gesicht bekommen. Nicht einmal Sandy, obwohl sie der einzige Mensch auf der Welt ist, der die Wahrheit kennt. Und drei Tage später habe ich es verbrannt.

Nach all der Zeit juckt es mich heute Nacht in den Fingern, eine neue Zeichnung von Cameron Cardington anzufertigen. Doch nach den sieben verhängnisvollen Minuten, die wir zusammen in seinem Keller verbracht haben — dem virtuellen Himmel eines Spiels, zu dem ich auf Sandys Geburtstagsparty vor zwei Jahren zwangsrekrutiert wurde — habe ich mir selbst geschworen, dass ich diese fesselnden Augen in meinem ganzen Leben nie wieder zeichnen werde.

2. North

Es ist wieder eine jener Nächte … einer dieser schrecklichen Träume, in denen man genau weiß, dass man schläft und sich nur an etwas aus seiner Vergangenheit erinnert. Die Party zu Sandys siebzehntem Geburtstag. Ich kenne jeden Schritt, noch ehe ich ihn überhaupt gehe, jedes Geräusch, das gleich folgen wird. Mein Herz klopft so wild wie die Marschtrommeln einer tausend Mann starken Artillerie, während ich Cameron Cardington in den Keller folge. Und ich kann einfach nicht aufwachen.

Gina, eine Freundin aus der Schule, fand es überaus lustig, die Regeln des Spiels Sieben Minuten im Himmel etwas abzuändern und uns beide zusammen in einen Raum zu stecken, damit wir uns ‚besser kennenlernen können.‘ Für Cam ist das alles nur ein Spaß. Aber ich habe eine Scheißangst davor.

Ich war noch nicht oft im Keller dieses Hauses, nur wenn Sandy ein paar alte Schulsachen brauchte, die sie in einem Berg aus Kartons ganz hinten aufbewahrt. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier.

»Gina hat einen merkwürdigen Sinn für Humor«, sagt Cameron gelassen und geht die Holztreppen voraus nach unten.

Eine Hand an die Wand gestützt, hoffe ich, dadurch etwas mehr Mut für das hier zu finden. »Ja«, nuschle ich und muss mich dann räuspern, damit meine nächsten Worte wieder etwas selbstsicherer klingen. »Ich habe mir noch nie viel aus diesen Spielen gemacht.«

»Warum nicht?«, fragt Cameron, als er plötzlich zu mir herumschwingt und dabei seltsam anzüglich klingt. Ich bin gerade mal von der letzten Stufe herabgestiegen, da drängt er mich mit seinem Körper sanft gegen die Wand hinter mir. »Zu kindisch für dich, Monterey?«

Shit! Ich kann spüren, wie sich seine Brust an meine drückt. Sein schokoladenbraunes Haar ist zerzaust, weil er sich heute Nacht schon unzählige Male mit den Fingern durchgefahren ist, und sein Atem trägt eine süße Likörnote. Mein eigener Atem kommt abgehackt und meine Augen werden immer weiter, während ich in seinem verwegenen Blick verlorengehe.

»Wow, Adrian …« Mein Name rollt wie eine Herausforderung über seine Zunge. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast glauben, du bist nervös.« Cam stützt sich mit einer Hand an der Wand neben meinem Kopf ab und legt die andere unter mein Kinn, um meinen Blick wieder zu seinem anzuheben, nachdem ich versucht habe, ihm auszuweichen. In diesem Moment verändert sich aber plötzlich sein Gesichtsausdruck und er sieht mir suchend in die Augen. Seine Stimme wird etwas leiser und er lehnt sich nur ein paar Millimeter näher. »Ist es so?«

Ich weiß nicht, was ich mit meinen Händen anfangen soll. Ein Teil von mir möchte ihn wegstoßen und mir dadurch etwas mehr Raum zum Atmen verschaffen. Und ein anderer, sehr beängstigender Teil fordert mich auf, sie einfach nur auf seine Brust zu legen und das hier geschehen zu lassen. Letztendlich drücke ich meine Handflächen für mehr Halt gegen die kalte Wand hinter mir.

»Ich habe noch nie einen Kerl geküsst«, murmle ich und kann mich kaum selbst in diesem halbdunklen Keller hören.

Als wäre das hier die normalste Sache der Welt, zuckt Cameron entspannt mit den Schultern. »Ich auch nicht.« Während seine Lippen langsam näher kommen, wird mein Atem immer schneller. Es entgeht ihm nicht und das ist es dann auch, was ihn schlussendlich nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt verharren lässt. »Aber für dich ist es etwas anderes, nicht wahr?«, fragt er plötzlich mit so weicher und verständnisvoller Stimme, dass sie mir ein schmerzhaftes Loch in die Brust brennt.

Ich schlucke schwer.

Cam zieht sich daraufhin zurück und reibt sich mit einer Hand übers Gesicht. »Fuck.« Sein Blick schweift zur Decke hinauf. »Weiß Sandy, dass du auf Jungs stehst?«

Mein Schweigen zieht seinen Fokus wieder auf mich. Zögernd schüttle ich den Kopf. Ich bin mir ja nicht einmal sicher, ob ich überhaupt auf Jungs stehe. Alles, was ich weiß, ist, dass Cameron Cardington seit über drei Jahren eine sehr besondere Wirkung auf meinen Herzschlag ausübt. Doch der Gedanke daran, dies auch nur irgendeiner Menschenseele zu erzählen, macht mir eine Heidenangst. Und Cameron ist definitiv der letzte Mensch auf dem Planeten, der es herausfinden sollte.

Meine Brust steht in qualvollen Flammen, die den gesamten Sauerstoff in meinen Lungen verbrennen.

»Okay, hör zu!«, fängt er an und steigt dabei rückwärts zwei Stufen hinauf, eine Hand am Geländer. »Du bist ein wirklich cooler Typ, Adrian, und ich mag dich echt gern. Aber ich denke, du solltest deinen ersten Kuss nicht an mich verschwenden.«

Ich habe in der Vergangenheit schon mit einigen Mädchen rumgemacht und Cameron weiß das ganz genau. Deshalb hat er das Wort ‚ersten‘ vermutlich auch aus einem besonderen Grund so sehr betont.

»Du weißt, dass es für mich nicht —« Sein Blick zischt auf der Suche nach den richtigen Worten willkürlich durch den ganzen Keller. »Es würde für mich nicht dasselbe bedeuten wie für dich.«

Ich gebe nur ein knappes Nicken von mir. Verdammte Scheiße, ich weiß doch nicht einmal, was es überhaupt für mich bedeuten würde. Cameron ist der Bruder meiner besten Freundin und obendrein der größte Playboy, den Oakspeak jemals ausgespuckt hat. Vielleicht ist es ja normal, dass man sich da auch als Kerl ein bisschen zu ihm hingezogen fühlt? Irgendeine bizarre Form von Bewunderung möglicherweise.

Gott, ich wünsche mir so sehr, dass es nur daran liegt.

Mit einem Seufzen nickt Cam nach oben zur Kellertür. »Komm schon. Wir sollten wieder zur Party zurückkehren und die Sache hier vergessen.«

Ich schließe die Augen, kippe den Kopf nach hinten an die Wand und ziehe tief den Atem ein. Ja, vergessen ist alles, was ich möchte.

Als ich die Lider wieder aufschlage, starre ich an die Decke meines Zimmers in Ruth Becketts Farmhaus in Kanada.

Oh Mann. Ich reibe mir mit den Händen übers Gesicht. Wann hören diese Träume endlich auf?

*

Der eisige Biss des Windes motiviert mich dazu, an diesem Morgen etwas schneller zu arbeiten. Beim Frühstück meinte Ruth, sie hätten für den Nachmittag eine Blizzard-Warnung rausgegeben. In Oregon hatten wir zwar niemals solche Schneestürme, doch der Ernst in ihrer Stimme hat mir ein flaues Gefühl in der Magengegend beschert. Sie hat mich angehalten, bis Mittag mit allem fertig zu sein und den Rest für morgen zu sparen. Soll mir recht sein. Ich möchte ungern vom Dach gefegt werden, wenn der Sturm einsetzt, während ich ein paar alte Schindeln festnagle.

Um halb elf bin ich mit den Ställen fertig und habe alles in Sicherheit gebracht oder festgeschnallt, das vom Wind erfasst und herumgeschleudert werden könnte. Zu meiner Überraschung hat mir Maddie bei Letzterem sogar geholfen, denn im Haus sind sie und Ruth inzwischen mit allen Weihnachtsdekorationsarbeiten fertig, die unbedingt noch vor Norths Ankunft erledigt werden mussten. Dank ihrer Unterstützung bleibt mir vor dem Essen noch genügend Zeit, um heiß zu duschen und danach in ausgewaschene Jeans zu schlüpfen, die nicht nach Pferd oder Heu riechen.

Obwohl das Wetter hier im Norden ja perfekt für dicke Strickpullis ist — und meine Mom hat mir genug davon in meinen Koffer gepackt, als ich offenbar nicht hingesehen habe — bleiben die kratzigen Dinger weit hinten in meinem Kleiderschrank vergraben. Stattdessen hole ich ein weißes Sweatshirt hervor. In der Grundschule hat Sandy mich immer wegen des Mangels an Regenbogen in meiner Garderobe kritisiert, und wenn ich ehrlich bin, habe ich damals einfach auch oft weiße Shirts angezogen, nur um die kleine Klugscheißerin mit den rosa Einhorn-Kleidchen und dem Pferdeschwanz zu ärgern. Später jedoch wurden weiße Hoodies irgendwie zu einer Gewohnheit, und die hat sich über die Jahre zu einem soliden persönlichen Stil entwickelt. Ich mag Weiß. Es ist so unvoreingenommen.

Ich richte mir noch die Kapuze um den Nacken, als ich bereits wieder auf dem Weg nach unten bin. Auf dem kleinen Plateau in der Mitte der Treppe halte ich dann aber überrascht inne und blicke zur Tür, als diese aufgeht und ein eiskalter Windstoß durchs ganze Haus jagt. Ein paar Schneeflocken wirbeln herein und funkeln silbern im Mittagslicht, als wollten sie einen Engel ankündigen.

Wie in einer anderen Dimension gefangen, sinke ich langsam noch einen Schritt weiter auf die nächste Stufe und klammere meine Finger dabei fester um das hölzerne Geländer, als ein junger Mann durch die Tür tritt, der in seiner Unheiligkeit wohl kaum noch weiter von einem Engel entfernt sein könnte. Schwarze Winterschuhe, schwarze Skaterhose, eine schwarze Jacke, und Haare so äschern, als wäre er gerade erst aus den verbrannten Ebenen der Hölle emporgestiegen. Mit einem Hauch von Karamell durchzogen.

Er lässt seine Sporttasche neben sich auf den Boden fallen und wirft die Tür hinter sich zu. »Hallo! Grams?«, ruft er dabei laut in keine erkennbare Richtung. Dann springt er zweimal auf der Stelle und hält den Kopf leicht nach vorn geneigt, um den Schnee aus seinen zerzausten Haaren zu schütteln. Mit einer Hand, die in einem fingerlosen schwarzen Handschuh steckt, wuschelt er zusätzlich durch die wilden Strähnen und unterstreicht mit dem Radioactive-Symbol auf dem Handrücken das dunkelblonde Chaos.

»North!«, quietscht eine aufgeregte Stimme von links aus dem Durchgang zur Küche und sobald Ruth auftaucht, zucken seine Mundwinkel zu einem Lächeln hoch, das alle Sünden der Hölle unter der aufrichtigen Wiedersehensfreude für seine Großmutter verbirgt.

Während North an der Treppe vorbei auf sie zugeht, schwenkt sein Blick jedoch leicht in meine Richtung, denn offenbar fällt ihm erst jetzt auf, dass sich auch noch eine dritte Person im Raum befindet. Als hätte jemand den Zeitlupenknopf für Moonbreak Falls gedrückt, dauert sein einzelnes Blinzeln plötzlich eine Ewigkeit, und das dunkle Blau seiner Augen leuchtet dabei so intensiv wie der Himmel kurz vor einem Sonnenaufgang. Eine Gänsehaut prickelt in meinem Nacken und zieht auch noch über meine Arme bis zu meinen Handgelenken hinunter.

Dann verschlingt ihn Ruth aber mit den Worten: »Komm her, mein kleiner Wonnepups!« in einer so heftigen Umarmung, dass sein herzliches Lachen die Zeit wieder geraderückt und ich mich mit einem leichten Kopfschütteln aus diesem obskuren Moment befreie.

Kleiner Wonnepups? Der Kerl ist zwei Köpfe größer als sie. Die letzten zehn Jahre, seit North ganz offensichtlich aus den Kinderfotos ihres Albums entwachsen ist, sind anscheinend unbemerkt an ihr vorübergegangen.

Dennoch schafft es Ruth mit ihrer Umarmung, die Luft aus North herauszuquetschen, und so endet sein Lachen in einem überforderten Husten, bis sie ihn endlich loslässt. »Ich hab dich so vermisst!«, trällert sie und kneift ihn glücklich in die Pausbacken, die heute definitiv keine mehr sind.

North nimmt ihre Hand und drückt sie, grinst dabei aber schief und lässt plötzlich den Blick noch einmal zu mir schweifen. »Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagt er zu ihr. »So sehr, dass du dir gleich einen Ersatzenkel angeschafft hast.«

Oh.

»Oh, nein!«, stottere ich und steige die nächsten drei Stufen bis zur letzten hinunter. »Das stimmt nicht. Ich … ich arbeite nur hier.« Ich will kein streittreibender Punkt zwischen den beiden sein. Nach Ruths Erzählungen sind sie eine so glückliche Familie. Ganz anders als meine eigene. »Mein Name ist —«

»Ich weiß, wer du bist … Adrian«, unterbricht mich Ruths Enkelsohn aber ganz plötzlich und all der Schalk ist aus seiner Miene verschwunden. Seine Stimme ist besänftigend und verständnisvoll, als er auf mich zukommt und mir eine Hand entgegenstreckt, die ich zaghaft und verwirrt ergreife.

Wow. Die ist warm.

»Grams hat mir in den letzten Wochen eine Menge von dir erzählt. Und ich muss zugeben, ich war schon ziemlich neugierig darauf, was für ein besonderer Goldschatz mich hier erwartet. Sie sagt, dich hat der Himmel geschickt.« North lässt seine Augen einmal in einer unscheinbaren Abwärtswanderung über meinen ganzen Körper gleiten und sieht mir in der nächsten Sekunde bereits wieder ins Gesicht. Dabei zuckt sein linker Mundwinkel hoch, was meinen Hals austrocknen lässt, und ich schlucke. Dann macht er einen Schritt zurück, lässt aber meine Hand nicht sofort los, sondern gibt mir nur genug Raum, um von der Treppe zu steigen.

Ich folge seiner Einladung mit der anderen Hand immer noch fest am Geländer, weil ich den Halt seltsamerweise benötige. Einen dankbaren Blick kann ich dabei aber trotzdem zu Ruth werfen, weil es mich tief berührt, wie sie mich offenbar in ihren Erzählungen darstellt. Das wusste ich nicht.

»Willkommen in Moonbreak Falls. Ich hoffe, du fühlst dich hier bereits wie zu Hause«, sagt North mit einem freundlichen Lächeln und öffnet nun auch seine Finger, sodass meine Hand aus seiner gleiten kann. Viel zu langsam, wie mir auffällt.

»Ja. Es ist wunderschön hier.« Besser als zu Hause.

»Komm, zieh dich aus, Junge!«, drängt ihn Ruth aber nun aufgeregt und flattert in ihren Filzpantoffeln los in die Küche. »Wir wollen gleich essen. Der Tisch ist schon gedeckt.«

Das lässt sich North nicht zweimal sagen. Er schält sich aus seiner Jacke und hängt sie an den Haken neben der Tür. Dann zupft er sich den schwarzen Hoodie zurecht, unter dem der Saum eines weißen T-Shirts schlampig um seine Hüften hervorblitzt. Dabei scheint er auch zum ersten Mal seine Umgebung richtig wahrzunehmen und macht einen Dreihundertsechzig-Grad-Schwenk durch das ganze Haus. »Oh mein Gott! Wie’s hier wieder aussieht!«, raunt er. »Schläft Grams jetzt mit dem Weihnachtsmann, oder was?«

»Hey, werd nicht frech, Kleiner, sonst gibt’s was hinter die Ohren!«, dringt Maddies kokette Stimme durchs Wohnzimmer. Als North das Teilzeithausmädchen erspäht, beginnt sein Gesicht erneut zu strahlen und er breitet seine Arme aus, weil sie im nächsten Moment freudequietschend auf ihn zustürmt. Mit einer sportlichen Drehung fängt er ihren Schwung ab und drückt sie dann fest an sich.

»Es ist so schön, dass du endlich wieder da bist!«, murmelt sie glücklich an seine Brust.

Ich schüttle leicht den Kopf. Man muss wohl Kanadier sein, um das von ihr zu bekommen.

Nun lasse ich den beiden aber doch ihren Wiedersehensmoment und folge Ruth in die Küche, um ihr beim Auftischen zu helfen. Bis das lecker duftende Brathähnchen aufgetragen ist, kommen auch sie herein und gehen zum Tisch. North zieht dabei den Stuhl heraus, auf dem ich die letzten vier Wochen immer gesessen habe, aber ehe ich mir noch einen anderen Sessel aussuchen kann, funkt Ruth bereits dazwischen: »Nein, da kannst du nicht sitzen. Das ist Adrians Platz.«

Wie vom Blitz getroffen, stehe ich da und weiß gerade überhaupt nicht, wie ich mich aus der Sache winden soll. Auch North bleibt für einen Moment wie angewurzelt stehen, die Finger noch um die Rückenlehne des Holzstuhls geschlungen, und zieht perplex die Augenbrauen hoch. Ruth ignoriert ihn aber völlig, als wäre ihr überhaupt nicht bewusst, was für eine große Sache das gerade ist.

»Na sieh mal einer an!«, gibt North schmunzelnd von sich und dreht den Kopf dabei zu mir. In seiner Miene ist kein Groll zu erkennen und auch die Überraschung weicht sogleich seiner fröhlichen Stimmung. »Und da sag noch mal einer, ich wurde nicht ersetzt.« Er zieht den Stuhl noch weiter zurück und nickt mich näher heran. »Na los, setz dich.«

Mir ist die ganze Situation wirklich mehr als unangenehm, denn auch wenn es absolut nicht meine Absicht ist, habe ich bereits fünf Minuten nach Norths Heimkehr das Gefühl, ich bin hier das fünfte Rad am Wagen, das sich ungewollt in einen Keil verwandelt.

Zögerlich gehe ich zu dem Platz, der in einem rechten Winkel zu Ruth am Tisch liegt und lege meine Hand neben die von North auf die Rückenlehne. »Hey … das ist … es tut mir leid«, murmle ich dabei leise und nur zu ihm gedreht, um Ruth nicht mit hineinzuziehen.

»Warum? Weil dich Grams gut leiden kann?« North zwinkert mir zu und geht dann auf die andere Seite des Tisches, um sich neben Maddie zu setzen. »Dann hast du mich jetzt eben an der Backe«, säuselt er ihr ins Ohr. Für ihn scheint all das hier kein Problem zu sein. Andererseits dürfte es ihm gerade recht sein, dass er neben der dunkelhaarigen Haushaltshilfe sitzen kann, denn im nächsten Moment springt sie quiekend einen halben Meter vom Stuhl hoch, weil er sie offenbar in den Oberschenkel gekniffen hat.

Ich bin mir gerade nicht ganz sicher, was die zwei für eine Beziehung zueinander haben. Darüber, dass sie vielleicht ein Paar sind, hat nie jemand ein Wort verloren, seit ich hier bin, aber sie wirken ungewöhnlich vertraut miteinander. Vielleicht läuft da ja doch etwas mehr zwischen den beiden. Der Gedanke zwingt mich auf merkwürdige Weise dazu, den Blick von ihnen fernzuhalten, darum konzentriere ich mich ganz auf das Essen auf meinem Teller und überlasse heute den anderen das Reden.

Es sind vor allem Ruth und Maddie, die eine enthusiastische Unterhaltung über den neuen Laden in der Stadt führen, der neben Büchern und allem möglichen Schnickschnack offenbar auch wunderschöne Stoffe verkauft, aus denen sich Ruth demnächst wieder einmal ein paar neue Schürzen nähen will.

Wenige Minuten später schiebe ich mir den letzten Bissen Gemüse in den Mund und lege dann die Gabel beiseite. Als ich mir mit der Serviette über die Lippen wische, ist es aber fast wie ein Reflex, über den Tisch zu North zu schielen, der mir schräg gegenüber sitzt, und plötzlich bleibt mir die Luft weg.

North ist mit seinem Essen bereits fertig und lehnt entspannt in seinem Stuhl. Die Hände hat er auf dem Bauch verschränkt und sein intensiver Blick ruht unverschämt auf mir. Ich räuspere mich kurz, schlucke, und lege die Serviette wieder auf den Tisch. Meine Augen wandern dabei mehrmals zwischen dem Teller vor mir und North auf der anderen Seite hin und her. Ich möchte ihn fragen, was los ist, doch sein eindringlicher Blick macht etwas sehr Seltsames mit mir und mir versagt die Stimme.

Er ist selbst so schweigsam und seine Miene so unlesbar, dass ich mich frage, ob er mich gerade als Rivalen in der Gunst seiner Großmutter auf der Liste seiner Erzfeinde ganz nach oben setzt. Oder ob ich vielleicht Gemüsereste zwischen den Zähnen habe. In jedem Fall spüre ich, wie mir dabei die Wangen etwas warm werden, was mir schon seit einer sehr langen Zeit nicht mehr passiert ist. Genau genommen gab es bisher nur einen einzigen Menschen, dem es gelungen ist, meinem Körper diese verhängnisvolle Reaktion zu entlocken. Was zum Teufel —?

North scheint es allerdings zu gefallen, mich so leicht aus der Fassung bringen zu können, denn in dem Moment, als ich mir verunsichert auf die Unterlippe beiße, heben sich seine Mundwinkel zu einem fast unscheinbaren Lächeln an. Dann zucken seine Augen kurz nach links zu Ruth und da merke ich erst, dass das Thema der Unterhaltung am Tisch inzwischen ich bin.

»… bereits so viel geleistet. Die Pferde lieben ihn und er ist unglaublich fleißig«, plappert die alte Lady unaufhaltsam und trägt dabei das gleiche Schillern in ihren Augen, das ich sonst nur von jenen Momenten kenne, wenn sie mir von North erzählt.

»Ist das so?«, fragt North und grinst mich dabei interessiert an. Ich kenne ihn noch zu wenig, um sein Verhalten wirklich deuten zu können, aber ich fühle mich nicht wohl dabei, wenn seine geliebte Grams vor ihm so von mir schwärmt.

»Ja«, schnattert Ruth unbehelligt weiter. »Du hättest ihn mal sehen sollen, als er eingezogen ist. Ganz hager und schwach war er. Wie ein trauriges Eichhörnchen.«

»Hee!«, platzt es aber nun doch unerwartet aus mir heraus, obwohl ich selbst mit den anderen über diesen Vergleich lachen muss. »Das stimmt überhaupt nicht!« Ich war nicht hager.

»Und jetzt … sieh ihn dir an!«, jubelt sie beinahe, als wäre es ihr eigener Verdienst, dass ich inzwischen ein paar Pfunde an Muskeln zugelegt habe. Was auf Grund ihres überragend guten Essens natürlich zum Teil auch der Fall ist. »Heute ist er so stark wie ein All Canadian Bear

North, der die übertriebenen Ausführungen seiner Oma definitiv unterhaltsam findet, steht auf und geht hinter ihr um den Tisch herum. Wie sich gleich darauf herausstellt, will er zum Kühlschrank und hat den Umweg nur gemacht, um im Vorbeigehen seine Finger um meinen Oberarm legen zu können. Mit leichtem Druck fühlt er dabei meine Muskeln und ich spanne aus Reflex für eine Millisekunde den Arm an. Es ist mehr ein Zucken aus Schock als die Absicht, ihn beeindrucken zu wollen.

»Na ja«, stellt er heiter fest und geht dann weiter, um sich aus dem Eisfach eine kalte Limo zu nehmen. »Eher wie ein All Canadian Ozelot, wenn du mich fragst.« Er grinst immer noch, als er die Flasche öffnet, sie an seine Lippen führt und mich mit leicht nach hinten geneigtem Kopf unter seinen langen, dunklen Wimpern hervor beobachtet. Das Ganze hat etwas merkwürdig Anzügliches und mir fällt auf, wie ich zum zweiten Mal in weniger als dreißig Minuten eine Gänsehaut wegen North Becketts Blick bekomme.

3. Zuckerstücke

Der Wind hat nach dem Essen spürbar angezogen und es wird Zeit, die Pferde in den Stall zu bringen, bevor es draußen richtig ungemütlich wird.

North ist nach oben in sein Zimmer verschwunden, um auszupacken, und Maddie meinte, sie kümmert sich um den Abwasch, also ziehe ich mich an und gehe wie immer mit zwei Stricken hinaus auf die Koppel. Die Pferde stehen Gott weiß wo verstreut und ich muss erst mal ein paar Hundert Meter laufen, um Symphony und einen der Hengste anzuleinen. Als ich mit den beiden allerdings zum Ausgang der verschneiten Weide zurückkomme, sitzt North auf einem Querbalken des Koppelzauns und beobachtet mich in aller Ruhe.

»Machst du das immer so umständlich?«, fragt er und bringt mich damit erneut schlagartig aus meinem routinierten Konzept. Der Kerl hat offenbar ein besonderes Talent dafür. Vielleicht liegt es aber auch nur an mir.

»Was meinst du?«, erwidere ich und bleibe mit den zwei Pferden vor ihm stehen.

»Na ja, dass du fünf Kilometer spazierst, um jedes Pferd einzeln vom Spielplatz abzuholen.«

»Ähm … ja?« Wieso? »Wie sollte ich es denn sonst machen?«

Schmunzelnd rutscht North außerhalb der Koppel vom Zaun und nickt mit dem Kopf an seine Seite. »Los, komm raus.« Weil er mir bereits seine beiden Hände entgegenstreckt, reiche ich ihm die zwei Stricke und steige dann durch die Sprossen zu ihm nach draußen.

Ohne ein weiteres Wort wickelt er die Stricke locker um einen Balken, steckt dann seine beiden kleinen Finger in den Mund und stößt einen Pfiff aus, bei dem ich kurz zusammenzucke. Schon in der nächsten Sekunde ist das Hufgetrampel von galoppierenden Pferden zu hören, die schnurstracks auf uns zukommen. Es dauert nicht lange, bis sich ihre massiven Körper vor uns aneinander drängeln und sie alle auf North fixiert sind.

Kein Wunder. Der holt aus seiner Jackentasche nämlich eine Handvoll Zuckerwürfel und verteilt sie an die Herde. »So sollst du es machen«, sagt er dabei und lässt seinen Blick für einen Moment seitlich zu mir gleiten, der von einem schiefen Grinsen untermalt wird. »Oder könntest du, wenn du dir die ganze unnötige Rennerei ersparen willst.«

Er streichelt ihnen allen noch liebevoll über die Stirn und die Nüstern und zieht dann das Gatter beiseite. Calito und Symphony nimmt er mit den Stricken in eine Hand und mit der anderen greift er nach dem Halfter von Princess. Sunny tänzelt dabei neben seiner Mammi her und so führt North eben mal problemlos vier Pferde auf einen Streich in den Stall.

Fasziniert von seinem souveränen Umgang mit den Tieren, schaue ich ihm hinterher.

»Kommst du mit Pascal und Luna allein klar?«, fragt er über seine Schulter und zwinkert mir dabei zu, weil er mein Starren offenbar ganz falsch interpretiert. Oh, shit!

»Ja, natürlich.« Ich mache es wie er und greife den beiden übrigen Pferden ans Halfter. Es klappt tatsächlich mühelos und sie gehen ebenso brav neben mir her, als würden sie an einem Strick geführt. Pfeifen. Hah. Wer hätte das gedacht?

Sobald alle sechs Tiere in ihren Boxen stehen, verfüttert North noch eine Extrarunde Zuckerstücke an sie und lässt dabei nur Luna aus, vor der ich stehe. Statt ihr den Zucker zu geben, legt er ihn in meine Hand.

Allerdings setzt dadurch eine leichte Panik in mir ein, denn so kleine Dinge habe ich den Pferden noch nie gegeben. Ganze Karotten und große Brotstücke haben sich immer hervorragend angeboten, weil ich dabei meine Finger noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, ehe sie zwischen den gewaltigen Dinosaurierzähnen zermalmt werden konnten.

Zwar bringe ich gerade kein Wort heraus, aber North scheint binnen Sekunden an meiner Körpersprache abzulesen, wo das Problem liegt.

»Das ist ganz leicht«, ermutigt er mich und stellt sich dann hinter mich. Ich kann seine Brust an meinem Rücken spüren. Im nächsten Augenblick greift er sachte nach meiner Hand und hebt sie hoch. »Mach sie flach, als wäre sie ein Teller«, sagt er leise, »und lass alle Finger fest beisammen.«

Ich tue, was er sagt, doch meine Hand beginnt leicht zu zittern.

»Es gibt keinen Grund, nervös zu sein«, murmelt North mit ruhiger Stimme und sein warmer Atem streift dabei mein Ohr.

Aber den gibt es für mich sehr wohl, denn es ist gerade nicht mehr nur das Pferd, das mich aus der Ruhe bringt. Vielmehr macht die plötzliche Nähe zu North sehr bedenkliche Dinge mit mir. Ein Kribbeln zieht über meinen Nacken, das auch meinen Herzschlag unerwartet beschleunigt, und ich fühle mich, als würde — wie damals in Sandys Keller — eine ganze Welt über mir einstürzen.

Nein, bitte! Das darf jetzt nicht wahr sein! Nicht mit North Beckett!

Noch ehe die Pferdeschnauze meine Hand berühren kann, zucke ich krampfhaft zurück und das Zuckerstück fällt auf den Boden. Während North sich darum bückt, mache ich zwei panische Schritte von ihm weg.

Er kommt nur langsam wieder hoch und mustert mich dabei eindringlich mit einem Blick, der einerseits fragend, andererseits aber sehr durchschauend wirkt. Ich hingegen weiß absolut gar nichts mehr. War das jetzt mein Fehler? Oder sein Fehler? Mein Herz flattert überfordert gegen meinen Hals. Hat North Beckett etwa gerade versucht, mit mir anzubändeln?

»Ich kann das nicht!«, schießt es aus mir heraus und ich mache noch einen dritten Schritt nach hinten, als könnte der mich jetzt aus meiner prekären Lage retten. Ich bin doch nur diese vielen Hundert Meilen von Oakspeak geflohen, um all die Gefühle, die mich seit Monaten so sehr verwirren, ein für alle Mal hinter mir zu lassen.

Das hier sollte nicht passieren!

»Okay …«, gibt North langsam von sich, als er sich wieder vollends aufgerichtet hat. Seine karamellfarbenen Augenbrauen, die mit einem leichten Knick teuflisch perfekt geformt sind, wandern dabei ein Stück nach unten, um eine argwöhnische Falte über seiner Nase zu formen. Dann verfüttert er den süßen Würfel selbst an Luna und wir lassen beide im Raum stehen, ob es nun gerade um das Zuckerstück oder die plötzliche Nähe ging.

Im nächsten Moment steckt North die Hände in seine Hosentaschen, sieht mich noch einmal mit einem unscheinbaren Lächeln an, dreht sich dann um und geht ohne ein weiteres Wort aus dem Stall.

Sobald nur noch ich und die Pferde hier drinnen sind, reibe ich mir mit beiden Händen übers Gesicht und ächze verzweifelt in meine Finger. Wo ist denn bitte der nächste Canyon, in den ich mich stürzen kann?

Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge, um das Chaos in meinen Gedanken zu beruhigen, was mir eher schlecht als recht gelingt. Dann gehe aber schließlich auch ich nach draußen und verriegle das Scheunentor, damit der Wind es später nicht aufreißen kann.

Als ich ins Haus zurückkomme, dringen fröhliches Ruth-Geschnatter und das Lachen von North und Maddie aus der Küche. Ich hänge meine Jacke auf, stelle die Schuhe vor den Kachelofen und bleibe noch eine Weile davor stehen, um mir die Hände zu wärmen. Dann beschließe ich, mich für heute lieber auf mein Zimmer zu verziehen. Das scheint mir für den Moment das Sicherste zu sein. Aus so vielen Gründen.

*

Der Wind pfeift ums ganze Haus und fährt heute Nacht durch jede Ritze im Holz. Mit den Armen hinter meinem Kopf verschränkt, liege ich im Bett und starre schon seit Stunden im Dunkeln an die Decke. Es scheint, als wäre der Sturm inzwischen auch in meine Gedanken eingedrungen.

Ich habe mich heute Nachmittag die meiste Zeit in meinem Zimmer verkrochen. Einerseits, um Ruth etwas Zeit allein mit ihrem geliebten Enkel zu geben, und andererseits, um North aus dem Weg zu gehen. Die plötzliche Anziehung zu ihm hat mich wie eine Lawine überrollt und völlig planlos unter sich begraben. Darauf war ich absolut nicht vorbereitet. Und es macht mir Angst.

Herrgott, warum kann mir das nicht mit einem Mädchen passieren? Ich rolle mich auf den Bauch und drücke stöhnend das Gesicht ins Kissen. Ich hatte wirklich gehofft, Cam wäre die große Ausnahme gewesen. Immerhin war da ja auch noch Sandy, die alles ausgeglichen hat.

Aber ein einziger Moment mit North Beckett … und meine Welt zerbricht erneut.

*

Als ich am nächsten Morgen zur gewohnten Zeit ins Wohnzimmer runterkomme, liegt bereits ein Stapel Holz neben dem Kamin und im Ofen brennt das Feuer. Da war anscheinend jemand schneller als ich. Für einen Moment packt mich das schlechte Gewissen, doch dann blicke ich auf die Uhr und beschließe, dass es nicht mein Fehler ist, wenn der Collegestudent lieber schon vor fünf ums Haus herumschleicht, anstatt seine Ferien zum Ausschlafen zu nutzen.

Im Erdgeschoß verbreitet sich der herrlich aromatische Duft von heißem Kaffee und ich folge dem Lockruf in die Küche. Eine ganze Kanne voll steht unter der Maschine und North lehnt an der Theke mit einer Tasse in seinen Händen. Ein warmes Rieseln ergießt sich durch meinen Körper, doch ich weigere mich in diesem Moment, mich seiner Anziehung hinzugeben. Dafür ist mir die besondere Auszeit in Kanada zu wichtig — das habe ich gestern nach stundenlangem Grübeln für mich selbst entschieden. North wird nicht ewig hier sein. Ich werde die Zeit mit ihm schon irgendwie überstehen und nach seiner Abreise mit meiner Selbstfindung eben noch einmal von vorn beginnen. Für den Moment reicht es, einfach so zu tun, als wäre da nichts.

Das ist der Plan.

»Morgen«, brumme ich mit noch schlaf-heiserer Stimme, ohne den Augenkontakt lange zu halten, und schenke mir dann selbst einen Becher von der Brühe ein. North sagt nichts, doch ich kann quer durch den Raum spüren, wie sein Blick mich durchbohrt. Er verursacht mir damit ein heißes Kribbeln im Nacken, das ich mit einer Hand weg reibe. »Bist du immer so früh auf?«, frage ich, um die beklemmende Stille zu unterbrechen und cooler zu wirken, als ich mich fühle. Dabei drehe ich den Kopf in seine Richtung, während ich die Milch aus dem Kühlschrank nehme.

»Alte Gewohnheit, wenn ich zu Hause bin«, murmelt er an den Tassenrand, den er gerade an seine Lippen gehoben hat, und fixiert mich dabei immer noch mit seinen dunkelblauen Augen. In ihnen kann ich das Chaos erkennen — mein eigenes.

»Du bist gestern ziemlich früh verschwunden«, wechselt er mühelos das Thema. »Grams hat sich schon Sorgen um dich gemacht.«

Ich schütte die Milch in den Kaffee und sehe mich dann nach der kleinen weißen Porzellanzuckerdose mit den blauen Blümchen darauf um, die nicht an ihrem gewohnten Platz im Regal steht. In diesem Moment schiebt North die Dose langsam mit einer Hand über die Theke und nimmt dann den Deckel ab. Sobald ich die Zuckerwürfel im Porzellanschälchen erblicke, läuft mir ein brennender Schauer der Erinnerung an gestern über den Rücken und ich schlucke.

Ich nehme zwei Würfel heraus und lasse sie in meine Tasse fallen. Dann rühre ich mit einem kleinen Löffel um und antworte dabei leise: »Ich wollte euer Wiedersehen nicht stören.«

»Das hast du nicht.« North setzt den Deckel wieder drauf und stellt die Zuckerdose zurück ins Regal, das direkt vor mir an der Wand befestigt ist. Dabei kommt er für eine Sekunde so nahe, dass sich die Distanz zwischen uns genauso sehr aufwärmt wie der Kaffee meine Finger, als ich die Tasse hochnehme.

Ich mache einen Schritt zur Seite, lehne mich an die Thekenkante und nehme einen Schluck, der bittersüß meine Kehle hinunterfließt und meine Stimmbänder endlich etwas geschmeidiger macht. Auch North rutscht wieder an seinen Platz am gegenüberliegenden Ende der Küche zurück und beobachtet mich immer noch wie ein entspannter Luchs im Wald. Während ich mein Gesicht hinter der Tasse verstecke und nur über den Rand hinweg zu ihm sehe, heben sich seine Mundwinkel wieder diese geheimnisvollen drei Millimeter nach oben zu einem kaum erkennbaren Lächeln.

Es macht mich viel zu nervös, weil mein Körper beschlossen hat, all meine Einwände zu ignorieren und lieber intensiv mit Herzflattern, trockenem Hals und unnatürlich schnellem Blinzeln auf dieses kleine Grinsen zu reagieren. Ich muss hier raus.

Den Kaffee kann ich auch draußen im Stall trinken und es ist ohnehin Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. »Bis dann!«, bringe ich noch hervor und gehe durchs Wohnzimmer zur Eingangstür, wo ich mir die Schuhe und meine warme Jacke anziehe.

Ich habe gerade meine Finger auf die Türklinke gelegt, als North hinter mir ins Wohnzimmer kommt und mit warmer, aber doch sehr bestimmter Stimme meinen Namen ausspricht. Ich drehe nur den Kopf über meine Schulter und mustere ihn zurückhaltend.

Da kommt er auf mich zu, nimmt die Tasse hoch, die ich eben auf der Kommode abgestellt habe, um die Hände für meine Schnürsenkel freizuhaben, und hält sie mir mit einem kleinen Grinsen entgegen. »Vergiss deinen Kaffee nicht.«

Beim Klang seiner provokanten Stimme fühlt es sich an, als könnte ich das Knistern der Luft im Raum direkt auf meiner Haut spüren. Weil ich in diesem Zustand kein Wort herausbekomme, schließe ich kurz die Augen und seufze über mich selbst. Dann nehme ich die Tasse und verschwinde durch die Tür.

Ich möchte mich nicht zu North Beckett hingezogen fühlen. Herrgott! Aber wenn er solche Sachen macht, kribbelt es in meinem ganzen Körper.

Als ich über den Hof zu den Ställen gehe, holt mich mein Umfeld jedoch sehr schnell wieder aus meinen verzweifelten Gedanken zurück ins kalte Kanada. Der Sturm von letzter Nacht hat hier einige Spuren hinterlassen. Verdammt! Ein Teil des Weidezauns ist umgekippt und auch am Stall hat der Wind einige Holzlatten gelockert. Zudem liegen vor mir ein paar zerbrochene Schindeln im Schnee, die vom Dach des Hauses geweht wurden. Vielleicht hätte ich sie gestern doch noch festnageln sollen. Jetzt ist es wohl Zeit für neue.

Ich bringe die Pferde raus und mache zuerst wie immer ihre Boxen. Als ich am frühen Vormittag damit fertig bin und das Werkzeug aus der Scheune für die Reparaturen holen möchte, zieht mich jedoch ein rhythmisches Hämmern aus der Routine und ich bleibe am Stalltor stehen. Mein Blick schweift über den Hof, auf der Suche nach dem Lärm, und dabei entdecke ich North zwanzig Meter entfernt an der Koppel, der mit einem Vorschlaghammer gerade schwungvoll einen neuen Pfeiler für den Zaun in den Boden treibt.

Seine Jacke hat er ausgezogen und über einen Querbalken geworfen, und die Ärmel seines schwarzen Sweatshirts sind bis zu den Ellbogen hochgeschoben. Wie in Wellen schiebt sich seine Kraft aus den Beinen hoch in seine Arme und fließt über den Stiel in den Hammer, den er immer und immer wieder über seinen Kopf von hinten nach vorne zieht. Der Anblick hat etwas Hypnotisches, und so stehe ich erschreckende drei Minuten lang nur da und sehe ihm bei der Arbeit zu.

Als er den Hammer endlich abstellt, weil der Pfosten inzwischen wohl tief genug in die frostige Erde gerammt wurde, wischt er sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Dann greift er nach seiner Wasserflasche, die auf dem Boden steht, und während er ein paar Schlucke daraus trinkt, zieht sein Blick schräg in meine Richtung — als wüsste er ganz genau, dass ich hier stehe und ihn schon die ganze Zeit beobachtet habe.

Fuck. Was habe ich mir nur dabei gedacht?

Ich will mir die Hände vors Gesicht schlagen und in einem Loch versinken, aber mein Körper ist wie versteinert und lässt keine einzige Bewegung zu. Nur Blinzeln, das darf ich noch.

North scheint mein Verhalten allerdings nicht zu irritieren. Er sagt auch nichts dazu, sondern stellt nur still die Flasche ab und macht sich dann wieder an die Arbeit. Offenbar darf ich ihn weiter beobachten, ohne dafür gerügt zu werden. Was ich natürlich nicht tue. Himmel Herrgott!

Sobald ich endlich wieder bewegungsfähig bin und den verfänglichen Moment runtergeschluckt habe, gehe ich auf ihn zu und fasse schweigend mit an. Eine der langen Querlatten ist im Sturm gebrochen und muss ersetzt werden. Sie liegt schon neben all dem Werkzeug bereit und ich hebe sie an die richtige Stelle, damit North sie am Pfeiler befestigen kann. Die ganze Zeit über vermeide ich es beharrlich, ihn dabei anzusehen. Lieber konzentriere ich mich auf meine Hände und das Werkzeug. Scheint mir sicherer zu sein.

Erstaunlicherweise arbeiten wir aber auch schweigend sehr gut zusammen und nachdem der Zaun repariert ist, reicht nur ein Blick von North in die Richtung des Hauses und ich verstehe, worauf er hinaus will. Ich nicke und wir räumen die schweren Werkzeuge weg, um uns dann mit etwas leichterem Geschütz an die kaputten Schindeln zu machen.

North hat alles in eine Kiste gepackt, die er auf dem Boden abstellt. Dann klettert er über das Geländer der Veranda zuerst aufs Vordach, von wo aus man weiter auf das Hauptdach gelangt. Ich reiche ihm die Kiste und steige über denselben Weg zu ihm hoch.

»Pass auf, hier oben ist es glatt!«, sind die einzigen Worte, die er über die nächste halbe Stunde spricht. Ich folge seinem Rat, denn obwohl unter uns eine dicke Schneedecke liegt, möchte ich ungern testen, ob man wirklich weich auf ihr landet.

Wir sind gerade mit dem letzten Teil fertig geworden, als irgendwo ein Fenster aufgeht und Ruth herausruft: »Kinder! Kommt rein, essen!«

Wie auf Kommando knurrt mein Magen und North fängt daraufhin zu lachen an. »Ich war früher nie ein großer Esser«, verteidige ich mich, weil ich nicht schwach und ausgehungert wirken möchte.

»Aber die Arbeit auf der Farm hat dich zu einem gemacht«, schlussfolgert er, als wüsste er selbst genau, wovon er spricht.

Grinsend nicke ich und rutsche dann in der Hocke an die Dachkante, um den Abstieg anzugehen. Sobald ich unten angekommen bin, reicht mir North die Werkzeugkiste und kommt dann selbst nach. Als er den letzten Sprung auf den Boden macht, fällt ihm allerdings die kleine Schachtel mit den Nägeln aus der Hoodie-Tasche, die er vorhin eingesteckt hat, und es prasselt ein kleiner Silberregen zu Boden.

»Geh du schon rein«, fordert er mich auf. »Ich sammle sie noch auf und komme gleich nach.«

Ich ignoriere, was er gesagt hat, und helfe ihm, den Großteil der Nägel wieder in die Schachtel zu sammeln. Als nur noch ein paar vor seinen Füßen liegen, schiebe ich das Werkzeug unters Dach, weil ich es nach dem Essen sowieso noch einmal brauche, und gehe ins Haus. Inzwischen freue ich mich wirklich schon auf die warme Stube und das gute Essen von Ruth. Ich bin halb erfroren.

Lange mache ich allerdings nicht Pause, denn die Sturmschäden sind doch größer gewesen, als zu Anfang vermutet. Da bleibt bis zum Abend noch einiges zu tun. Überraschenderweise bin ich aber auch am Nachmittag nicht allein mit Hammer und Nägeln unterwegs. North ist nach dem Essen zwar noch kurz im Haus geblieben, um Ruth mit dem Abwasch zu helfen, aber nun ziehen wir beide von einer Baustelle zur nächsten und machen wieder alles niet- und nagelfest. Geredet wird während der ganzen Zeit in etwa genauso viel wie vormittags, aber das stört mich nicht. Ich glaube, ich könnte mich kaum wirklich auf die Tätigkeiten konzentrieren, wenn North mich, mit was auch immer aus seinem Mund kommt, ablenken würde. Es ist auch so schon schwer genug, in seiner Nähe keinen Mist zu bauen. Blickkontakt vermeide ich immer noch.

In all der Zeit wundert es mich aber doch, dass er so lange mit mir hier draußen bleibt. Das müsste er wirklich nicht. Immerhin werde ich für all die Arbeit hier bezahlt und er hat Ferien. Als er sich zwischendurch einmal in die Hände pustet, um sie aufzuwärmen, räuspere ich mich und versichere ihm: »Du kannst ruhig aufhören und ins Haus gehen, wenn du willst. Ich schaffe das hier auch allein.« Dann zucke ich mit den Schultern. »Ist immerhin mein Job.«

North reibt seine Hände aneinander und schlägt dann den nächsten Nagel ein, ehe er sich mit freundlicher aber ernster Miene zu mir dreht. »Adrian, das ist mein Zuhause. Natürlich mache ich mich auch nützlich, wenn ich hier bin. Ob es dein Job ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle.«

Ich mag seine Einstellung. Und wenn ich ehrlich bin, hat der Tag heute mit ihm auch viel mehr Spaß gemacht, als die Arbeit allein zu verrichten. Das kleine Ziehen in meiner Brust, immer wenn sich dabei unsere Blicke versehentlich begegnet sind, lasse ich hier mal außer Acht, denn irgendwie muss ich mich ja trotzdem mit ihm arrangieren, solange wir zu zweit auf der Farm leben.

Durch Norths Hilfe ist bis zum Abend alles repariert und wir bringen nur noch gemeinsam die Pferde rein. Heute lässt er mich pfeifen und die Rösser kommen alle angaloppiert, obwohl er es ist, der sie wie gestern mit Zuckerstücken belohnt, die er kurz vorher noch aus dem Haus geholt hat.

Auch drinnen hat er noch mal eine Runde Süßes für sie parat, allerdings in Form von gepressten Kräutern als eine Art Pferdebonbons, und ich beobachte ihn dabei, wie locker er mit den Pferden umgeht. Als Pascal als Letzter an die Reihe kommt, bleibt North vor seiner Boxentür stehen, über die der Gaul den Hals herausreckt, und neigt den Kopf in meine Richtung. »Komm her!«, fordert er mich ruhig dabei auf.

Weil sofort alle Bilder von gestern mit einer Schockwelle über mich hereinbrechen, verkrampft sich aber mein Körper und ich ziehe scharf den Atem ein.

»Wenn du Angst davor hast, dass du es vielleicht nicht hinkriegen könntest«, geht er verständnisvoll auf mich ein und kommt langsam näher, »dann lass ihn auf dich zukommen. Er weiß genau, was er tut.«

Und plötzlich stehe ich nur noch da und frage mich, wofür North Beckett wirklich gerade Verständnis zeigt? Reden wir hier noch über den schwarzen Hengst? Mein Herz flattert etwas in meiner Brust, als er den Arm ausstreckt und zwischen seinen Fingern einen letzten Zuckerwürfel hält, den er aus der Tasche gezogen hat. Ich hebe zaghaft die Hand. Da lässt er den Würfel hineinfallen und zieht dann seine beiden Hände rasch neben seinem Gesicht nach oben, als würde er sich vor der Polizei ergeben. Sein spitzbübischer Unschuldsblick schnurrt: Siehst du? Ich hab gar nix gemacht.

Ja, von wegen!

Ich atme einmal tief durch und gehe dann zu Pascal, vor dem North mir nun genug Platz lässt. Mit der freien Hand kraule ich ihn unter der langen schwarzen Mähne auf der Stirn.

»Jetzt mach die Hand flach. So —« North nimmt noch einen Kräuterpressling aus dem Jutesack an der Wand und legt ihn in seine eigene tellerebene Handfläche.

Ich folge seiner Anweisung, halte den Arm aber noch weit genug von Pascals Schnauze weg, um keinen Unfall zu riskieren.

»Gut so. Und jetzt halte sie einfach ruhig vor das Pferdemaul.« Wieder zeigt er mir vor, wie das geht, und belohnt dabei Calito mit einem Extrabonbon.

Zögerlich führe ich meine Finger näher zu Pascal und spüre im nächsten Moment, wie blumenweiche Pferdelippen den Zucker direkt aus meiner Handfläche pflücken. »Wow.« Ein Lächeln schiebt sich ganz von allein in mein Gesicht. »Das ist … nett.«

»Ja«, lacht North in der nächsten Sekunde und spaziert mit den Händen in den Hosentaschen aus dem Stall hinaus. »An nett arbeiten wir noch.«

Völlig verdattert bleibe ich wie angewurzelt stehen und schaue ihm hinterher. Bis Pascal mir ungeduldig mit der Schnauze einen Stups in den Rücken verpasst und ich dadurch mit zwei Schritten aus meinen Gedanken stolpere.

Kopfschüttelnd streichle ich das Pferd noch einmal zum Abschied und verriegle dann den Stall für die Nacht. North ist bereits vom Hof verschwunden, als ich rauskomme, und so atme ich in der kalten Luft tief ein und kneife für einen Moment die Augen zu. Heiliger Strohsack. Wie soll das nur weitergehen?

Auf dem Weg ins Haus lade ich mir schließlich noch ein paar Holzscheite auf den Arm und schüre damit das Feuer im Ofen, sobald ich mich ausgezogen habe. Da North und seine Oma in der Küche zu hören sind, gehe ich nach oben, um zu duschen, und lasse meine kalten Gliedmaßen und brennenden Gedanken unter dem heißen Wasser entspannen.

Danach meldet sich mein Magen mit einem Wolfsknurren und treibt mich wieder nach unten, wo inzwischen niemand mehr zu finden ist. Aber Ruth hat einen Teller mit Plätzchen auf den Tisch gestellt. Davon schiebe ich mir als Vorspeise eines in den Mund, ehe ich ein paar Zutaten aus dem Kühlschrank nehme und sie zu einer würzigen Sandwichkomposition zusammenfüge. Roastbeef, Salat, Gurkenscheiben und —

»Erdnussbutter?«

Erschrocken zucke ich bei Norths Stimme hinter mir zusammen.

Seine Hand kommt nach vorn und umschlingt das Glas. »Willst du die da wirklich reintun?«

Ich versuche nur angestrengt, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren und mich weiter auf die Reihenfolge der Zutaten für mein Sandwich zu konzentrieren. Mit dem kleinen Flackern, das er immer öfter in meiner Brust auslöst, wenn er mir so nahe kommt, ist das aber alles andere als leicht.

North stellt das Glas wieder ab und ich bemühe mich, eine gewisse Coolness zu bewahren. »Klar«, antworte ich mit einem brüchigen Grinsen, ohne seinen Blick zu suchen, und schraube den Deckel vom Glas, um auch noch die letzte Komponente aufs Brot zu schmieren. Anschließend klappe ich alles zusammen und schneide das Sandwich in zwei Hälften. »Willst du auch was?«

In diesem Moment mache ich fatalerweise den Fehler, den Kopf doch zu ihm zu drehen, und mir rutscht das Messer aus der Hand.

North war duschen. Seine Haare sind immer noch feucht und ein Chaos aus Asche und Karamell, das über seine Stirn fällt und sich auf verruchte Weise in seinen langen Wimpern verfängt. Seine dunkelblauen Augen funkeln geheimnisvoll bei jedem Blinzeln und treiben meinen Herzschlag erschütternd weit nach oben.

Shit. Das war’s dann endgültig mit meiner Coolness.

Verlegen bücke ich mich nach dem Messer, das klirrend auf dem Boden gelandet ist, und nehme dabei auch den Rest von ihm wahr, der zum ersten Mal in den letzten dreißig Stunden nicht komplett in Schwarz getaucht ist. Heute Abend steht North barfuß in ausgewaschenen Jeans vor mir und trägt darüber ein weites hellblaues Hockey-Shirt mit weißen Applikationen an den Ellbogen. Das muss das Shirt des Calgary University Teams sein, denn ich kann mich daran erinnern, die Farben auf mehreren Zeitungsausschnitten in Ruths Fotoalbum gesehen zu haben. In feuerroten Lettern ist der Name Wicked Fireflies auf den Stoff genäht und auf seiner Brust fletscht ein wirklich grimmiges Glühwürmchen seine Zähne.

Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas Heißeres gesehen als North Beckett in diesem Augenblick.

Er neigt den Kopf als Reaktion auf meine Reaktion und setzt ein Grinsen auf, das mir elektrisierende Stoßwellen den Nacken hoch treibt. »Stehst du auf Eishockey?«, fragt er dabei verschlagen.

»Du meinst … auf die Spieler?«

Oh mein Gott!

Kaum, dass die Worte draußen sind, weicht mir alle Farbe aus dem Gesicht. Welcher Höllengeist hat mich denn gerade diese dämliche Frage stellen lassen?

North starrt mich eine Millisekunde lang völlig überrascht an und platzt dann mit einem heiteren Lachen heraus, das die Küche mit Wärme füllt. »Nein — Adrian. Ich meinte: auf Live-Übertragungen im Fernsehen.« Als Nächstes greift er nach einer Hälfte meines Sandwiches und beißt eine Ecke ab. Dabei vergeht ihm aber schlagartig das Lachen wieder. »Jap … nein. Wääh!« Wie ein Dreijähriger verzieht er das Gesicht, geht zum Mülleimer, hebt den Deckel hoch und spuckt das halbzerkaute Zeug in den Mist. Dann wischt er sich mit dem Unterarm über den Mund und legt das angebissene Sandwich wieder auf meinen Teller. Seine Augenbrauen ziehen dabei tief nach unten. »Ihr Amerikaner seid verrückt.«

Erdnussbutter ist dann wohl nicht sein Ding.

Das Traurige ist, dass er sogar mit vor Ekel verzogener Miene immer noch unglaublich anziehend ausgesehen hat. Ich wünschte, es wäre nicht so. Aber das kleine Beben in meiner Brust lässt mich diese Tatsache unglücklicherweise nicht mehr abstreiten.

Wie komme ich aus der Sache nur heil wieder raus? Ich möchte nicht auf Männer stehen. Mein Leben ist doch auch so schon kompliziert genug! Verliebt in Sandy, damit hätte ich mich ja noch abfinden können. Ein bisschen verschossen in ihren Bruder … tja, das wollte ich mit dieser Auszeit korrigieren.

Aber North Beckett?

Fuck! Der Kerl ist ein ganz anderes Kaliber.

Seufzend nehme ich meinen Teller und gehe damit ins Wohnzimmer, wo das knisternde Feuer noch angenehme Temperaturen im ganzen Haus erzeugt. Gerade lasse ich mich, erschlagen von den furchtbaren Tatsachen, auf die Couch fallen, als North im Mauerbogen auftaucht, eine Hand an die Wand stützt und fragt: »Was ist jetzt? Willst du dir das Spiel heute Nacht ansehen oder nicht?«

Weil ich ihm nicht ganz folgen kann, runzle ich die Stirn. »Eishockey?«

»Ja?« Er lässt das Wort wie eine Frage klingen, als wäre das offensichtlich. »Toronto gegen die Nashville Predators

Ich breite demonstrativ die Arme aus und kontere mit etwas, das ebenso offensichtlich sein sollte: »Hier gibt es keinen Fernseher.« Ruth strickt lieber oder hört Oldies im Radio, um sich die Abende zu vertreiben. Ich habe im ganzen Haus noch nichts gesehen, worauf man ein Hockeyspiel anschauen könnte.

Da fängt North nur zu grinsen an, nimmt meinen Teller vom Tisch und trägt ihn die Treppe hinauf. »Los, komm mit!«

In Anbetracht der rauen Anziehungskraft, die er unumstritten auf mich ausübt, fürchte ich, dass das keine so gute Idee ist. Besonders nicht, wenn ich meine augenscheinliche bi-Neigung in eine hetero-Neigung revidieren will.

Aber er hat mein Essen geklaut. Also stehe ich auf und folge ihm mit einem verhängnisvollen Gefühl im Bauch die Stufen hoch.