Verknallt Hoch Zwei
Grover Beach High, 4
Kapitel 1
VERZWEIFELT LIESS ICH meine Stirn auf Ryan Hunters Schulter sinken. „Erschieß mich!“
„Na, na, warum denn gleich so melodramatisch, Bücherwurm?“ Hunter schlang einen Arm um mich und zog mich mit sich durch das Tor zum Fußballplatz hinter der Schule. „Es ist ja nur für ein paar Wochen. Schnapp dir einen Liebesroman, sabber ein bisschen über Edward Twilight, und du wirst sehen, dass die Zeit im Nu vorbei ist.“
„Cullen.“
„Was?“
„Sein Name ist Edward Cullen, nicht Edward Twilight.“ Ich verdrehte die Augen. „Und außerdem hab ich das Buch schon vor Jahren gelesen.“
„Aha. Na ja, wie auch immer.“ Er klopfte mir aufmunternd auf den Rücken. „Ich bin sicher, du findest eine andere Schnulze, die dich bei Laune hält, bis du wieder mit uns Fußball spielen kannst.“
Mit schmalen Augen musterte ich ihn scharf. „Willst du wirklich wissen, wie viele Bücher ich lesen muss, um in den nächsten zehn Wochen nicht komplett durchzudrehen?“
Ryan verzog das Gesicht. „Äh, nein.“
„Mindestens fünfhundertsieben oder mehr! Agh! Ich hasse Doktor Trooper. Wie konnte er mir das nur antun?“
Ryan schmunzelte. Es war dieses für ihn typische, relaxte Lachen. „Komm schon, Miller. Das ist nicht das Ende der Welt.“
„Das sagst du nur, weil du nicht dort drüben sitzen musst!“ Ich zeigte mit dem Daumen auf die Ersatzbank hinter uns. Doch als ich seinen hilflosen Blick und das Schulterzucken sah, schraubte ich meinen Aggressionspegel wieder etwas weiter herunter. Es war ja nicht seine Schuld, dass ich im Moment außer Gefecht gesetzt war und wegen einer Knieverletzung nicht spielen konnte. Schuld war nur diese dumme Ziege aus dem Team der Riverfalls Rabid Wolves. Während unseres letzten Spiels hatte sie mir so hart gegen mein Bein getreten, dass ich dachte, meine Kniescheibe fliegt aus der Atmosphäre. Junge, hat das wehgetan. Am liebsten hätte ich geheult wie ein Baby. Doch vor dem ganzen Publikum konnte ich mir diese Blöße natürlich nicht geben.
Ryan ließ mich los, beugte sich runter und zog sich die weißen Socken über die Schienbeinschoner. Während er sich die Schnürsenkel seiner Stollenschuhe fester band, blinzelte er gegen die Novembersonne zu mir hoch. „Bleibst du und siehst uns beim Training zu? Liza kommt später auch noch vorbei.“
Ein Grinsen breitete sich über mein Gesicht aus. „Das war mein Plan.“ Seine Freundin, Liza Matthews, war auch eine meiner besten Freundinnen. Wir hatten vor einer halben Stunde miteinander telefoniert und ausgemacht, uns hier zu treffen.
Ryan nickte und sauste los aufs Feld zu den anderen Spielern der Grover Beach Bay Sharks. Ich winkte Tony, Alex und Nick, den Jungs aus meinem Team, dann machte ich kehrt und stapfte rüber zur Ersatzbank an der Seitenlinie des Feldes. Selbstverständlich hatte ich mir auch heute wieder ein Buch mitgenommen – und es war nicht Twilight – doch ich wollte meinen Freunden auch beim Training zusehen.
Die kommenden zehn Wochen würden die reinste Folter werden. Seit vergangenem Sommer war Fußball ein Teil meines Lebens geworden. Nicht, dass ich in irgendeiner Weise gut darin war, aber der Teamsport machte jede Menge Spaß. Außerdem war es nett, körperlich in Form zu kommen und mittlerweile fünf Kilometer laufen zu können, ohne dabei an Luftmangel zu kollabieren – und alles nur wegen Ryans exzessiven Trainings. Doch die Fitness war nicht das Einzige, was sich in letzter Zeit positiv an meinem Körper verändert hatte. Ich streifte mir das eng anliegende blaue T-Shirt glatt und blickte nach unten. Dabei grinste ich in mich hinein, denn letztendlich hatte ich doch noch all die hübschen Kurven bekommen, für die ich die letzten beiden Jahre so innig gebetet hatte. Kein Mädchen sollte ihren Führerschein vor einem ordentlichen Busen bekommen. So was war schlichtweg gemein.
Erst als ich schon fast bei der Ersatzbank angekommen war, blickte ich wieder hoch und – was zum Geier? Vor Schreck blieb mir die Spucke weg.
Ausgebreitet wie in einem Liegestuhl lag ein Junge auf der Bank, die Arme hinterm Kopf verschränkt, und blickte in den Himmel. Oder vielleicht hielt er auch gerade ein Schläfchen, wer konnte das schon wissen? Seine Baseballkappe hatte er tief ins Gesicht gezogen und in den Ohren hatte er Kopfhörer, die über ein Kabel an einen iPod angeschlossen waren, der auf seinem Bauch lag. Sogar aus fünf Metern Entfernung konnte ich die Musik von Volbeat hören. Hm, was Bands anging, hatte er definitiv einen guten Geschmack. In Sachen Kleidung leider weniger. Mit diesem bananengelben T-Shirt, den braunen Shorts und den noch viel schlimmeren braunen Sneakers sah er verdächtig wie der kleine Glatzkopf aus der Charlie Brown und Snoopy Show aus.
Ich hatte keinen blassen Schimmer, wer dieser Kerl war, oder warum er sich auf meinem Platz breitgemacht hatte. Doch da ich immer noch zum Team gehörte und er ganz offenbar nicht, war es nur fair, dass er die Bank für mich räumte. Auf der Tribüne weiter hinten gab es genug freie Plätze, wo er sein Nachmittagsschläfchen fortsetzen konnte.
Ich ging auf ihn zu, gab ihm mit dem Handrücken einen Klaps gegen sein aufgestelltes Knie und wartete, bis er seine Ohrstöpsel herausgezogen hatte; oder zumindest einen davon. „Hey, Charlie Brown, das ist mein Platz“, sagte ich mit einem Unterton, der keinen Raum für Diskussionen ließ. Zumindest hoffte ich das. An meinem Befehlston musste ich wohl noch etwas arbeiten, doch fürs Erste hatte es gereicht, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
Der Junge drehte den Kopf zur Seite, nahm die Kappe ab und strich sich mit einer Hand entspannt durchs Haar, das die Farbe von Sonnenlicht im Spiegel hatte. Zweimal blinzelte er kurz mit seinen kornblumenblauen Augen, dann kroch ein Lächeln auf seine Lippen. „Tschuldigung. Ich hatte ja keine Ahnung, dass auf dieser Bank dein Name steht.“
Ha! Grober Fehler! „Tja, wenn du genauer hinsehen würdest, dann könntest du ihn in einer der Holzlatten eingeritzt finden.“ Simone Simpkins und ich hatten uns hier letzten Sommer verewigt. Lange hatten wir versucht, auch Liza dazu zu überreden, aber sie hatte nur die Augen verdreht und uns ausgelacht. Von uns allen ist sie wohl die Vernünftigste.
Ein neugieriger Blick ersetzte das Lächeln des Fremden. „Ach, ist das so?“, fragte er vergnügt.
Ich ließ meinen Rucksack auf den Boden fallen, wobei der Eastpak halb auf meinem grauen Stiefel landete, und verschränkte die Arme vor der Brust. Endlich hatte Charlie Brown den Anstand, sich aufzusetzen. Je länger ich in sein Gesicht blickte, umso bekannter kam es mir vor. Womöglich hatte ich ihn schon einmal auf einer von Hunters Partys getroffen, doch bei Gott, mir fiel einfach kein Name zu diesem Gesicht ein.
Wie auch immer; er wollte und wollte einfach nicht das Feld für mich räumen, was mir mittlerweile begann, auf die Nerven zu gehen. Er zog den zweiten Ohrstöpsel raus und rutschte ans Ende der Bank. Nur mit einem leichten Nicken lud er mich ein, mich neben ihn zu setzen.
Grummelnd folgte ich seiner Aufforderung.
Neun Tage nach dem Unfall brauchte ich zwar keine Krücken mehr und ich konnte auch schon wieder problemlos Treppen steigen und Auto fahren, nur das Hinsetzen auf so niedrigen Dingen wie dieser Bank bereitete mir immer noch ein paar Probleme. Ich versuchte, mein Bein so gestreckt wie möglich zu halten, als ich langsam auf die Sitzfläche sank.
Die Peanuts-Imitation hatte inzwischen seine Kappe wieder aufgesetzt und das Kabel des iPods um seinen Hals gehängt. Im Moment betrachtete er mich gerade mit unverblümtem Interesse – das konnte ich aus dem Augenwinkel sehen.
„Du bist Susan Miller, nicht wahr?“, fragte er vorsichtig und gerade laut genug, um die Musik zu übertönen, die immer noch aus den Kopfhörern drang.
Mein Blick blieb an dem roten Hai hängen, der von dem Transparent auf der anderen Seite des Spielfeldes zu uns herübergrinste, und ich verschluckte mich beinahe. Entgeistert drehte ich mich zur Seite. „Welches Vögelchen hat dir denn das gezwitschert?“
„Kein Vögelchen. Dein Knie hat dich verraten.“ Verlegen rieb er sich den Nacken und sah gerade ebenso bedauernd drein wie ich damals, als mir meine Mutter gesagt hatte, dass ich meine Ameisenfarm gegrillt hatte. Ich war erst sechs Jahre alt gewesen und hatte gedacht, die kleinen Krabbler würden sich über ein Sonnenbad an einem ziemlich heißen Augustnachmittag bestimmt freuen.
„Und wenn ich nicht komplett falsch liege“, fuhr Charlie Brown fort und schaffte es dabei sogar, trotz einer mitleidvollen Grimasse süß auszusehen, „bin ich dein Ersatz.“
„Du bist was?“ Ich sprang so elegant auf, wie ich konnte – nur leider war das eben gar nicht elegant – und stemmte meine Fäuste auf die Hüften. „Hunter!“, schrie ich aus Leibeskräften quer übers Feld, drehte mich dann zu Charlie Brown um und schnaubte entrüstet wie ein Stier in der Arena. „Hör zu, Freundchen! Nur weil ich gerade untauglich bin, heißt das nicht, dass du so einfach daherkommen und mir meinen Platz stehlen kannst. Hunter!“
Nun stand der Junge ebenfalls auf und versuchte, mich mit besänftigenden Handbewegungen wieder runterzuholen, doch ich gab ihm keine Gelegenheit, auch nur den Mund aufzumachen. Stattdessen zeterte ich weiter: „In ein paar Wochen bin ich wieder wie neu und kann auch wieder Fußball spielen. Es gibt also keinen Grund dafür, mich irgendwie zu ersetzen. HUNTER! Beweg deinen verdammten Arsch hier rüber! Sofort!“
Charlie Brown biss sich auf die Unterlippe. „Ryan hat schon gesagt, dass dir diese Nachricht wohl schwer im Magen liegen wird. Es wundert mich, dass er es dir noch nicht selbst gesagt hat.“
Oh, er hatte nicht die kleinste Silbe davon erwähnt. Was zum Teufel sollte das? Ich fiel doch nur für ein paar Wochen aus und nicht für immer. Es bestand also absolut kein Grund, gleich loszurennen und mich durch den nächstbesten Spieler auszutauschen. „Was geht hier vor?“, fauchte ich Ryan an, als er endlich neben mir stand.
Erst einmal sog er die Luft durch seine Zähne ein. „Äh, hab ich vergessen, dir zu sagen, dass ich für deine Auszeit einen Ersatzspieler gefunden habe?“
„Na, ganz offensichtlich hast du das!“ Bei meinem Killerblick wich Ryan einen Schritt zurück. Wow, ich hatte ja keine Ahnung, dass ich den so gut draufhatte. Ein selbstgefälliges Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln, doch ich unterdrückte es.
„Entspann dich, Susie“, meinte der Junge mit dem gelben Shirt in einem ruhigen Ton und legte mir dabei eine Hand auf den Arm. Auf verschwörerische Weise nickte er Ryan zu, der anschließend die Fliege machte. Der hielt sich wohl für ganz schlau. Aber da hatte er mich noch nicht kennengelernt.
„Niemand nennt mich Susie“, brummte ich und zog meinen Arm weg.
„Okay, dann beiß mir bitte nicht den Kopf ab, und es kommt nie wieder vor.“ Er zwinkerte mir zu und zu meinem Erstaunen verschlug es mir dabei die Sprache.
Mit leicht geneigtem Kopf blickte ich die fünfzehn Zentimeter, die er größer war als ich, zu ihm hoch. Sein Lächeln streckte sich von einem Ohr zum anderen. Er sah gerade unheimlich süß aus, und nur deswegen gestand ich ihm zehn Sekunden zu, um loszuwerden, was auch immer er sagen wollte.
„Ich will dich ja gar nicht aus dem Team verdrängen. Vor ein paar Jahren habe ich selbst Fußball gespielt, und als Ryan mich letzte Woche gefragt hat, ob ich für dich einspringen könnte, hab ich zugesagt, um ihm einen Gefallen zu tun.“ Vorsichtig fasste er an meine Schultern, steuerte mich zurück zur Ersatzbank und half mir dabei, mich wieder hinzusetzen. Dann ging er vor mir in die Hocke und sah mir in die Augen. „Ich verspreche, an dem Tag, an dem du wieder fit bist, werde ich verschwinden, und du kannst wieder übernehmen. Na, wie hört sich das an?“
Er roch nach Zitronengras und Coladrops. Wahnsinn.
Ich holte noch einmal tief Luft und ließ meinen Frust dann gen Horizont segeln. Mit dem Zeigefinger schob ich meine Brille etwas weiter nach oben. Normalerweise trug ich sie nie, wenn ich zum Sportplatz kam, doch heute hatte ich ja vorgehabt zu lesen, und da blieb mir keine andere Wahl. „Schätze, das ist okay.“
„Großartig.“ Als er wieder aufstand, klatschte er einmal in die Hände und legte dann seinen iPod neben mich auf die Bank. „Passt du für mich darauf auf?“ Die Musik lief immer noch.
Ich nickte und Charlie Brown startete los aufs Feld. Doch bereits nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal zu mir um, wobei er rückwärts weiterjoggte. „Übrigens, mein Name ist Ethan.“ Er zuckte mit den Schultern und grinste. „Nur für den Fall, dass es dich interessiert.“ Ethan setzte seine Baseballkappe mit dem Schirm nach hinten auf, drehte sich wieder um und lief raus zu den anderen Spielern des Teams.
Meinen Blick starr auf seinen Rücken gerichtet, saß ich einige Sekunden stocksteif da. Meine Hände, normalerweise kalt wie Eisbeutel, waren plötzlich mit Schweiß überzogen. Wann zum Teufel hatte ich denn begonnen zu schwitzen? Ich wischte meine Handflächen an der weißen Jeans ab, die ich trug, und knirschte mit den Zähnen. Ersatzspieler, ha! Dazu würde mir Ryan später noch einige Fragen beantworten müssen.
Energischer als beabsichtigt zog ich den Reißverschluss meines Rucksacks auf und holte mein Buch heraus. Es war Das flammende Kreuz aus der Outlander-Saga. In den vergangenen zwei Wochen war ich regelrecht süchtig nach dieser Reihe geworden. Doch leider war dies schon Buch fünf von bisher insgesamt acht und, daher würde mich diese Serie kaum noch länger als die nächsten paar Tage beschäftigen. Tja, das war leider das Problem, wenn man Bücher verschlang wie andere Leute Popcorn – es ging einem furchtbar schnell der gute Lesestoff aus.
Drüben auf dem Spielfeld stellte Hunter Ethan gerade als den neuen Ersatzspieler vor. Die meisten meiner Mannschaftskameraden schienen ihn bereits zu kennen, was mich nicht wirklich überraschte. Wer Ryan kannte, kannte auch seine Freunde. Tja, außer mir ganz offensichtlich.
Ich schenkte ihnen weiter keine Aufmerksamkeit mehr und steckte lieber meine Nase in das Buch. Aber bei der Musik, die immer noch aus Ethans iPod kam, konnte ich mich einfach nicht aufs Lesen konzentrieren. Vielleicht hatte er sie ja genau aus diesem Grund nicht abgestellt. Er wollte mir wohl weiter auf die Nerven gehen. Für einen Moment dachte ich daran, die Musik auszuschalten oder zumindest leiser zu drehen, doch als ich nach dem iPod griff, entwickelte meine Hand so etwas wie ein Eigenleben und steckte mir prompt einen Stöpsel ins Ohr.
Na schön, ich war neugierig. Zuvor lief ein Song einer meiner Lieblingsbands, und ich wollte wissen, ob vielleicht noch weitere ihrer Lieder auf der Playlist waren.
Gerade sang mir Steven Tyler von Aerosmith ins Ohr und der Song war gar nicht mal schlecht. Ich übersprang ein paar Lieder und durchstöberte dann die Wiedergabeliste auf dem iPod. Bedauerlicherweise war von Volbeat nur dieses eine Lied vorhanden. Trotzdem steckte ich mir auch noch den zweiten Kopfhörer ins Ohr und hörte weiter Ethans Musik. Er hatte ein wenig Metal und ein wenig Rock; alles in allem traf das genau meinen Geschmack.
Mit gedrosselter Lautstärke begann ich, endlich zu lesen. Die nächsten zwanzig Seiten verflogen zu dem Sound der Kings of Leon. Nur ein- oder zweimal blickte ich hoch, um zu sehen, wie sich Charlie Brown denn so auf dem Fußballfeld machte, und – ach du heilige Scheiße – er war gut!
Ethan köpfte gerade einen Ball souverän an Nick Frederickson vorbei ins Tor. Dabei hatte Nick in diesem Jahr einen Junioraward als bester Nachwuchstorhüter in Nordkalifornien erhalten. Ethan machte auch eine stattliche Figur beim Laufen, ganz anders als Kyle Foster, der immer über den Rasen donnerte wie eine Dampflok auf Steroiden, und auch nicht wie Alex Winter, der heute sogar so langsam war, dass er sich die Schuhe beim Laufen hätte binden können. Tatsächlich war Ethan eine ernstzunehmende Konkurrenz für Ryan. Er benahm sich, als würde ihm der Platz gehören, allerdings auf sehr natürliche, sehr vertraute Art und Weise, ohne dabei überheblich zu wirken.
Sasha Torres und Ethan klatschten nach diesem majestätischen Tor ab, und das war auch der Moment, in dem Ethan zu mir rübersah. Das musste ja so kommen. Voll beim Staunen erwischt, stieg mir sofort die Röte ins Gesicht. Mit einem verschmitzten Grinsen ließ mich Ethan wissen, dass ihm mein Interesse nicht entgangen war.
Am liebsten wollte ich mich hinter meinem Buch verstecken und fluchen, und ja, vielleicht war das genau das, was ich gerade machte, aber erst nachdem er sich wieder weggedreht hatte und weiterspielte. Ich hatte seine Kopfhörer in den Ohren, ich hatte ihn angestarrt wie ein Künstler sein Modell und außerdem leuchtete mein Kopf vermutlich wie eine Fünfzigwattbirne. In dieser Sekunde wünschte ich mir eine Zeitmaschine herbei, mit der ich genau eine halbe Stunde zurückreisen könnte. Dann wäre ich nämlich nach dem Gespräch mit Hunter nie zu dieser Bank spaziert.
Jemand packte mich an der Schulter. Ich fuhr vor Schreck fast aus der Haut, wirbelte wild herum, und mir entwich auch noch ein heiserer Schrei. Den iPod schleuderte es dabei von der Bank auf den Boden. Na super – und das war nicht einmal meiner. Wie peinlich.
Zum Glück saß nur Liza neben mir, und ich bückte mich rasch, um Ethans iPod aufzuheben und den Staub abzuwischen. Dabei vergewisserte ich mich kurz, ob er auch nichts gesehen hatte. Er stand mit dem Rücken zu mir. Mit einem erleichterten Seufzen zog ich mir die Kopfhörer aus den Ohren und ließ sie in meinen Schoß fallen.
„Hey“, sagte Liza. „Was ist denn mit dir los? Wir sind wohl heute etwas schreckhaft, wie?“
Nachdem ich nun auch endlich die Musik abgeschaltet hatte, wandte ich mich Liza zu und kam direkt auf den Punkt. „Hast du gewusst, dass dein Freund mich ersetzt hat?“
Fünf volle Sekunden starrte mich Liza nur verdutzt an und runzelte dabei die Stirn. Dann strich sie sich mit den Fingern durch ihr langes braunes Haar und kräuselte die Lippen. „Und jetzt das Ganze bitte noch mal auf Deutsch, und zwar so, dass ich dir folgen kann.“
Also hatte sie keine Ahnung von Hunters Plan. Gut, denn hätte sie es gewusst und nichts gesagt, hätte sie damit einen wirklich fiesen Vertrauensbruch begangen. Ich lehnte meine Stirn an ihre Schulter und begann zu jammern. „Er hat Charlie Brown statt mir ins Team geholt.“
Lachend packte mich Liza bei den Schultern und richtete mich wieder auf. „Er hat was?“
„Gelbes Shirt“, raunte ich und nickte in Richtung der Spieler.
Unter all den hellblauen Trikots war Ethan leicht zu erkennen, und Liza sagte nur: „Oh.“
„Ja genau. Oh. Ryan hat ihm gesagt, er kann meinen Platz einnehmen, denn offenbar …“ – ich zog meine Augenbrauen zusammen, um den Zynismus in meiner Stimme zu unterstreichen – „… bin ich nicht mehr gut genug fürs Team.“
„Jetzt komm schon, das ist nicht wahr, und das weißt du auch. Ryan würde so etwas niemals tun. Er liebt dich genau wie den Rest der Mannschaft. Ich bin sicher, er und die anderen können es kaum erwarten, bis dein Knie wieder völlig intakt ist und du wieder mit ihnen trainieren kannst. Und warum sollte bis dahin nicht jemand für dich einspringen?“ Als sie noch einmal in Richtung Spielfeld blinzelte, schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Außerdem ist er ziemlich süß, wenn du mich fragst.“
Das tat ich nicht. Und es war mir auch egal. Er hatte meinen Platz in der Mannschaft nicht verdient.
„Wer ist süß?“ Simones Stimme überraschte uns von hinten und wir drehten uns um. Sie und Allie Silverman hatten sich unbemerkt angeschlichen und suchten gerade akribisch den Fußballplatz nach erwähnter Augenweide ab. Beide Mädchen hatten Haare so lang, dass die Spitzen bis ans untere Ende ihres Rückens reichten, nur war Simone eine natürliche Skandinavien-Blondine, während Allies Haar so schwarz war wie das Federkleid eines Raben. Genau wie Liza waren die beiden im Cheerleaderteam – dem Team, das uns Fußballspieler anfeuerte. Nur würden sie zukünftig Ethan anfeuern, und nicht mehr mich.
„Der Junge, der angezogen ist wie eine faulige Banane“, lästerte ich, um Simones Frage zu beantworten. „Allerdings ist süß wohl ein Ausdruck, über den sich streiten lässt. Ich kann den Kerl nicht leiden. Er spielt jetzt auf meiner Position in Ryans Team.“
Allie schnappte entsetzt nach Luft. „Für immer?“
„Vorübergehend“, klärte Liza sie auf und krempelte sich die Ärmel ihrer rosa Bluse nach oben. „Nur so lange, bis Susan wieder spielen kann.“
„Ach so, na dann ist ja alles gut.“ Simone streifte sich ihre hübschen Locken über die Schulter und kicherte. „Der ist ja echt eine Sahneschnitte. Wie ist sein Name?“
Simone war mit Alex Winter, einem Jungen aus meinem Team zusammen, und die beiden konnten ihre Finger kaum zehn Minuten am Stück voneinander lassen. Dass sie da noch die Zeit hatte, anderen Kerlen hinterherzusehen, überraschte mich. Allerdings wussten wir alle, es hatte nichts zu bedeuten und entlockte uns deshalb nur ein amüsiertes Schmunzeln. Sie würde Alex niemals – für nichts und niemanden auf der ganzen weiten Welt – abservieren.
„Ethan“, sagte ich.
„Hast du schon mit ihm gesprochen?“, wollte nun Allie wissen.
„Nur ganz kurz. Vor dem Training. Wieso?“
„Weil er dich gerade von oben bis unten abcheckt.“
„Wie bitte?“ Oh Mann, in diesem Moment machte ich wohl das Dümmste, das man in meiner Situation tun konnte. Ich drehte mich um und überzeugte mich selbst davon. Es war ein dämlicher Reflex, und ich bereute es in der Sekunde, als sich unsere Blicke auf halber Strecke trafen. Mein Mund stand vor Überraschung ein klein wenig offen. Charlie Brown rang sich ein Lächeln ab, bevor er sich wieder mit Feuereifer ins Spiel einbrachte.
Vor Scham aufstöhnend, schlug ich mir beide Hände vors Gesicht. „Ich hasse euch! Jetzt denkt er bestimmt, ich würde ihn abchecken.“
„Und, hast du?“, stichelte Liza neckisch.
„Nein!“ Zugegeben, ich hatte es vielleicht vor ein paar Minuten gemacht, bevor sie alle gekommen waren, aber gerade eben war es ein totales Missverständnis gewesen. Ein dummer Zufall – von meinen Freundinnen inszeniert. Ich sollte ein Loch von hier bis nach China graben und mich darin verkriechen.
Als ich meine Hände wieder von meinem Gesicht nahm, sah ich einen Lichtblick am Horizont. Samantha Summers, die Fünfte in unserem Bunde und das Mädchen, das Kirschlollis inhalierte wie andere Leute Luft, spazierte gerade auf uns zu. Seit sie vor drei Wochen nach Grover Beach gezogen war, hatte sie sich schnell einen Premiumstatus als beste der besten Freundinnen bei mir erworben. Sie war klein und lustig und ich liebte sie wie eine Schwester. Sie würde mir im Kampf gegen diese verrückten Hühner den Rücken stärken.
Sam setzte sich im Schneidersitz vor uns ins Gras und verzog skeptisch das Gesicht. „Du siehst ja vielleicht genervt aus, Susan. Was hab ich verpasst?“
„Ethan“, verrieten ihr die anderen drei.
„Wer ist Ethan?“
„Ich sag’s dir, wenn du versprichst, dich nicht gleich umzudrehen und nach ihm Ausschau zu halten“, warf ich schnell ein, bevor ihr noch eine der anderen von meinem Ersatz erzählen konnte.
Sam runzelte die Stirn noch ein wenig mehr und sah plötzlich aus, als würde sie gleich vor Neugier platzen. „Gut, versprochen.“ Nachdem ich ihr dann dieselbe Geschichte wie den anderen zuvor erzählt hatte, begann sie zu grinsen. „Oh Mann, es tut mir leid, Susan, aber jetzt muss ich mich einfach umdrehen. Es geht nicht anders. Ich muss diesen Jungen sehen, und zwar jetzt gleich!“ Sie zappelte ungeduldig auf dem Boden herum, doch ich schwöre, bei ihrem ersten Versuch, sich umzudrehen, hätte ich das kleine Biest an seinen fransigen schwarzen Haaren zurückgezogen.
„Nein! Das geht nicht!“, fauchte ich und hielt dabei meinen Blick vom Feld abgewandt. „Er hat vorhin schon mitgekriegt, dass wir ihn beobachten.“
„Susan, du bist verrückt“, lachte Liza und fügte noch hinzu: „Aber es besteht kein Grund mehr, sich umzudrehen, Sam. Du hast Glück – er kommt gerade hierher.“
Wie bitte? Mir stockte der Atem … dann schluckte ich erst mal … und schließlich sah ich im Augenwinkel, wie der Ball auf uns zurollte und neben Sams Bein im Gras liegen blieb. Sie schnappte ihn sich und wartete bis Charlie Brown es zu ihr geschafft hatte, dann überreichte sie ihm grinsend den Ball.
„Hi, Ethan!“, sangen alle Mädchen gleichzeitig. Alle bis auf eine. Nämlich mich.
Total entsetzt starrte ich in Ethans spitzbübisch funkelnde Augen. Als er dann auch noch begann zu schmunzeln, wollte ich ihm ins Gesicht schreien: Dann hab ich ihnen halt deinen Namen gesagt, na und? Nur wollten meine Lippen die Worte einfach nicht formen und Stimme hatte ich im Moment sowieso gerade keine.
Ethan begrüßte die anderen mit: „Hey, Mädels.“ Dann landete sein Blick in meinem Schoß, wo dummerweise noch immer sein iPod lag. „Du stehst auf meine Musik?“ Er lachte leise und gab mir keine Chance, ihm eine bissige Antwort reinzudrücken, denn er war bereits wieder auf dem Weg zurück aufs Spielfeld.
„Na vielen Dank auch euch allen!“, zischte ich durch meine Zähne hindurch. Und die wollten meine Freundinnen sein? Aber am Ende musste ich selbst darüber lachen, denn abgesehen von der Blamage, die ich gerade durchleben musste, hatte die Situation auch etwas Komisches. Würde es hier nicht um mich gehen, hätte ich wohl genauso schamlos mit den Hühnern mit gegackert.
Die Beine im Gras ausgestreckt, lehnte sich Sam zurück und stützte sich auf ihre Ellbogen. Zwar war sie mit ihren unter-eins-sechzig die Kleinste von uns allen, doch aufgrund der Armyhose, die sie fast immer anhatte, und dazu noch der schwarzen Doc Martens sah sie mit Sicherheit auch am gefährlichsten aus. Natürlich trog der Schein hier gewaltig. Samantha war die treuherzigste Person, die ich kannte. Im Moment stieß sie einen langen Seufzer aus. „Nimm’s nicht so schwer, Susan. Er spielt für eine Weile auf deiner Position im Team und er ist süß. Das ist doch kein Drama.“
Damit hatte sie bestimmt recht. Denn mit Dramen kannte Sam sich aus. Erst vor einer Woche hätte ihre Cousine Chloe es durch hinterlistige Anschuldigungen beinahe zustande gebracht, Sam des Landes zu verbannen. Sams Vater war ein General in der US-Armee und für weitere vier Monate in Kairo stationiert. Um ihr den Wechsel auf eine neue Schule zu erleichtern, hatten ihre Eltern Sam Anfang November nach Grover Beach geschickt, damit sie über den Winter bei Chloe und ihrer Familie wohnen und sich schon mal in der Highschool einleben konnte. Dieser Plan wäre dank Chloe beinahe gescheitert und sie hätte fast wieder nach Ägypten zurückfliegen müssen.
Tja, im Rückblick hatten wir doch einen sehr ereignisreichen Herbst gehabt.
Gerade machte das Team ein Time-out und Sams Freund Tony kam zu ihr gelaufen. Er beugte sich über sie und luchste ihr einen raschen Kuss ab. Das machte er regelmäßig während des Trainings und meistens kam er nicht allein. Hunter konnte normalerweise auch nicht widerstehen, Liza hin und wieder ein Küsschen zu stehlen, doch im Moment blieb er unserer kleinen Mädelsrunde fern.
Liza zog einen Schmollmund, als ihr Freund keine Anstalten machte, Tony zu folgen, und fragte: „Wieso kommt Ryan nicht?“
„Er hat die Hosen voll“, scherzte Tony. „Nach der Sache mit Ethan hat er Angst, dass Miller ihm den Kopf abbeißt.“
„Ha, ha“, gab ich zynisch zurück. Doch er hatte vermutlich gar nicht so unrecht. Ich grinste mit zusammengepressten Lippen rüber zu Ryan. Der rieb sich verlegen den Nacken und lachte. Er wusste wohl ganz genau, dass Tony ihn gerade verraten hatte.
Da nur noch ein paar Minuten zu spielen waren, sauste Tony wieder zurück auf den Platz und schoss wenige Sekunden später das 3:2 gegen Ryans Team. Den beiden dabei zuzusehen, wie sie sich einen unerbittlichen Kampf lieferten, war immer eine helle Freude. Schwer zu sagen, wer der bessere Spieler von ihnen war.
Da dies Ryans Abschlussjahr an der Grover Beach High war, fragte ich mich, ob er am Ende wohl Tony als neuen Mannschaftskapitän nominieren würde. Doch dafür war noch Zeit genug, und im Moment wollte sowieso keiner daran denken, dass die Hälfte des Teams nächstes Jahr aufs College gehen würde.
Um Viertel vor vier war das Training schließlich vorüber. Sofort stieben meine Freundinnen auseinander wie ein paar aufgescheuchte Hühner und eilten zu ihren Jungs. Da ich mit meinen siebzehn Jahren immer noch so single war, wie man es nur sein konnte, hatte ich niemanden, zu dem ich rennen konnte. Also blieb ich sitzen und packte mein Buch zurück in den Rucksack.
In diesem Moment bemerkte ich Ethan, der auf mich zukam, und mein Mund wurde schlagartig trocken. Warum? Weil er gerade die Vorderseite seines Shirts hochgezogen hatte und sich damit den Schweiß vom Gesicht wischte. Dabei durfte ich einen exklusiven Blick auf sein Sixpack werfen. Der echte Charlie Brown sah unter seinem gelben Shirt sicher nicht einmal annähernd so heiß aus wie Ethan.
Damit ich kein drittes Mal beim Gaffen und Sabbern erwischt werden würde, drehte ich mich schnell weg und stand auf. Mit dem Rucksack auf den Schultern wollte ich gerade losmarschieren, da rief mir Ethan zu: „Hey, Susan, warte doch mal einen Moment!“
Überrascht blieb ich stehen. Er trottete zu mir herüber und blieb so knapp vor mir stehen, dass ich eine Duftwelle seines Schweißes abbekam. Zum Glück hatte er genug Deo aufgetragen, also war der Geruch gar nicht mal so übel. Vielleicht war es auch nur sein Duschgel, das mir in die Nase stieg, wer weiß. Auf jeden Fall roch er sehr männlich und … gut.
Vom Training noch leicht außer Atem setzte er sich auf die Ersatzbank und blickte zu mir hoch. Er hatte seine Baseballkappe neben sich auf die Bank gelegt und streifte sich mit beiden Händen durch die verschwitzt-chaotischen Haare. Seine Wangen waren rot wie die eines kleinen Jungen nach dem Spielen. Um ehrlich zu sein, sah er in diesem Augenblick einfach nur zum Knuddeln süß aus.
„Was gibt’s?“, fragte ich und versuchte dabei nicht daran zu denken, wie er mich vorhin beim Anschmachten ertappt hatte. Hoffentlich war das nicht der Grund, warum er mit mir reden wollte. Seinen iPod hatte ich ja auch wieder unversehrt an seinen Platz zurückgelegt.
Als Ethan nach meiner Hand griff und mich mit Rücksicht auf mein Knie vorsichtig neben sich auf die Bank zog, leistete ich ausnahmsweise mal keinen Widerstand. „Wir müssen uns über meine Aufnahme ins Team unterhalten.“
„Du hast meinen Platz gestohlen“, antwortete ich ein wenig beleidigt. „Was gibt’s da noch zu reden?“
Er verzog schuldbewusst das Gesicht und ließ erst jetzt meine Hand los. „Hunter hat gesagt, ich kann nur mit deiner Erlaubnis ins Team.“
„Oh.“ Mein Blick schweifte aufs Fußballfeld, wo Ryan mit Liza stand und offenbar unsere Unterhaltung aus der Ferne beobachtete. Als ich auffordernd meine Augenbrauen hob, machte er Anstalten, in unsere Richtung zu joggen, doch Liza hielt ihn am Arm zurück. Ich konnte nicht hören, was sie ihm gerade gesagt hatte, doch Hunter begann zu lächeln und verließ den Platz mit ihr in entgegengesetzter Richtung. Liza warf mir einen raschen Blick über ihre Schulter zu und gab mir auch noch ein sehr auffälliges Daumen-hoch-Zeichen. Mann, war das peinlich. Hielt sie sich jetzt etwa für Grover Beachs neue Kupplerin?
Es grenzte an ein Wunder, dass Ethan nicht mitbekommen hatte, was sich gerade in zwanzig Metern Entfernung abgespielt hatte. Seine Aufmerksamkeit war immer noch auf mich gerichtet. „Also, was denkst du?“, fragte er mich mit sanfter, aber hoffnungsvoller Stimme. „Bin ich gut genug für die Bay Sharks?“
Mit gesenktem Blick räusperte ich mich, um etwas gegen meinen trockenen Hals zu unternehmen. „Woher soll ich das wissen?“, murmelte ich. „Ist ja nicht so, als hätte ich dich beim Spielen beobachtet.“
Ethan starrte mich ein paar Sekunden lang an, bis ich mich schließlich wieder zu ihm drehte. Gerade schob sich sein linker Mundwinkel langsam zu einem verschmitzten Lächeln nach oben. „Lügnerin.“
Erwischt. Oh Mann, wurde mir vor Scham gerade heiß! Und wieder wünschte ich mir eine Zeitmaschine herbei, um die Ereignisse des heutigen Nachmittags noch einmal zu verändern. Da das aber leider nicht möglich war, konnte ich nur noch eins tun – nämlich aus voller Kehle lachen. Ich wusste nicht wieso, es platzte einfach so aus mir heraus. Und noch dazu klang ich dabei halb hysterisch, beinahe so wie eine Hyäne. Oh ja, das war sexy Susan Miller in voller Pracht.
Aber ob sexy oder nicht, die Anspannung der letzten Stunde fiel endlich von mir ab. Ich konnte Charlie Brown geradewegs in die Augen sehen und wurde dabei nicht einmal mehr rot. „Na schön, du hast recht. Ich hab dich wohl ein bisschen beobachtet. Schließlich musste ich doch sehen, was Hunter angeschleppt hat. Und“ – wo wir schon dabei waren – „die Sache vorhin mit den Mädels war echt dämlich, ich weiß, aber ich werde mich dafür nicht entschuldigen.“
Ethan hatte mich fasziniert beobachtet, als ich meinen Lachanfall hatte. Nun lachte er selbst leise. „Musst du auch nicht. Ich fand’s süß, dass du ihnen sofort meinen Namen erzählen wolltest.“
Daraufhin verdrehte ich nur meine Augen. „Ja. Genau. Als ob das das Einzige war, woran ich denken konnte, nachdem du dich vorgestellt hast.“ Ja. Genau. Als ob es nicht genau so gewesen wäre. Ich zuckte mit den Schultern und hatte plötzlich das Gefühl, als ob zwischen uns eine seltsame Vertrautheit aufkommen würde. Aus diesem Grund war ich wohl auch so offen zu ihm, als ich sagte: „Was deine Frage angeht, ich denke, du bist ein ganz guter Spieler. Deine langen Pässe sind ausgezeichnet und du hast bereits im ersten Training zwei Bälle in Fredericksons Tor versenkt. Schätze, die Mannschaft könnte jemanden wie dich gut gebrauchen. Und ja … ich steh auf deine Musik.“ Nun streckte ich ihm die Zunge raus.
Heiliger Bimbam, ich sollte wirklich aufhören, mich um Kopf und Kragen zu reden, was, um ehrlich zu sein, doch etwas öfter vorkam, als mir lieb war. Besonders wenn ich anfing, mich in der Nähe von jemandem wohlzufühlen. Und so wie es aussah, war Ethan genau so jemand, denn ich konnte gerade mal wieder meine Klappe nicht halten. „Du hast eine Menge guter Songs auf deiner Playlist. Und dass ich reinhören musste, war sowieso nur deine Schuld. Du hättest die Musik ja auch einfach ausschalten können.“
Leicht überrascht – entweder wegen meines verbalen Ergusses oder meines Musikgeschmacks – sah er mich von der Seite aus an. „Dir gefällt Aerosmith?“
„Na ja, die jetzt nicht gerade so sehr, aber dafür könnte man behaupten, ich inhaliere Kings of Leon. Leider ist viel zu wenig von Volbeat auf deinem iPod. Das ist meine zweitliebste Band auf der Welt.“
Ethan rutschte zurück und platzierte einen Fuß auf der anderen Seite der Bank, sodass er mir mit gegrätschten Beinen gegenübersaß. In seine Augen trat ein aufgeregtes Funkeln, das ich nur zu gut von mir selbst kannte, wenn ich über Bücher oder Musik redete. „Ja, die sind echt genial!“, stimmte er mir zu. „Ich hab die Band erst vor ein paar Tagen entdeckt, aber ich werde mir, so schnell es geht, alle CDs von ihnen besorgen, die auf dem Markt sind. Halt mich meinetwegen für bescheuert, aber wenn ich wirklich auf Musik stehe, dann will ich mir die Songs nicht einfach nur als MP3 downloaden. Ich bin ein –“
„Sammler? Das bin ich auch! Total!“
„Ja, so was in der Art. Leider hat der Musikladen in der Stadt keine große Auswahl. Ich werde mir das Meiste wohl bestellen müssen.“
„Ich hab all ihre CDs und DVDs. Ihr bestes Album ist definitiv Live from beyond Hell. Wenn du willst, kann ich es dir leihen.“ Als Ethan nickte, machte ich mir eine gedankliche Notiz, die CD heute Abend noch rauszusuchen und sie morgen mit in die Schule zu nehmen. „Willst du was Cooles hören? Auf ihrem letzten Konzert in Monterey hab ich die Jungs Backstage getroffen und sie haben mir meine Kapuzenjacke signiert.“
„Ist nicht wahr! Wie cool ist das denn?“
„Seeeehr cool.“ Ich holte meinen Rucksack, den ich bis dahin immer noch auf dem Rücken getragen hatte, nach vorn und fischte mein Handy heraus. Fieberhaft durchsuchte ich die vielen Hundert Fotos darauf. Als ich endlich gefunden hatte, wonach ich suchte, hielt ich Ethan das Handy unter die Nase und grinste wie ein gekrümmtes Wiener Würstchen.
Auf dem Bild war ich zusammen mit dem Sänger von Volbeat zu sehen. Er hatte seinen Arm locker um meine Schultern gelegt und wir beide zwinkerten uns gegenseitig zu, anstatt in die Kamera zu lächeln.
„Mann, Wahnsinn! Das ist ja oberhammergeil!“
„Ja, total. Und er hat so furchtbar gestunken, völlig verschwitzt nach dem Megakonzert …“ Ich musste wieder lachen. „Und trotzdem hab ich es an diesem Abend einfach nicht über mich gebracht, hinterher duschen zu gehen.“
Ethan sah mich mit ernsten Augen an. „Das kann ich absolut verstehen. Ich hätte Michael Poulsens DNS bestimmt auch nicht abgewaschen, wenn sie an mir geklebt hätte.“
Konnte es sein, dass Charlie Brown und ich tatsächlich die gleiche Sprache sprachen? Ich kannte ihn jetzt wie lange? Fünf Minuten? Dennoch hatte ich das Gefühl, dass vor mir mein Seelenverwandter saß. Endlos schwärmten wir von unseren Lieblingsbands, die ein natürliches Talent auf die Bühne brachten, und lästerten im Gegenzug über andere Musiker, die sich für die nötige Aufmerksamkeit offenbar vor der Kamera nackt ausziehen mussten.
Bei dem Gedanken daran, wie sehr Ethan und ich im Einklang waren, fehlten mir die Worte. Okay, nein, das stimmte so nicht ganz. Es gab auf der Welt nur sehr wenige Dinge, bei denen es mir wirklich die Sprache verschlug, doch das hier war gerade mehr als überwältigend. Keiner meiner Freunde teilte meine Leidenschaft für Musik so sehr wie Ethan. Er war definitiv ein Junge, den man sich krallen und nie wieder loslassen sollte.
Als irgendwann mein Handy anfing zu läuten, waren wir gerade so in unser Gespräch vertieft, dass ich erst beim fünften oder sechsten Klingeln ranging und abwesend sagte: „Ja?“
„Susan? Wo bist du?“
Oha. Die aufgebrachte Stimme meiner Mutter lenkte meine Aufmerksamkeit dann doch ganz schnell von Ethans kornblumenblauen Augen ab. „Am Fußballplatz“, gab ich zaghaft zurück. „Wieso?“
„Es ist schon nach sieben. Deine Großtante Muriel ist hier. Wir warten schon seit über einer halben Stunde mit dem Abendessen auf dich.“
Ich nahm das Handy kurz vom Ohr, um auf das Display zu schauen. Tatsächlich, fünf nach sieben. Verfluchter Mist. Durch die Unterhaltung mit Ethan hatte ich doch total den Geburtstag meines Großvaters vergessen. Seine leicht senile und definitiv schwerhörige Schwester Muriel war extra aus Pasadena gekommen, um mit uns zu feiern. Eigentlich hätte ich heute Nachmittag meiner Mutter in der Küche helfen sollen. Wohin war nur die Zeit verflogen? Wir konnten doch nicht allen Ernstes drei Stunden verquatscht haben. Ich hatte das Gefühl, als würde mir gerade sämtliche Farbe aus dem Gesicht weichen. „Tut mir leid, Mom. Ich hab wohl die Zeit vergessen“, sagte ich und versprach ihr, in ein paar Minuten zu Hause zu sein.
Nachdem ich aufgelegt hatte, fragte Ethan enttäuscht: „Musst du schon gehen?“
„Ja, leider. Familienfeier.“ Mit einem langen Gesicht und einem Seufzen stand ich auf und schwang meinen Rucksack über die Schulter. „Ich kann nicht glauben, dass ich das echt vergessen habe.“
Ethan kam ebenfalls hoch. „Ja, ist schon verrückt. Ich hätte schwören können, dass wir nicht länger als zwanzig Minuten hier gesessen haben.“ Gemeinsam spazierten wir zum Ausgang des Sportplatzes. Als wir auf dem Parkplatz ankamen, blieb er bei einem blauen Ford Mustang stehen. Sein Blick schweifte für einen Moment zwischen mir und dem Auto hin und her. „Soll ich dich mitnehmen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich wohne nicht weit weg von hier. Es sind nur ein paar Minuten zu Fuß.“
Ethan sagte zwar nur: „Okay“, doch es hörte sich eher an wie: Ach wie schade. Und genau dasselbe dachte ich mir auch gerade. Ich wollte noch nicht heimgehen. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten wie heute. Um ehrlich zu sein, waren mein Mund und Hals vom vielen Reden derart ausgetrocknet, dass ich die ganze Strecke vom Fußballfeld bis zum Parkplatz permanent schlucken musste, um nicht zu krächzen wie ein Rabe.
Für einen Augenblick sahen wir uns an, als wollte sich keiner von uns beiden als Erster verabschieden. Als ich mich dann doch entschlossen hatte, ihm Auf Wiedersehen zu sagen, kam er mir zuvor. „Ähm, das war echt nett vorhin … mit dir. Vielleicht sollten wir das wieder mal machen. Was meinst du? Morgen nach der Schule? Wir könnten doch irgendwohin gehen und was trinken.“
Ich strich mir mit den Fingern durch mein Haar und spielte dann mit einer Strähne, die mir über die Schulter nach vorn hing. „Wie? Etwa wie ein –“
„Date?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ja, schätze schon. Um drei in Charlie’s Café?“
Ein verdächtiges Kribbeln breitete sich in meiner Magengegend aus. So eines, wie ich es sonst nur kannte, wenn ich mir Filme ansah, in denen Zac Efron mitspielte. „Okay.“
„Okay“, wiederholte er und schenkte mir noch ein Megawattlächeln, bevor er seine Wagentür aufmachte.
Anstatt nun doch endlich Auf Wiedersehen zu sagen, winkte ich einfach kurz und machte mich auf den Weg. Dabei strahlte ich wie ein Glühwürmchen im Dunkeln. Ich hatte kaum mehr als drei Schritte gemacht, da pfiff mich Ethan noch einmal zurück. „Hey, warte!“, rief er und ich drehte mich zu ihm um. „Was soll ich denn jetzt Hunter sagen? Lässt du mich spielen, oder nicht?“
Mit einem Lachen zwirbelte ich noch einmal die Haarsträhne von vorhin um meinen Finger. „Na ja, zu einem Date mit dir hab ich doch auch Ja gesagt, oder?“
Das war meine ganze Antwort. Anschließend eilte ich nach Hause und hoffte, noch ein Stück von der Geburtstagstorte abzubekommen, bevor Tante Muriel alles alleine aufaß.
Kapitel 2
MONTAGNACHT WAR WIEDER mal eine Kampfnacht in meinem Haus. Es begann gleich nach dem Abendessen, nachdem Großvater die unzähligen Kerzen auf seinem Kuchen ausgeblasen hatte und Dad ihm nach dem Anschneiden ebenfalls ein Stück auf einem Teller reichte.
„Richard, du weißt doch, dass mein Vater nichts Süßes essen soll!“, grollte meine Mutter und knirschte dabei mit den Zähnen. „In Gottes Namen, denk doch einmal an seinen Zucker!“
„Komm schon, Sally“, antwortete mein Vater daraufhin mit eher gelassener Stimme. „Es ist sein Geburtstag. Gönn ihm doch mal eine Pause.“
Nach diesem Diskussionseinstieg war mir klar, dass ich heute Nacht wieder einmal mit meinem Kopf unter dem Kissen schlafen würde. Großvater warf mir einen mitleidigen Blick über den Tisch zu. Er wusste genauso gut wie ich, was jetzt kommen würde. Ich schob meinen Stuhl zurück und huschte aus dem Esszimmer rüber in die Küche, wo ich mir die Milch aus dem Kühlschrank griff. Keine Ahnung, warum ich das tat, denn ich mochte kalte Milch nicht einmal. Doch immer, wenn Mom und Dad in einen Streit gerieten, verspürte ich plötzlich das dringende Bedürfnis, aus dem Zimmer zu flüchten.
Ich nahm ein paar große Schlucke direkt aus dem Milchkarton und ging dann rüber zur Spüle, um den kuhigen Geschmack auf meiner Zunge mit einem Glas Wasser runterzuspülen.
„… zusätzlich Insulin spritzen, um seine Zuckerwerte wieder zu normalisieren! Hast du daran schon mal gedacht? Warum kannst du nicht nur ein einziges Mal mit …“
Das Gezeter meiner Mutter, das aus dem Nebenzimmer drang, wurde durch die ruhige, tiefe Stimme meines Großvaters ausgeblendet. „Hast du für mich auch ein Glas?“
Mit einem Lächeln, das viel weniger erzwungen war, als ich zuerst geglaubt hatte, drehte ich mich zu ihm um. Er saß bereits an unserem kleinen, quadratischen Metalltisch in der Mitte der Küche und hatte die Hände wie ein braver Sonntagsschüler auf dem Tisch verschränkt. Vor ihm stand ein riesiges Stück Torte. Ich füllte ihm ein Glas mit Wasser und dann noch eines für Großtante Muriel, die sich gerade mit einem ziemlich verdutzten Gesichtsausdruck zu uns gesellte.
„Sind die etwa immer so?“, fragte sie und deutete mit dem Finger über ihre Schulter Richtung Esszimmer.
Ich stieß einen langen Seufzer aus. „Leider viel zu oft.“
Muriel setzte sich auf einen Klappstuhl neben Großvater. Ihr Haar war zwar noch lange nicht so weiß wie seins, doch was den Rest anging, so konnten die beiden nicht verleugnen, dass sie Geschwister waren. Sie hatten die gleiche große Nase, die gleichen schmalen Lippen und eine gesunde rosige Farbe auf den Wangen. Und so wie es aussah, hatte ich meine grünen Augen wohl von der Familie meiner Mutter geerbt.
Mit drei Gabeln bewaffnet, setzte ich mich zu ihnen an den Tisch und wir aßen schweigend das Stück Kuchen zur Hintergrundbeschallung des bereits zweiten Streits meiner Eltern in dieser Woche – und dabei hatte die heute erst begonnen.
*
Mom und Dad hatten zumindest so viel Anstand, ihr Gezanke für einen Moment zu unterbrechen, als Großvater und Muriel sich fürs Essen bedankten und sich dann verabschiedeten. Mein Großvater wohnte gleich nebenan. Wenn nachts die Streitereien meiner Eltern eskalierten und so laut wurden, dass man dabei kein Auge zu machen konnte, kam es öfter mal vor, dass ich mit Kissen und Wecker ausgestattet zu ihm rüber schlich und an seine Tür klopfte. Großvater ließ mich immer auf seiner Couch schlafen.
Heute jedoch war Großtante Muriel sein Gast, und da wollte ich nicht unangemeldet auftauchen. Also biss ich die Zähne zusammen und ertrug einen Streit, der seinen Höhepunkt zwanzig Minuten nach Mitternacht erreichte, als unten irgendwo eine Tür zuknallte und meine Mutter daraufhin schrie: „Hast du sie noch alle? Du weckst noch Susan auf!“
Danke, Mom. Hatte ja auch nur vier Stunden gedauert, bis sich einer von ihnen daran erinnerte, dass sie auch noch eine Tochter hatten. Ich drückte mir das Kissen fester über die Ohren und versuchte mit Schafezählen meinem alltäglichen – und beinahe auch schon allnächtlichen – Wahnsinn zu entfliehen. Leider funktionierte es nicht, und bald schon verwandelten sich die Schafe vor meinem inneren Auge in Fußbälle, die Ethan über einen Zaun kickte. Für ein paar Minuten sah ich ihm mit geschlossenen Augen dabei zu und konzentrierte mich auf das flauschig kribbelige Gefühl, das sich gerade in meinem Bauch breitmachte. Die Vorfreude auf morgen tat seltsame Dinge mit mir. Zum einen flatterte mein Herz wie eine Motte in meiner Brust, und außerdem wurde mir von den Zehenspitzen bis zum Scheitel gerade superwarm.
Mein erstes richtiges Date! Oh Junge, oh Junge! Als Erstes würde ich morgen früh auf jeden Fall Nagellack auftragen. Simone machte das andauernd, und sie war eines der hübschesten Mädchen, die ich kannte. Ich wollte für Ethan auch hübsch aussehen. Der Gedanke daran, wie er mich heute angelächelt und mich eine Lügnerin genannt hatte, öffnete die Schleusen für einen Adrenalinschwall, der mich heute sicher nicht mehr einschlafen lassen würde. Dabei vergaß ich sogar das Gezeter meiner Eltern und kroch unter meinem Kissen hervor. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, lag ich auf meinem Rücken und grinste im Dunkeln an die Decke. Drei Uhr nachmittags konnte gar nicht schnell genug kommen.
Wenig später musste ich aber dann doch eingeschlafen sein, denn als der Wecker neben meinem Ohr lostönte, riss es mich hoch wie Dracula aus seinem Sarg, wenn er frisches Blut wittert. Hellwach in Sekundenschnelle rauschte ich ins Bad, nahm eine Dusche, trug ein bisschen tropisch duftende Bodylotion auf und kämmte mein etwas länger als schulterlanges Haar, das ich dann mit einem rosa Gummiband zu einem hohen Pferdeschwanz band. Anschließend kramte ich in der Kommode unter dem Waschbecken nach dem noch originalverpackten Set mit zehn bunt leuchtenden Nagellackfläschchen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich dieses Set bei einem Gewinnspiel ergattert, das eine meiner Lieblingsautorinnen veranstaltet hatte. In der Box befand sich so ziemlich jede Farbe des Regenbogens, von Gelb bis Dunkelviolett. Ich entschied mich für den zartrosa Nagellack – der passte perfekt zu dem rosa T-Shirt, das ich für heute ausgesucht hatte. Ich wollte schließlich gut aussehen.
Nur war das Endergebnis leider alles andere als schön und meine Nägel sahen kein bisschen so hübsch aus wie Simones. Vielleicht kam das daher, dass ihre Fingernägel megalang waren und immer perfekt manikürt, während meine wohl kaum noch kürzer sein konnten, da ich im Französischunterricht immer darauf herumkaute, wenn ich mal wieder nur Bahnhof verstand.
Keinesfalls würde ich das Haus so verlassen. Ich sah ja aus, als hätte ich meine Fingerspitzen in Wasserfarbe getaucht. Das Problem war nur: In der Geschenkbox war leider kein Nagellackentferner gewesen. Ich war total aufgeschmissen! Panisch betrachtete ich meine gespreizten Finger. Ich stöhnte laut. Was für ein Unglück! So würde ich nicht zur Schule gehen, und wenn ich dafür in die Garage laufen und etwas von Dads Terpentin abstauben musste.
Doch halt mal – Mom! Sie war meine Rettung. Da sie sich regelmäßig ihre Nägel lackierte, hatte sie bestimmt auch etwas, um das Zeug wieder loszuwerden. Schnell griff ich mir meinen Rucksack und auch die CD, die ich gestern noch für Ethan rausgesucht hatte, und eilte nach unten. Meine Lebensretterin saß am Küchentisch über einer Tasse mit dampfendem Kaffee. Bei ihrem Anblick blieb ich in der Tür stehen. Sie war in ihren flauschigen grünen Morgenmantel eingehüllt und ihr wunderschönes dunkelrotes Haar, um das ich sie immer beneidete, hatte sie zu einem wenig attraktiven Knoten am Hinterkopf zusammengebunden. Als sie mich bemerkte und zu mir hochblickte, entdeckte ich dunkle Ringe unter ihren grünen Augen. Offenbar war die Kampfnacht mit dem Türenknallen noch lange nicht vorbeigewesen.
Mom lächelte. Es war ein Lächeln, das um Verzeihung bat, und eines, das so hübsch und warmherzig war, dass man ihr auch niemals lange böse sein konnte – weder ich noch mein Dad, der sich gerade an mir vorbei in die Küche schummelte. Dabei drückte er mir einen Kuss auf die Stirn. Den gleichen Kuss bekam auch meine Mutter, bevor er zur Eingangstür huschte und meinte: „Ich bin spät dran. Bis heute Abend.“
„Mach’s gut, Dad!“, rief ich ihm hinterher und setzte mich dann zu meiner Mutter an den Tisch. „Du siehst müde aus.“
„Mir geht’s gut.“ Sie griff über den Tisch nach meiner Hand und drückte sie sanft. „Es tut mir leid, was gestern passiert ist. Wir wollten dir und Großvater den Abend nicht verderben.“
„Schon okay.“ Das war eine Lüge, doch sie sah ohnehin schon gequält genug aus, da wollte ich nicht noch eins draufsetzen. „Wir haben unsere kleine Feier in die Küche verlegt, während du und Dad euren Ringkampf im Esszimmer ausgetragen habt. Und rate mal!“ Ich zog sie mit einem Lächeln auf. „Großvater hat das Stück Kuchen überlebt.“
Mom lachte und die Anspannung löste sich aus ihrem Gesicht. Doch ihre Schuldgefühle konnte man weiterhin in ihrem Blick ablesen. „War wohl ein dummer Grund für einen Streit, oder?“
„So ist das doch immer, Mom.“
Sie seufzte tief. „Ja, ich weiß. Dein Dad und ich werden uns in Zukunft mehr Mühe geben, versprochen.“
Ich nickte und zeigte ihr die Ermutigung, die sie brauchte. Doch in Wahrheit hatte sie mir dieses Versprechen schon viel zu oft gegeben, sodass ich irgendwann aufgehört hatte, daran zu glauben.
Als sie meine Hand über den Tisch zog und mir einen sanften Kuss auf meine Fingerknöchel gab, bemerkte sie schließlich, was heute Morgen im Badezimmer schiefgegangen war, und runzelte die Stirn.
„Ja, weißt du“, stöhnte ich, „das war ein Unfall. Kannst du mir helfen, das wieder in Ordnung zu bringen?“
Mom holte ihren kosmetischen Erste-Hilfe-Kasten, der viel mehr eine riesige, gewebte Tasche war, prall gefüllt mit Hunderten von Nagellackfläschchen und Gott sei Dank auch einem Entferner. Sie stellte die Tasche auf den Tisch, setzte sich wieder auf ihren Platz und begann meine Fingernägel mit einem getränkten Wattebausch abzurubbeln.
„Ich hab noch nie gesehen, dass du freiwillig deine Nägel lackiert hast“, sagte sie, während sie meinen Ringfinger bearbeitete. „Was ist denn der Anlass?“
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht wartete ich, bis meine Mutter zu mir hochblickte, um dem Moment die nötige Dramatik zu verleihen. „Ich habe ein Date.“
„Ja, ist denn das die Möglichkeit?“ Ihre Augen wurden groß wie zwei Scheinwerfer und strahlten mindestens genauso hell. „Wer ist der Glückliche? Kenne ich ihn? Ist es Nick?“
„Frederickson?“ Ich rümpfte die Nase. „Großer Gott, nein!“ Er war nur ein guter Freund. Obwohl es da mal diesen einen Moment gegeben hatte, als ich gedacht hatte, ich wäre in ihn verknallt. Wir hatten gerade ein Spiel gegen Hamilton High gewonnen und Nick hatte mich voll Euphorie in die Arme genommen und wild im Kreis herumgewirbelt. In meinem Bauch war plötzlich dieses schummrige Schmetterlingsgefühl aufgetaucht, doch es hatte sich schnell herausgestellt, dass ich vor dem Spiel lieber nicht noch mit Sam zu Burger King hätte gehen sollen. Fast Food und dann von einem großen Jungen beinahe in einer fetten Umarmung zerquetscht zu werden, das passte irgendwie nicht so gut zusammen. Als Nick mich wieder abgesetzt hatte, war das flaue Gefühl ganz rasch verflogen und alles war gut gewesen.
„Sein Name ist Ethan“, erzählte ich meiner Mutter. „Wir treffen uns heute nach der Schule. Solange ich wegen meines Knies außer Gefecht gesetzt bin, übernimmt er meinen Platz im Fußballteam. Wir haben gestern nach dem Training den ganzen Nachmittag miteinander gequatscht und dann hat er mich heute zu einem Date eingeladen.“
Mom hörte auf, den Nagel meines kleinen Fingers abzurubbeln. Ihr Strahlen verblasste hinter einem enttäuschten Stirnrunzeln. „Sagtest du, heute nach der Schule?“
„Ja, um drei. Warum?“
„Schätzchen, heute müssen wir doch meinen Wagen aus der Reparaturwerkstatt abholen. Hast du das etwa vergessen?“
Verdammt noch mal, ja, ich hatte es vergessen! Moms Wagen stand schon seit über zwei Wochen in der Werkstatt, und ich sollte sie heute mit Dads Auto raus nach Nipomo fahren, um ihn abzuholen. Ohne Zweifel war Ethan für das neuerdings auftretende schwarze Loch in meinem Gehirn verantwortlich. Solche Dinge vergaß ich normalerweise nie, genauso wenig wie den Geburtstag meines Großvaters.
„Können wir das Auto nicht morgen abholen? Biiiiitte“, quengelte ich. „Das ist mein erstes Date. Ich muss da einfach hingehen.“
„Es tut mir so leid, Susan, aber ich brauche den Wagen heute noch.“
„Was ist mit Großvater? Kann er dich nicht fahren?“
„Er bringt Tante Muriel heute zurück nach Pasadena. Sie hat dort einen wichtigen Termin.“
„Naaaaa-hein!“ Mit einem dumpfen Aufschlag knallte meine Stirn auf den Küchentisch.
„Wir sind spätestens um vier zurück. Frag Ethan doch, ob ihr euch dann treffen könnt.“
„Na schön“, murmelte ich und das Metall des Tisches lief dabei durch meinen warmen Atem an. Was hatte ich auch für eine andere Wahl?
Nachdem meine Mutter das Missgeschick mit meinen Fingernägeln ausgebügelt hatte, stibitzte ich mir einen Donut mit Zuckerglasur aus dem Karton auf der Anrichte und aß ihn auf dem Weg zur Schule. Für mein übliches Frühstück mit Toast, Eiern, Speck und Orangensaft war keine Zeit mehr.
Nach dem letzten Bissen leckte ich meine Finger sauber und spazierte durch die Eingangstür der Grover Beach High. In der ersten Stunde hatte ich Naturwissenschaften. Der Klassenraum befand sich am hinteren Ende des Gebäudes und ich bahnte mir einen Weg durch den mit Schülern überfüllten Korridor zu meinem Spind ganz in der Nähe des Raums. Ich holte mein Biologiebuch heraus, schlug die Metalltür wieder zu und verdrehte die Kombination des Schlosses. In diesem Moment bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine bekannte Gestalt.
Ganz plötzlich fing mein Herz an, Breakdance zu tanzen. Es war schon komisch, wie sich das anfühlte – ganz genau so, wie ich es schon tausendmal in Büchern gelesen hatte, und doch ganz anders. Viel, viel, viel intensiver. Für ein paar Sekunden stand ich einfach nur da und kostete dieses neue Gefühl bis zum Letzten aus. Dann holte ich zweimal tief Luft und ging auf Ethan zu.
Eine kleine Gruppe von Schülern stand um ihn herum, drei Jungs und zwei Mädchen, um genau zu sein. Ich kannte keinen von ihnen, doch sie sahen alle aus wie Abschlussklässler, die die Stufe über mir besuchten. Ethan bemerkte mich erst gar nicht. Er unterhielt sich gerade mit einem Mädchen, das aussah wie ein thailändisches Supermodel – endlos lange Beine, die Figur eines Zahnstochers und dazu noch wunderhübsches, schwarz glänzendes Haar, das ihr bis zu den Pobacken reichte.
Was mir an Ethan als Erstes auffiel, waren seine Klamotten. Das weiße Hemd und die ausgewaschenen Bluejeans standen ihm um einiges besser als das Charlie-Brown-Outfit, das er gestern getragen hatte, und mit den leicht aufgestellten Haaren sah er doppelt so gut aus. Was mir als Zweites an ihm auffiel, war, dass er ganz offenbar mit dem Thai-Model flirtete.
Bei dem Anblick, wie er eine Hand an den Spind hinter ihr drückte und sie somit in seinem Blickfeld gefangen hielt, verspürte ich einen kleinen, eifersüchtigen Stich in meiner Brust. Doch vielleicht war alles auch ganz anders, als es aussah. Ich wollte wirklich nicht zu viel hineininterpretieren.
„Hey“, sagte ich, als ich direkt neben ihm stand und es ihm immer noch nicht aufgefallen war. Leichte Nervosität stieg in mir auf. Zur Beruhigung umklammerte ich die CD, die ich ihm mitgebracht hatte, etwas fester, wobei ich aufpassen musste, dass ich nicht jeden Moment das Cover zerdrückte.
Als Ethan endlich seinen Kopf zu mir drehte und sein flirtendes Lächeln ins Schwanken geriet, sah er drein, als wäre er sich nicht ganz sicher, ob ich gerade mit ihm oder mit jemand anderem aus der Gruppe gesprochen hatte. Mir entging außerdem nicht, dass weder ein Hi noch ein Hallo oder sonst was über seine Lippen kam. Mein Hals wurde trocken.
Ich hielt Ethan das Album von Volbeat entgegen und sagte: „Ich hab dir die versprochene CD mitgebracht.“ Der zuversichtliche Klang meiner Stimme änderte sich dabei innerhalb von zwei Herzschlägen zu zaghaft und schüchtern.
Da er nun nicht mehr abstreiten konnte, dass ich ihn meinte, drehte er sich ganz zu mir, steckte eine Hand in die Hosentasche und umklammerte mit der anderen den Träger seines Rucksacks, den er lässig über eine Schulter gehängt hatte. Er sagte immer noch nichts zu mir und die verdammte CD nahm er auch nicht. Stattdessen ließ er seinen musternden Blick einmal meinen ganzen Körper runter und wieder rauf gleiten. Was war denn heute nur mit ihm los? Und zu allem Übel gafften mich auch seine Freunde an, als wäre ich gerade aus einer fliegenden Untertasse gestiegen.
Das nervöse Herzflattern, das ich bei Ethans Schweigen bekam, war höchst unangenehm. Wo war denn nur der unterhaltsame Junge von gestern Nachmittag geblieben? Hatte er mich wirklich schon in so kurzer Zeit wieder vergessen, oder spielte er hier nur den Obermacker vor seinen Freunden? War ich für sie etwa nicht cool genug?
Nun ja, es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Mit gestrecktem Rücken räusperte ich mich. „Hör zu, ich schaff es heute um drei leider nicht zu Charlie’s. Können wir unser Date vielleicht auf ein bisschen später verlegen? Wäre fünf Uhr okay?“
Erst machte Ethan entsetzlich große Augen, dann verschränkte er seine Arme arrogant vor der Brust und fing an zu lachen. „Sonnenschein, wie kommst du nur darauf, dass du und ich heute ein Date haben?“
Mir gefror der Atem in der Lunge. Als dann auch noch seine Freunde belustigt schmunzelten, wollte ich einfach nur verdunsten, wie ein Wassertropfen in der Sonne. Ethan war tatsächlich nur ein Arsch, das mich mit Charme dazu gebracht hatte, mein Okay für seine Aufnahme ins Fußballteam zu geben. Nichts weiter. Meine Hand sackte mit der CD nach unten. Ich schluckte und kämpfte gegen den Schock in mir an, der langsam die Oberhand gewann.
Doch ich weigerte mich, ihm in dieser Sache das letzte Wort zu lassen. Er konnte sein verdammtes Spielchen mit jemand anderem treiben, aber bestimmt nicht mit mir. „Wow, offenbar hab ich da gestern was missverstanden. Tut mir leid, mein Fehler“, schnaubte ich und machte auf meinen Hacken kehrt. Als ich davon stakste, zeigte ich ihm zum Abschied über meine rechte Schulter hinweg den Stinkefinger.
Hinter mir hörte ich noch die Stimme eines der Mädchen – wahrscheinlich die des Thai-Models. „Was sollte denn das gerade?“ Das Geräusch eines Klapses drang an mein Ohr, als sie ihm auf die Schulter, die Brust oder sonst wohin schlug. Allerdings lachte sie dabei und klang alles andere als ernsthaft beleidigt. „Gehst du etwa mit diesem Mädchen aus?“
„Autsch, jetzt brichst du mir aber das Herz, Lauren!“, winselte Ethan, ebenfalls amüsiert. „Ich kenne sie überhaupt nicht. Und außerdem bist du die Einzige, mit der ich heute ein Date habe.“
Mehr hörte ich nicht mehr von ihrem Gespräch, da die Schüler zwischen uns ihre Stimmen sehr schnell übertönten.
Mann, wenn ich nur daran dachte, dass ich mir sogar meine Nägel für diesen Idioten lackiert hatte … Aah! So ein Lackaffe!
Aber weh tat es trotzdem.
Ich ging auf geradem Weg zu meiner Naturwissenschaftsklasse, ließ mich auf meinen Stuhl nahe beim Fenster fallen, verschränkte mürrisch die Arme und senkte mein Kinn. Es dauerte gerade mal zehn Sekunden, bis Sam und Nick wie zwei Bienen quer durch den Raum zu mir herüber schwirrten. Sam sank auf den Stuhl neben mir und Nick parkte seinen Hintern auf der Tischkante. „Hey, Susan, was machst du denn für ein Dachsgesicht?“, fragte er. „Stimmt was nicht?“
„Ethan – der neue Spieler im Team?“, zischte ich.
„Was ist mit ihm?“
„Er ist ein kompletter Vollidiot.“
Meine beiden Freunde tauschten vorsichtige Blicke aus, dann meinte Nick: „Bist du sicher? Nach dem, was ich heute Morgen so gehört habe, hattet ihr beiden gestern doch noch eine ganz nette Zeit miteinander. Ich weiß von Hunter, dass ihm Ethan gesagt hat, du wärst mit ihm als Ersatz im Team einverstanden.“
„Stimmt das etwa nicht?“, fragte Sam besorgt. „Hat Ethan gelogen?“
„Nein, hat er nicht. Ich hab schon so etwas in der Richtung zu ihm gesagt. Aber wenn du Hunter das nächste Mal siehst“, sagte ich und sah Nick dabei ernst ins Gesicht, „kannst du ihm ausrichten: Wenn er auch nur ein bisschen Wert auf meine Gefühle legt, dann lässt er Ethan niemals meine Position einnehmen.“
„Ooh …“ Nick zog die Luft durch seine Zähne ein und stand mit erhobenen Händen auf, als wäre ihm diese Diskussion gerade zu heiß geworden. „Ich lass euch Mädels lieber allein, damit ihr das in Ruhe besprechen könnt.“
In dem Augenblick, als Sam und ich unter uns waren, hob sie ihre Augenbrauen auf eine Weise, die mich aufforderte, sämtliche Details auf den Tisch zu legen, und zwar dalli, wenn’s geht. Das hätte ich auch gemacht, wenn die Schulglocke mich nicht unterbrochen hätte. Sam, die in Naturwissenschaft immer bei Nick saß, machte den Stuhl neben mir frei für Trudy Anderson. Doch sobald unsere Lehrerin zur Tür hereingekommen war und den Unterricht begann, bekam ich eine SMS von Sam, in der sie ungeduldig nach der ganzen Story fragte.
Unter dem Tisch tippte ich rasch eine Nachricht mit den wichtigsten Einzelheiten zu meiner jüngsten Begegnung mit Ethan. Sams Reaktion darauf war ein trauriges Smiley-Gesicht. In ihrer darauffolgenden Nachricht schlug sie vor, dass unsere Mädchenrunde heute das gemeinsame Mittagessen mit den Jungs in der Cafeteria ausfallen lassen sollte und wir uns stattdessen zum Lunch im Garten treffen könnten, wo wir ungestört beratschlagen konnten, was ich als Nächstes tun sollte. Das war genau in meinem Interesse. Die Lippen immer noch verbissen aufeinandergepresst, sah ich kurz rüber zu ihr und nickte entschlossen. Dann schickte ich ihr noch schnell eine letzte SMS, in der ich sie bat, nicht mit Nick über die Sache zu reden. Die Jungs mussten ja nicht alles wissen, obwohl sie es wahrscheinlich früh genug von Ethan selbst erfahren würden. Er konnte es bestimmt kaum erwarten, die lustige Geschichte herumzuerzählen, wie er heute Morgen Bücherwurm Susan Miller gedemütigt hatte.
Da ich gemeinsam mit Sam, Simone und Liza die meisten meiner Unterrichtsstunden hatte, verging der Vormittag wie üblich ziemlich schnell. Sie alle waren genauso schockiert wie ich, als sie hörten, was passiert war. Als es endlich Mittag wurde, setzten wir uns auf dem Schulhof raus in die Sonne. Samantha hatte noch schnell ein paar Sandwiches aus der Cafeteria geholt, über die wir uns wie Wölfe hermachten. Und währenddessen konnte ich meinem Ärger endlich in angemessener Lautstärke freien Lauf lassen, anstatt hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln.
„Er ist so ein Mistkerl! Ihr hättet ihn hören sollen, oh mein Gott! ‚Wie kommst du nur darauf, dass du und ich heute ein Date haben?’„, äffte ich ihn mit hohler Stimme nach. „Er hat mich sogar Sonnenschein genannt. Dieser … Arsch!“ Ich ließ meine Stirn auf die über meinen Knien verschränkten Arme sinken und stöhnte. „Er wollte nur eins, nämlich dass ich ihm meine Erlaubnis zum Spielen gebe.“
„Kopf hoch, Susan“, sagte Simone und legte mir dabei eine Hand auf die Schulter. „Das kriegen wir schon wieder hin. Wir zahlen es ihm heim und sorgen dafür, dass du dich wieder besser fühlst.“
Ich blickte hoch. „Ach ja? Und wie soll das gehen?“
„Ganz einfach. Erst wird Liza Ryan so lange bearbeiten, bis er Ethan wieder aus dem Team wirft. Und dann gehen wir shoppen.“
„Shoppen?“ Liza lachte. „Ist das deine Lösung für alles?“
„Das ist meine Lösung für Probleme mit Jungs. Susan kommt dadurch auf andere Gedanken und bekommt gleich wieder …“, sie lehnte sich nach vorn und machte ein verschwörerisches Gesicht, „… bessere Laune.“
Und es war wirklich die beste Lösung, die ihr nur einfallen konnte. Neue Bücher zu kaufen war für meine Seele wie eine Repair-Kur für kaputtes Haar. Leider gab es da ein kleines Problem. „Ich kann nicht. Ich muss meine Mutter nach der Schule nach Nipomo fahren, damit wir ihren Wagen aus der Werkstatt abholen können.“
„Na schön, dann treffen wir uns eben hinterher“, meinte Simone. „Es kann doch nicht den ganzen Tag dauern, diese dreißig Meilen oder so zu fahren.“
„Natürlich nicht. Wir sollten spätestens um vier wieder zurück sein. Ich ruf euch dann an.“ Tja, und schon war das gewohnte Lächeln wieder auf meine Lippen zurückgekehrt.
Kapitel 3
DIE GUTE NACHRICHT war, dass Mom und ich es in Rekordzeit raus nach Nipomo und zurück geschafft hatten und ich um zwanzig vor vier an diesem Nachmittag bereit war, mit Simone und den anderen shoppen zu gehen.
Die schlechte Nachricht war, dass mein Dad anrief, gerade als ich wieder aus dem Haus gehen wollte, und uns mitteilte, dass er heute Abend erst sehr spät nach Hause kommen werde. Das würde Ärger geben. Mom war Krankenschwester im French Hospital Medical Center in San Luis Obispo, und heute Nacht hatte sie Dienst. Also war es Dads Aufgabe, für ihn und mich Abendessen zu kochen und sicherzustellen, dass Großvater alle seine Pillen nahm und auch die Insulinspritze nicht vergaß.
Mit siebzehn war ich wirklich alt genug, um mein Essen allein zu kochen, und Großvater war alles andere als ein dementer Greis, der sich nicht um sich selbst kümmern konnte. Er kam ganz gut allein klar. Doch seit ein Schlaganfall meiner Großmutter vor zwei Jahren das Leben gekostet hatte, war meine Mutter übervorsichtig geworden. Niemand sprach es laut aus, aber ich war mir sicher, dass sie meinen Dad für Großmutters Tod verantwortlich machte.
An jenem Tag hatte er sie auf Knien angefleht, ihn zu einem todlangweiligen und sich ewig hinziehenden Wohltätigkeitsbankett, das sein Boss organisiert hatte, zu begleiten. Mom war der Meinung, wenn sie an diesem Abend zu Hause geblieben wäre, hätte sie ihre Mutter retten können.
Ehrlich gesagt konnte ich mir nicht vorstellen, wie sie den Schlaganfall hätte verhindern wollen. Großmutter hatte gerade an ihrer Nähmaschine gesessen, als es passiert war. Sie war einfach vornüber gekippt und gestorben. Das Ganze hatte laut Aussage ihres Arztes nur wenige Sekunden gedauert. Sie hatte vermutlich keine Schmerzen gehabt und auch keine Chance auf Rettung. Außerdem hätte Mom davon absolut nichts mitbekommen, da wir doch nicht einmal im selben Haus lebten. Dennoch, das war die Zeit gewesen, als die Streitereien zwischen meinen Eltern begonnen hatten. Und sie hatten nie wieder aufgehört.
Aus welchem Grund auch immer, meine Eltern fetzten sich, sobald sie im selben Zimmer waren. Doch zumindest hatte ich diesmal, dank der Spätschicht meiner Mutter, eine ruhige Nacht vor mir. In den vergangenen Monaten hatte ich diese seltenen Momente der Stille in unserem Haus zu schätzen gelernt. Ohne jeglichen Lärm lesen zu können, war das Schönste, das ich mir vorstellen konnte. Und genau das hatte ich vor, sobald ich nach der Shoppingtour mit den Mädchen nach Hause kommen würde.
Um zehn vor vier traf ich mich mit ihnen allen vor Charlie’s Café. Wir waren uns einig, dass wir den Nachmittag ganz ruhig mit einem Haselnuss-Caffè-Latte-deluxe angehen wollten, den Charlie brandneu auf die Karte gesetzt hatte.
Im Gänsemarsch betraten wir das Café, wobei ich das Schlusslicht bildete. Und gerade als die Tür langsam hinter mir zufiel, hörte ich den ersten verräterischen Luftschnapper von Simone. Ein weiterer folgte sogleich von Sam und noch einer von Liza. Sam war zwar klein genug, dass ich locker über ihren Kopf hinwegsehen konnte, doch Simone musste erst einen Schritt zur Seite machen, damit ich erkennen konnte, was die drei so erschreckt hatte. Was … oder wer.
Ethan saß an der Bar.
Mein Herz pochte wie eine Basstrommel, und nicht etwa vor freudiger Aufregung, sondern schlichtweg aus Wut. Er drehte sich zu uns um – entweder hatte er auf jemanden gewartet und uns reinkommen gehört oder es hatten die drei erschrockenen Luftschnapper vor meinem eigenen seine Aufmerksamkeit auf uns gezogen. Was auch immer es gewesen war, als sein Blick mich traf, erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Ich knirschte mit den Zähnen und folgte meinen Freundinnen. Komischerweise schien er darauf zu warten, dass ich bei ihm stehen blieb. Als ich in dieser Hinsicht keinerlei Anstalten machte, versickerte sein Lächeln und wurde zu einem betretenen Stirnrunzeln. „Hey, Susan“, sagte er mit unsicherer Stimme, als ich bereits an ihm vorbei war.
Na sieh mal einer an, wer sich da plötzlich an meinen Namen erinnerte.
Simone blieb stehen und blickte prüfend über ihre Schulter zu mir zurück, aber ich schüttelte nur andeutungsweise den Kopf, was sie sofort verstand. Sie und die anderen gingen nach hinten zu dem rechteckigen Tisch, der so niedrig war wie ein Couchtisch, und verteilten sich auf die dunklen Rattansessel rundherum. Unterdessen drehte ich mich um und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was?“, schnauzte ich Ethan an.
Für einen Moment hatte er doch tatsächlich seine Sprache verloren. Dann zog er die Augenbrauen noch tiefer ins Gesicht und stand vom Barhocker auf. „Ähm, ich war der Meinung, wir hätten um drei eine Verabredung gehabt.“
„Wie bitte?!“
Bei meinem harschen Tonfall hob Charlies Aushilfskellner, der gerade die Theke wischte und mit dem sich Ethan vorher unterhalten hatte, als wir reingekommen waren, erschrocken den Kopf. Er war ein ziemlich hübscher Junge, mit dunklem Haar und noch viel dunkleren Augenbrauen. Sein Name war Ted und ich kannte ihn aus dem Englischunterricht.
Ich schenkte Ted jedoch keine Beachtung, sondern konzentrierte mich auf Ethan, als er murmelte: „Seit einer Stunde sitze ich hier schon und hab auf dich gewartet. Dann kommst du endlich mit deinen Freundinnen und sagst noch nicht einmal Hallo?“
„Whoa, Freundchen, du hast ja vielleicht Nerven! Darüber hättest du besser nachdenken sollen, bevor du diesen Scheiß mit mir abgezogen hast.“ Ich machte eine kurze Atempause und setzte ein bittersüßes Lächeln auf. „Schönen Tag noch, Ethan.“ Dann drehte ich mich um und stapfte zu meinen Freundinnen hinüber.
Mann, Rache hatte doch etwas sehr Befriedigendes an sich.
Als ich mich in den letzten freien Sessel am Tisch sinken ließ und mir die Menükarte vom Tisch schnappte, nur um etwas in den Händen zu halten, sah ich gerade noch, wie Ethan zur Tür hinaus verschwand und diese langsam hinter ihm zuglitt.
„Was hat er gesagt?“, flüsterte Sam und schob die Menükarte nach unten, damit sie mir ins Gesicht sehen konnte.
„Dass er auf mich gewartet hat.“
„Tatsächlich? Das ist ja komisch.“
Ich rümpfte die Nase. „Ja schon, oder?“
Ted kam zu uns rüber, um unsere Bestellungen aufzunehmen. Blitzschnell wurde es still an unserem Tisch, bis er wieder verschwunden war. Dann fragte Liza: „Was wirst du jetzt tun?“
„Gar nichts. Wieso auch? Er ist ein Vollpfosten, offenbar mit einer multiplen Persönlichkeit. Auf diesen Mist hab ich echt keinen Bock.“
Gedankenvoll stieß sie einen langen Atemzug durch die Nase aus. „Also ich versteh’s nicht. Ich bin mir sicher, dass ich Ryan schon öfter mit ihm abhängen gesehen hab. Und auch wenn wir uns noch nie offiziell vorgestellt wurden, hatte ich immer den Eindruck, er wäre ein echt netter und lustiger Kerl. Ich frag mich, was sein Problem ist.“
„Scheiß auf sein Problem. Ich lasse nicht zu, dass er uns jetzt auch noch den Nachmittag verdirbt“, warf ich ein. Als Ted in diesem Augenblick zurückkam und vier Haselnuss-Caffè-Latte-deluxe brachte, nahm ich meine Tasse hoch und brachte einen Toast aus. „Auf ein kurzes Kapitel in meinem Leben! Ein sehr kurzes.“ Dann tauchte ich meine Lippe in den warmen Milchschaum, nahm einen Schluck und wunderte mich, warum Ted immer noch an unserem Tisch stand.
Erst als ich zu ihm hochsah, sagte er: „Dein Caffè Latte geht auf Ethan. Er hat dafür bezahlt, bevor er gegangen ist. Und er lässt dir ausrichten, dass ihm der Scheiß leidtut, den er anscheinend abgezogen hat.“
Ich verschluckte mich an dem Milchkaffee und setzte schnell die Tasse ab, ehe ich mir den Rest über die Hose schütten konnte. Sam klopfte mir auf den Rücken, bis ich wieder Luft bekam. Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schaum von der Lippe. „Du verarschst mich!“
„Nein.“ Mit einem süffisanten Grinsen, durch das er einige Jahre älter wirkte, kehrte Ted zurück hinter die Bar.
Was zum Teufel sollte ich denn davon halten? War Ethan echt so verrückt und konnte sich nicht mehr daran erinnern, was er heute Morgen zu mir gesagt hatte? „Völlig geistesgestört“, dachte ich laut und schüttelte den Kopf. „Kann sich einer von euch erklären, was das soll?“
Alle drei machten ratlose Gesichter. Sie waren mir eine große Hilfe. Ich ächzte. „Ist das nicht unfassbar? Da lerne ich endlich mal einen Jungen kennen, der es tatsächlich mit all den fiktionalen Charakteren aus meinen Büchern aufnehmen könnte, und dann ist der Kerl ein Spinner.“
In dem bequemen Sessel zurückgelehnt, verschränkte Sam ihre Finger auf dem Bauch und kaute nachdenklich auf ihrer Lippe herum. „Was ist, wenn alles bloß ein Missverständnis war? Vielleicht muss er irgendwelche Pillen schlucken, ihr wisst schon, gegen Gedächtnisschwund oder so, und er hat sie heute einfach vergessen?“
Ein heiseres Lachen drang aus meinem Hals. „Du hast wohl gestern den Sci-Fi-Kanal mit Tony geguckt, wie?“
„Gar nicht wahr! Solche Dinge gibt es wirklich.“
„In welchem Universum denn bitte?“
„Na schön, dann glaubst du mir eben nicht.“ Sie streckte mir ihre Zunge raus und kicherte. „Aber schon allein für den Caffè Latte hat er eine zweite Chance verdient, wenn du mich fragst.“
„Du machst wohl Witze?“ Aus der Schüssel, die in der Tischmitte stand, fischte ich mir ein Zuckerpäckchen und riss es an einer Ecke auf. Während ich den Zucker in meinen Milchkaffee schüttete und umrührte, bis er im dicken Milchschaum versank, stellte ich klar: „Er hat mich heute Morgen total blamiert. Wie kann er dafür eine zweite Chance verdienen?“
Sam zog neunmalklug ihre Augenbrauen hoch. „Tony hat sich wie ein kompletter Arsch benommen, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben. Heute sind wir ein glückliches Paar, nur mal so nebenbei erwähnt.“
Na schön, vielleicht hatte sie in diesem Punkt sogar recht. Und die Seite, die ich gestern an Ethan kennengelernt hatte, war spaßig und interessant genug, dass ich – bis vor Kurzem – auch liebend gern mehr Zeit mit ihm verbracht hätte. Wenn er und ich nicht auf derselben Welle surften, dann wusste ich echt nicht, wer sonst. Vielleicht gab es ja wirklich eine vernünftige Erklärung für sein Verhalten heute in der Schule. Doch mit Anti-Amnesiepillen hatte das ganz bestimmt nichts zu tun. Eher hätte ich noch geglaubt, dass Ethan letzte Nacht von Aliens entführt worden war. Die Wahrheit herauszufinden hatte unbestritten seinen Reiz. Aber war es die Mühe auch wert?
Ich hegte meine Zweifel, trotzdem wollte ich die Meinung der anderen dazu hören. In der elften Klasse traf man solche schwerwiegenden Entscheidungen prinzipiell nicht allein. „Also gut, stimmen wir ab. Was soll ich eurer Meinung nach tun?“
Simone sagte: „Vergiss ihn.“
Liza sagte: „Vergiss ihn.“
Sam sagte: „Sprich mit ihm.“
„Das sind zwei gegen eine.“ Ich zuckte zufrieden mit den Schultern. „Tut mir leid, Sam. Du wurdest überstimmt.“ Und damit war das Thema vom Tisch. Ich würde nie wieder auch nur ein Wort mit Ethan wechseln. Nachdem nun diese Entscheidung gefällt war, konnte ich endlich auch meinen Haselnuss-Caffè-Latte-deluxe genießen, und ich musste noch nicht einmal dafür bezahlen.
Der Einkaufsbummel hinterher war mega. Ich kaufte mir mindestens ein Dutzend neuer Bücher, ein Paar hautenge Jeans, einen Bilderrahmen – zwar hatte ich keine Ahnung, welches Foto ich da hineinstecken sollte, aber ich konnte wegen der hübschen Muscheln darauf einfach nicht widerstehen – und dann noch ein paar Accessoires für meine Haare. Zufrieden und erschöpft sackte ich gegen die Tür in meinem Zimmer, als ich heimkam, und erfreute mich an der angenehmen Stille im Haus.
Meine Ausbeute an neuen Büchern fand einen Platz auf dem riesigen Bücherregal, das Dad vor ein paar Jahren für mich gebaut hatte und das die komplette Wand gegenüber vom Fenster einnahm. Die Tüte mit dem restlichen Zeug stellte ich erst mal auf meinem Schreibtisch ab. Ich hatte keine Zeit, die Sachen wegzuräumen. Ruhige Nächte im Miller-Haus waren für mich ebenso wertvoll wie Heiligabend, und ich hatte nicht vor, auch nur eine Minute davon zu verschwenden.
Mit dem fünften Band der Outlander-Reihe bewaffnet, machte ich es mir auf meinem Bett gemütlich und steckte meine Zehen unter die Häkeldecke, die Großmutter für mich zu meinem achten Geburtstag gemacht hatte. Bambi war auf der Decke abgebildet. Sie war mein allergrößter Schatz.
Bevor ich anfing zu lesen, lehnte ich mich so weit aus dem Bett, wie es ging, ohne dabei herauszufallen. Mein Arm war gerade lang genug, dass ich die oberste Schublade meines Schreibtisches erreichen konnte, wo ich eine Packung Likörpralinen aufhob. Ich stellte die Schachtel neben mich aufs Bett und schob mir eine gefüllte Schokopraline nach der anderen in den Mund. Sie hielten meinen Hunger im Zaum, denn ich hatte nicht vor, wertvolle Lesezeit für ein einsames Dinner mit mir allein zu opfern.
Gegen neun kam Dad nach Hause und klopfte an meine Tür. Glücklicherweise blieb er auf der Schwelle stehen und sagte nur hi, denn wenn er hereingekommen wäre, um mir einen Gutenachtkuss zu geben, hätte mich mein Liköratem wohl in Schwierigkeiten gebracht.
Ich winkte ihm vom Bett aus zu und beendete mein Buch, nachdem er wieder gegangen war. Als ich schließlich das Licht ausknipste und in mein Kissen sank, hoffte ich, diese Nacht von den schottischen Highlands zu träumen.
Wovon ich allerdings wirklich träumte, war Ethan. Ich schwamm in einem riesigen Bottich Kaffee, während er am Rand saß und mir zurief: „Du kannst im Moment ja nicht mal Fußball spielen! Wie kommst du nur darauf, dass du und ich heute ein Date haben?“
Da mich mein Strampeln vermutlich nie bis an den Rand der Wanne gebracht hätte, gab ich irgendwann auf und trank einfach die fünftausend Liter Caffè Latte aus. Dann ging ich auf Ethan zu und spuckte ihm die Brühe ins Gesicht. „Das ist dafür, dass du mir meinen Platz im Team gestohlen hast!“, schrie ich.
Gott sei Dank wachte ich in diesem Moment auf. Zu sagen, ich hatte mit Ethan doch noch nicht ganz abgeschlossen, war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts. Der Kerl hatte sich in meinen Kopf eingebrannt wie ein Branding in der Haut. Wie konnte ich ihn da nur wieder rauskriegen?
Als ich am Küchentisch saß und die Rühreier mit Speck aß, die mir meine Mutter zum Frühstück gemacht hatte, nachdem sie von ihrem Nachtdienst heimgekommen war, überlegte ich, ob ich vorerst vielleicht nicht mehr zum Fußballtraining gehen sollte. Nur so lange nicht, bis mein Knie wieder einwandfrei funktionierte und Ethan das Feld für mich räumen musste. Aus den Augen, aus dem Sinn, so hieß es doch, nicht wahr? Ich prostete mir selbst zu diesem Entschluss zu und spülte die Eier mit einem großen Schluck Orangensaft hinunter, dann machte ich mich auf den Weg zur Schule.
Nur etwa zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn betrat ich das Schulgebäude und eilte den Gang hinunter zum Naturwissenschaftsraum. Obwohl ich mir sicher gewesen war, dass Sam mich heute als Erste über Ethan und mein Befinden in Bezug auf ihn ausquetschen würde, rannte ich völlig überraschend Liza über den Weg.
Sie war gerade in ein Gespräch mit einer Lehrerin verwickelt, die ich nicht kannte, doch Lizas eindringlicher Blick galt mir. „Susan, warte kurz!“, flüsterte sie. „Ich muss dir unbedingt was erzählen.“
Wie geheimnisvoll. Ich blieb also in ein paar Metern Entfernung an der Ecke stehen und wartete darauf, dass die beiden ihre Unterhaltung beendeten. Da hörte ich hinter mir eine bekannte Stimme. Augenblicklich rauften sich die Härchen in meinem Nacken um einen Stehplatz.
Ich sah über meine Schulter. Vor dem Jungenklo standen Hunter und Ethan, beide in eine fröhliche Diskussion vertieft. Wie ein verdammter Volltrottel hielt ich schnell meine Hand hoch, um mein Gesicht zu verdecken. Klar – ich verdrehte meine Augen – als ob Hunter mich nicht trotzdem erkannt hätte, wenn er in meine Richtung geblickt hätte. Und Ethan wahrscheinlich ebenso. Blitzschnell huschte ich um die Ecke, damit sie mich nicht entdeckten, doch ihre Stimmen drangen immer noch über den Gang zu mir herüber. Und wenn ich pünktlich zum Unterrichtsbeginn in meiner Klasse sein wollte, musste ich früher oder später an den beiden vorbei.
Soviel zum Thema Fußballtraining vermeiden, um Ethan nicht über den Weg zu laufen. Prima Plan. Ihn hier zu sehen ruinierte mir den ganzen Tag. Wie sollte ich den Kerl denn so jemals aus meinem Kopf bekommen? Zusätzlich brachte der spendierte Haselnuss-Latte von gestern mein Innerstes noch immer ganz schön durcheinander. Vielleicht sollten wir die Dinge wirklich klarstellen, gleich hier und jetzt und ein für alle Mal. Andernfalls könnte ich mich heute bestimmt nicht auf die Schule konzentrieren.
So nervös, wie ich gerade war, konnte ich ihm jedoch nicht gegenübertreten. Gah! Was für ein Schlamassel und das schon vor der ersten Stunde. Ich schlug mit dem Kopf hinter mir gegen die Wand und zog frustriert an meinem Haar.
Liza, die seitlich vor mir stand, hatte mein Dilemma wohl bemerkt. Sie warf mir einen verwirrten Blick zu, woraufhin ich mit einem Nicken in Ethans Richtung konterte. Da biss sie sich auf die Lippen. Offenbar wollte sie mir zu diesem Thema etwas sagen, doch die stämmige, kleine Lehrerin war mit ihrer Geschichte noch immer nicht fertig. Mann, was würde ich darum geben, wenn ich Liza einfach zur Seite zerren und sie wegen meiner Ethan-Misere konsultieren könnte.
Da dies jedoch nicht zur Auswahl stand und ich langsam in meine Klasse musste, sammelte ich eine Wagenladung Mut zusammen, streckte meinen Rücken durch, zog meine Schultern zurück und trat um die Ecke. Natürlich standen die beiden Jungs immer noch am selben Platz.
In meinem Magen fuhren die Eier vom Frühstück Achterbahn. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ich müsste mich übergeben. Wow, so nervös war ich ja noch nie gewesen. Wo kam das bloß her? Mit aller Kraft zwang ich mich dazu, das flaue Kribbeln zu ignorieren, und schöpfte Zuversicht aus dem Glauben, dass Ethan mich nicht wieder so geringschätzig abweisen würde, wenn Hunter dabei war.
Ethan sah mich als Erster. Obwohl er die Unterhaltung mit Hunter weiterführte, klebten seine Augen an mir, als ich energisch näher stapfte. Erst als ich direkt vor ihm stehen blieb, verstummte er mitten im Satz.
„Du hast zehn Sekunden für eine Erklärung“, schnappte ich.
Erschrocken drehte sich nun auch Ryan zu mir um, doch ich nahm keine Notiz von ihm.
„Eine Erklärung wofür?“ Wieder war in Ethans Stimme dieser amüsierte Unterton. Genau wie gestern. Dann neigte er seinen Kopf leicht schief und zog die Augenbrauen zusammen. „Hey, sag mal, verfolgst du mich etwa, Sonnenschein?“
Das traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der hatte doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Grundgütiger, was läuft denn bei dir verkehrt?“
„Entschuldige mal, du bist doch diejenige, die mich dauernd anquatscht.“
Hunter schmunzelte neben mir. „Susan …“ Ich hätte ihn gar nicht erst beachtet, wenn er nicht seinen Arm um meine Schultern gelegt hätte. „Susan!“, sagte er noch einmal und wartete, bis ich meinen Kopf in seine Richtung drehte.
Ryan hatte meinen vollsten Respekt als Mannschaftskapitän und auch als Freund mochte ich ihn wirklich gern. Doch gerade jetzt wollte ich nichts lieber tun, als ihm sein verschlagenes Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. „Was ist?“, fauchte ich.
Er griff auch mit der anderen Hand nach meiner Schulter und drehte mich zurück zu Ethan. Dann sagte er: „Darf ich dir Chris vorstellen?“
„Chris wer?“
„Donovan“, sagte Ethan.
„Ah ja, genau. Und du bist dann Ethans Alter Ego oder was?“
Der Junge, der aussah wie Ethan, begann zu lächeln. „Sein Bruder.“
„Bruder …“ Das konnte nicht sein.
Ryan lehnte sich näher zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: „Zwillinge.“
„Zwillinge.“ Mir wurde schlecht. Ich wandte mich Hunter zu und schlug mit der Stirn gegen seine Brust. „Zwillinge. Neeein.“ Wenn ich mich doch nur in Luft auflösen könnte.
Und dann krümmte sich die Kopie des Jungen, den ich Montagnachmittag auf dem Sportplatz getroffen hatte, vor Lachen. „Du hast also Ethan kennengelernt? Jetzt wird mir einiges klar.“
Es war mir scheißegal, ob für ihn nun alles einen Sinn ergab. Er war ein aufgeblasener Hohlkopf, der mich gestern vor all seinen Freunden bloßgestellt hatte, und ich wollte nichts wie weg von ihm. Und dann musste ich so schnell wie möglich Ethan finden und das Missverständnis aufklären. Schließlich hatte ich auch immer noch das Lifealbum von Volbeat in meinem Rucksack, dass er nun doch noch bekommen würde.
„Bis später“, maulte ich in Hunters Richtung. Zu Chris sagte ich gar nichts, sondern drehte mich einfach um und stakste davon. In Gedanken schlug ich meinen Schädel dabei kontinuierlich gegen eine Ziegelmauer. Schon nach ein paar Schritten dämmerte es mir jedoch, dass ich Ethan vielleicht gar nicht finden würde. Schließlich hatte ich keine Ahnung, welche Unterrichtsfächer er hatte. Oder schlimmer noch, was wenn ich Chris noch einmal mit Ethan verwechseln würde?
Um eine weitere derartige Misere zu verhindern, blieb ich abrupt stehen und machte kehrt. Hunter lachte sich gerade schief, doch Chris hatte mich immer noch im Visier. Ich hatte wohl ziemlich Eindruck auf ihn gemacht – und bestimmt keinen guten.
Als ich erneut vor ihm stand – und Junge, oh Junge, die beiden Brüder glichen sich wirklich bis aufs Haar – holte ich aus meinem Rucksack einen Stift und griff mir dann Chris’ Arm. Drumherum zu reden hatte bei diesem arroganten Schnösel wahrscheinlich wenig Sinn, also schob ich einfach seinen Hemdärmel hoch und drehte seinen Unterarm so, dass die Innenseite nach oben zeigte. Dann schrieb ich meine Handynummer darauf.
Es war schon irgendwie komisch, dass er so überhaupt nicht protestierte, während ich mit einem Kuli auf seine Haut kritzelte. Andererseits hatte ihn mein Verhalten wohl einfach überrumpelt. Gut. Ich unterdrückte ein hämisches Grinsen und kommandierte: „Sag Ethan, er soll mich anrufen.“ Ich war schon wieder zum Gehen bereit, da fiel mir die CD ein und ich fischte sie noch schnell aus meinem Schulrucksack, dann drückte ich sie ihm gegen die Brust. „Gib ihm das und sag ihm Danke für den Haselnuss-Latte.“
Erst jetzt blickte ich hoch in sein Gesicht. Seine Augen waren genauso kornblumenblau wie Ethans. Hübsch und fesselnd. Er blinzelte zweimal und ließ dann ein verschmitztes Lächeln von der Leine, das meinen Puls nach oben schnellen ließ. „Bitte“, sagte er gedehnt.
„Bitte“, wiederholte ich ebenso in die Länge gezogen und präsentierte dabei mein süßestes falsches Grinsen. Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und ließ die beiden Jungs hinter mir stehen.
Ein paar Schritte weiter stieß ich mit Liza zusammen und mein Rucksack rutschte mir dabei von der Schulter. Als ich mich bückte, um ihn aufzuheben, flüsterte Liza: „Komme ich zu spät?“
„Zu spät wofür?“
„Um dir zu sagen, dass das nicht Ethan ist und dass ich herausgefunden habe, was los war.“
Ich richtete mich auf und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Jap. Zu spät.“
Liza verzog gepeinigt das Gesicht. „Oje.“
Die Glocke läutete und schreckte uns aus unserer Unterhaltung auf. Wir würden beide zu spät zum Unterricht kommen. Schnell verabredeten wir uns für die nächste Pause, dann eilte sie los zu Hunter, um ihm noch rasch einen Kuss auf die Wange zu drücken. Als ich ihr über meine Schulter nachschaute, bemerkte ich, dass Chris’ eindringlicher Blick immer noch auf mir haftete.
Kapitel 4
UM FÜNF UHR rief Ethan mich endlich an. Ich wusste, dass nur er es sein konnte, als eine unbekannte Nummer auf dem Display meines Handys erschien, und ging mit rasendem Herzen dran. „Hallo?“
„Hey, Sonnenschein“, sagte der Junge am anderen Ende. Ein Schauer rieselte mir über den Rücken und mir wurde klar, dass ich mich getäuscht hatte. Das war nicht Ethan. Er würde mich nicht Sonnenschein nennen, schon gar nicht in diesem gedehnten, verschmitzten Tonfall.
Ich stöhnte enttäuscht und doppelt so frustriert auf. „Warum rufst du mich an, Chris?“
„Weil du mir deine Nummer gegeben hast“, antwortete er.
„Ich habe sie nicht dir gegeben.“
„Ach nein? Deine Handschrift auf meinem Arm besagt da aber etwas anderes.“
Ich setzte meine Brille ab und rieb mir über die Nasenwurzel, um das Pochen zu vertreiben, das vor zwei Sekunden angefangen hatte. „Tja, ich habe dir die Nummer aber nicht gegeben, damit du mich anrufst. Wo ist dein Bruder?“
„Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war er in seinem Zimmer.“
„Hol ihn bitte ans Telefon, ja?“
„Hmm. Dazu müsste ich aufstehen und rübergehen. Und ich glaube, dazu bin ich im Moment nicht in der Stimmung.“ Schmunzelte er etwa gerade?
„Warum hast du mich denn dann angerufen?“ Ich war stark versucht, meinen Kopf auf die Tastatur meines Computers zu schlagen, an dem ich gerade meine Hausaufgaben gemacht hatte.
Chris lachte und das hörte sich erstaunlich süß an. So wie Ethans Lachen bei unserer ersten Begegnung. „Das habe ich doch schon gesagt, weil du mir deine Nummer gegeben hast“, erklärte er.
„Bitte … das hatten wir doch bereits“, maulte ich.
„Na gut.“ Er machte eine Pause. „Dann vielleicht, weil ich dich fragen wollte, ob du mit mir ausgehst?“ Dem Klang nach wurde die Frage von einem Grinsen begleitet.
„Was?“ Das kam so unerwartet, dass ich in meinem Drehstuhl herumruckte und mir das Knie am Schreibtisch anschlug. Autsch, Mist, tat das weh! Zum Glück war es mein unverletztes Knie. Der Schmerz verebbte schnell. „Du machst wohl Witze?!“
„Nein. Warum sollte ich?“ Zog er mich wieder auf?
„Na, erstens, weil ich mit deinem Bruder reden will und nicht mit dir. Und außerdem – wolltest du nicht mit Lara ausgehen?“
„Wer ist Lara?“, schnurrte er mir ins Ohr.
„Hallo? Asiatisches Supermodel? Lange, schwarze Haare?“, klärte ich ihn mit verärgertem Knurren auf.
„Ach, du meinst Lauren? Ich war gestern schon mit ihr aus. Und vielleicht werde ich das irgendwann wiederholen. Aber für dich ist in meinem Kalender immer ein Plätzchen frei, Sonnenschein.“
„Hast du was an der Waffel?“
„Ich hoffe nicht“, antwortete er in ebenso ernstem Ton, wie ich gefragt hatte. „Warum? Ist es bedenklich, sich mit dir zu verabreden?“
„Ich bin das perfekte Mädchen für ein Date, nur nicht für dich, Dumpfbacke!“
„Ach, sag so was nicht, kleine Sue. Du kennst mich doch noch gar nicht richtig.“
„Und so Gott will, wird das auch nie passieren. Bitte hol jetzt endlich Ethan ans Telefon und hör auf, meine Zeit zu vergeuden.“
Chris lachte wieder, und zwar so laut, dass ich das Handy vom Ohr weghalten musste. „In Ordnung, du hast gewonnen. Aber ich mache dir einen Vorschlag“, meinte er. „Falls es mit dir und Ethan nicht klappen sollte, wovon ich jetzt mal ganz unvoreingenommen ausgehe, lässt du dich von mir zu einem Date ausführen. Abgemacht?“
Darauf gab es nur eine Antwort. „Eher friert die Hölle zu.“
Seine Stimme wurde ernst – zu ernst, um seine nächste Bemerkung als beiläufig abzutun. „Das passiert öfter, als du denkst, Sonnenschein.“
Ein seltsames Prickeln breitete sich von meinem Nacken über meinen ganzen Körper aus wie eine Gänsehaut. Das Seltsame daran war, dass es sich überhaupt nicht unangenehm anfühlte.
Ich hörte ein Rascheln am anderen Ende, dann ein Klopfen und das gedämpfte Geräusch einer sich öffnenden Tür. „Anruf für dich“, sagte Chris, aber seine Stimme klang nicht mehr so nah wie vorher. Weiteres Rascheln und dann ein Klatschen.
„Hallo?“, sagte Ethan gleich darauf. Ich fragte mich, ob Chris ihm das Telefon zugeworfen hatte.
„Übrigens, sie bedankt sich für den Latte!“, hörte ich Chris noch rufen, gefolgt von seinem Lachen und einer zuknallenden Tür.
„Hi, Ethan. Ich bin’s. Susan.“ Ich fühlte mich so verlegen, dass ich vor heißer Scham fast ein Loch in meinen Stuhl brannte.
„Hey, Susan“, antwortete er merklich überrascht. Dann herrschte Schweigen. Schließlich ein tiefer Atemzug – mein Atemzug – und dann hörte ich sein Schmunzeln. „Gern geschehen.“
Ich runzelte die Stirn, den Blick auf den Bücherstapel auf meinem Tisch gerichtet. „Wofür?“
„Für den Latte. Ich vermute mal, den hast du gestern bei Charlie’s bestellt, richtig?“
„Äh, nun. Ja.“ Charlie’s … Musste ich mich jetzt entschuldigen? Aber woher hätte ich wissen sollen, dass er einen Zwillingsbruder hat? Sie hatten mich ja schließlich beide nicht darüber aufgeklärt. Zum Geier, Ethan hätte lange vor mir ein Licht aufgehen sollen – bevor ich mich komplett zum Affen gemacht hatte. „Es ist ja wohl nicht meine Schuld, dass du einen Zwillingsbruder hast, Charlie Brown“, platzte es aus mir heraus, als ich von meinem Stuhl aufsprang. Ich ging zum Fenster und blickte auf die Straße.
„Ach, dann ist es also meine?“ Ethan lachte, dasselbe süße Lachen wie kurz zuvor sein Bruder. „Ich weiß ehrlich nicht, wie ich das hätte verhindern sollen.“
„Du hättest als Embryo versuchen können, was dagegen zu tun.“
„Wie meinen Bruder aus dem Bauch meiner Mutter zu kicken? Ja, das wäre vielleicht gar keine so schlechte Idee gewesen.“
„Du hättest es mir sagen können“, stöhnte ich ein wenig gelassener, aber auch trotziger, und wirbelte herum, um ins Zimmer zu blicken statt in die Sonne.
„Dazu gab es keinen Anlass. Das kommt mir gewöhnlich nicht als Erstes in den Sinn, wenn ich mich mit einem hübschen Mädchen unterhalte.“
Er hielt mich für hübsch? Ich kniff die Augen zusammen und unterdrückte ein albernes, kleines Freudenquieken. Meine Finger umklammerten das Telefon so fest, es grenzte an ein Wunder, dass ich es nicht zerdrückte.
„Susan? Bist du noch dran?“
„Äh, ja. Ja, natürlich.“ Verflixt, er hatte zweifellos das Grinsen in meiner Stimme gehört. Es brachte ihn zum Lachen.
„Hey, ich habe mir gedacht …“, fing er an und alles, was ich hörte, war: Geh mit mir aus, geh mit mir aus! „Vielleicht könnten wir ja ein wenig zusammen abhängen. Heute. Sozusagen als Wiedergutmachung, dass du mich gestern versetzt hast.“ In seiner Stimme lag ein neckender Ton.
Als ich nicht antwortete – weil ich offen gestanden von seiner Einladung ganz benebelt war – redete er weiter. „Ich kann zu dir rüberkommen, wenn du möchtest. Oder du kommst zu mir.“
Es war fünf Uhr, meine Mom war zu Hause und mein Dad kam in ungefähr zehn Minuten von der Arbeit. Sie hatten noch keine Gelegenheit gehabt, ihren Streit von gestern zu beenden, und das drohende Unheil einer Fortsetzung würde für den Rest des Abends wie eine Leuchtreklame über unserem Haus hängen. Ich wollte nicht, dass Ethan herkam und meiner alltäglichen kleinen Horrorshow ausgesetzt wurde.
„Ich glaube, ich komme lieber zur dir. Meine Eltern haben hier heute noch was vor.“ Ich lief durchs Zimmer, stolperte vor lauter Aufregung über meine eigenen Füße und knallte gegen die Tür. Mein Handy fiel klappernd zu Boden. Oh Schreck!
Mich selbst stumm und wild verfluchend hob ich das Handy auf und hörte Ethans Lachen. „Susan? Hast du dir gerade wehgetan?“
Ich rieb mir den Kopf und stöhnte. „Nur ein bisschen.“ Vielleicht sollte ich eine Beruhigungstablette nehmen, bevor ich zu ihm ging. Auf keinen Fall wollte ich wie ein Tollpatsch durch sein Haus stolpern, wenn wir das verpasste erste Date nachholten. „Gib mir deine Adresse und ich bin in zehn Minuten da.“
Ich notierte mir seine Adresse auf der Rückseite von Harry Potter und der Gefangene von Askaban, das Erste, was mir zwischen meine mega-nervösen Finger kam. Nachdem ich das Gespräch beendet hatte, ging ich nach unten und bat meine Mom um ihr Auto.
„Wo willst du hin?“
„Zu Ethan.“
„Sei um sieben zu Hause“, sagte sie mit streng erhobenem Finger. Die Autoschlüssel baumelten dabei von ihrer Hand. „Und denk dieses Mal dran, pünktlich zu sein!“ Das sagte sie nur, weil ich vor Aufregung rot wie eine Tomate war.
„Versprochen.“ Ich malte ein Kreuz über mein Herz und verließ nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel das Haus. Mein Haar war zu einem perfekten Pferdeschwanz gebunden, meine Haut hatte einen gesunden rosigen Teint, womöglich etwas zu rosig, zwischen meinen Zähnen hingen keine Essensreste und auf meinem hellgrünen T-Shirt waren keine Flecken jedweder Art zu sehen. Ethan, ich komme!
Tief durchatmend sank ich hinter das Lenkrad von Moms Auto und würgte den Motor zwei Mal ab, bevor ich endlich meinen zittrigen Fuß dazu brachte, das Gas richtig zu dosieren, damit ich losfahren konnte. Jetzt wusste ich, warum die Mädchen alle Panikattacken vor ihrem ersten Date bekamen. Nicht, dass das wirklich ein Date war. Ich hing nur mit Ethan ab. Allein. Bei ihm zu Hause. Ein Kichern entwich mir, was egal war, da ich sowieso allein im Auto saß, wo keiner es mitbekam und mich für verrückt halten konnte. Und zum Geier, ich würde ganz bestimmt von einem Date sprechen, wenn ich später Sam anrief, um ihr alles haarklein zu berichten.
Obwohl klein und zwischen ebenso kleine Bungalows gequetscht, war Ethans Haus leicht zu finden. Es gab keine Auffahrt oder Garage für die Autos, aber der weiße Bungalow mit der dunkelbraunen Tür und den Fenstern im gleichen Holz sah gemütlich und einladend aus. Und irgendwo im Haus lief meine CD. Ein Grinsen stahl sich auf meine Lippen. Ich klingelte und wartete, während die erste Zeile von Ode an die Freude erklang und meine Musik übertönte.
Gleich darauf öffnete sich die Tür und ich stand einer Frau gegenüber, die ein Tempo vorlegte wie die Feuerwehr. Sie steckte die Arme durch die Ärmel eines beigefarbenen Trenchcoats, schlüpfte in ein Paar schwarze Pumps, warf das bernsteinblonde Haar über die Schulter, lächelte mich an und schob sich ihre Handtasche über die Schulter – und das alles auf einmal.
„Hallo, Schätzchen, was kann ich für dich tun?“
Äh, sah ich etwa aus wie eine Pfadfinderin, die Kekse verkaufen wollte? Ich schluckte und mir wurde wieder ganz kribbelig in der Magengrube. „Ich bin Susan. Ist Ethan zu Hause?“ Sofort hätte ich mich für die Frage am liebsten geohrfeigt. Er hörte meine Musik und hatte mich vor kaum fünfzehn Minuten eingeladen, rüberzukommen. Natürlich war er zu Hause. Aber mal ehrlich, was hätte ich sonst sagen sollen?
„Ja, er ist in seinem Zimmer.“ Sie rief über die Schulter: „Ethan!“ Dann schnappte sie sich einen Schal, der angesichts des lauen Lüftchens heute ein wenig zu viel des Guten war. Aber er vervollständigte ihr Outfit perfekt und ich dachte unwillkürlich, dass sie sicher zu einem wichtigen Meeting aufbrach. Mit einer freundlichen Entschuldigung ließ sie mich in der Tür stehen. Offensichtlich war sie spät dran.
Die Tür schlug hinter mir zu, aber von Ethan war keine Spur. In den nächsten zwanzig Sekunden hörte ich nur die Musik aus seinem Zimmer dröhnen. Ich kam mir ein wenig blöd vor, so ganz allein gelassen in diesem Haus und überlegte, ob ich noch mal klingeln sollte. Schließlich aber schüttelte ich den Kopf und ging der Musik nach in den hinteren Teil des Hauses.
Zwei Türen grenzten dort aneinander. Eine führte bestimmt in Chris’ Zimmer. Ein Frösteln glitt mir beim Gedanken an unser Telefongespräch über den Rücken. Zum Glück ließ sich leicht feststellen, aus welchem Zimmer die Musik drang, also klopfte ich an diese Tür, und als niemand antwortete, ging ich zögernd hinein. Kein Wunder, dass Ethan mich nicht hörte. Die dröhnenden Boxen bliesen mir jeden Gedanken aus dem Kopf, sobald ich die Tür geöffnet hatte.
Ethan lungerte bequem in einem Sessel vor dem großen Fenster, das wohl den Garten überblickte, und las in einem Schulbuch für Spanisch, was leicht daran zu erkennen war, dass sich auf dem Umschlag ein dunkelhäutiger Junge mit Sombrero befand und über ihm in einer Sprechblase ¡Hola! stand. Sofort bildete sich Sabber in meinem Mundwinkel, weil – Herrgott im Himmel – er trug eine Jogginghose! Nur eine Jogginghose – ohne Shirt, ohne Schuhe, ohne Socken. Er wusste doch, dass ich kommen würde. Machte er das also mit Absicht, um mein Herz gleich bei der Begrüßung ein bisschen höher schlagen zu lassen? Falls ja, war ihm das zweifellos gelungen.
Ethan hörte mein heiseres „Hi“ nicht und bemerkte auch nicht, dass ich im Zimmer stand. Ich musste die Tür noch mal aufmachen und zuknallen, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Als er dann endlich aufsah, krümmte ein Lächeln seine Lippen. Allerdings nicht sofort. Es dauerte zwei Sekunden, bis sich sein skeptisches Stirnrunzeln aufgelöst hatte. Offenbar war das Textbuch richtig spannend und ich hatte ihn wohl gerade beim Büffeln für die Winterprüfungen gestört.
Ethan sagte nichts. Es hätte sowieso keinen Unterschied gemacht. Er hatte die Lautstärke bis zum Anschlag aufgedreht, als wolle er ein paar Aliens ein Signal schicken. Er stand auf, legte das Buch weg und drehte die Musik leiser. Dabei fixierte er mich die ganze Zeit mit seinem Blick.
Kaum, dass wir unsere eigenen Stimmen wieder hören konnten, redete ich wie ein Wasserfall los, weil meine Nerven beim Anblick seines muskulösen Oberkörpers vor Bewunderung blank lagen. „Äh, hi. Tut mir leid, dass ich so hereinplatze. Na ja …“ Ich zuckte mit den Schultern. „Deine Mom hat mich reingelassen.“
Ethan kam auf mich zu – langsam, wie ich hinzufügen möchte, wie ein Tiger auf Beutefang. Er sagte immer noch nichts, also plapperte ich weiter, um mich davon abzuhalten, auf seine nackte Brust zu starren, auf der zwei Silberketten glitzerten. „Sie hat dich gerufen, aber bei dem Höllenlärm hast du sie wohl nicht gehört und …“
Ethan schnitt mir das Wort mitten im Satz ab, indem er mir eine Hand über den Mund legte. Dann hielt er seinen Zeigefinger in einer sexy Schh-Geste vor seine Lippen. Der Drang, seine Handfläche zu küssen, erwachte plötzlich in mir, aber ich widerstand ihm tapfer. Wie hätte mich das auch wirken lassen? Wie eine spitze Schnepfe?
Seine blauen Augen musterten mich eine Weile und ich schluckte schwer. Was hatte er vor? Vielleicht schlief sein Bruder ja nebenan gerade und er wollte ihn nicht aufwecken.
Ja, klar, weil das bei der lauten Musik, die eben noch das ganze Haus zum Beben gebracht hatte, auch superwahrscheinlich war.
Mein abgehackter Atem befeuchtete seine Hand, als ich versuchte, eine Ohnmacht zu vermeiden, indem ich tief durch die Nase Luft einsog.
Ethan nahm die Hand von meinem Mund. „Ich hätte nicht erwartet, dass du so schnell auf mein Angebot anspringst … vor allem nicht, nachdem du mich vorhin am Telefon so gnadenlos abserviert hast.“
Was zum Henker – meine Brauen formten ein verdutztes V, dann dämmerte es mir und ich stöhnte auf. „Neeein! Chris?“
„Der selbige.“ Sein selbstgefälliges Grinsen piekste wie tausend kleine Nadeln auf meinen Nerven herum.
„Warum hörst du meine CD?“
„Das könnte ich dir sagen, aber die Antwort würde dir wahrscheinlich nicht gefallen.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen forderte ich ihn zu einer Erklärung auf.
Chris beugte sich näher und flüsterte mir ins Ohr: „Weil du sie mir gegeben hast.“
Der Kerl brachte mich auf die Palme. Am liebsten hätte ich mich mit einem Hammer selbst bewusstlos geschlagen, aber das war sicher keine so gute Idee, wenn man bedachte, dass ich in Don Juans Zimmer stand. Chris war nicht nur so gut gebaut wie der berühmt-berüchtigte Verführer, er hatte auch eindeutig das passend große Ego dazu.
„Die hättest du, wie meine Telefonnummer, an Ethan weitergeben sollen“, knurrte ich, meine Wut mühsam bezähmend. „Warum hast du das nicht getan?“
Er wickelte sich eine Haarsträhne von mir um den Finger und streifte dabei leicht meine Wange. „Ich wollte wissen, auf welche Musik du stehst, damit ich sie auflegen kann, wenn wir auf meinem Bett rumknutschen.“
Ich schlug seine Hand weg. „Falls du noch nicht selbst drauf gekommen bist, lass mich eins klarstellen: Du hast eine Schraube locker. Und wichtiger noch: Es gilt allgemein als miese Nummer, jemanden anzubaggern, der eigentlich deinen Bruder besuchen will.“
„Warum? Glaubst du, er wird sauer werden?“ Seine Mundwinkel hoben sich. „Glaubst du, dass er an dir interessiert ist?“
Tja, er hatte mich zu sich eingeladen und das, was wir gestern verpasst hatten, ein Date genannt. Also ja, ich hatte schon den Eindruck, dass er interessiert war, weshalb ich ja auch herkam. Laut sagte ich jedoch nur: „Wieso? Glaubst du das nicht?“
Chris rieb sich mit Daumen und Zeigefinger übers Kinn. „Ich glaube, ich werde ein Auge drauf haben, wie sich die Sache zwischen euch beiden entwickelt. Könnte amüsant werden.“ Er zwinkerte mir zu, packte mich an den Schultern und drehte mich zur Tür. Als er sich hinter mir vorbeugte, um sie zu öffnen, erhaschte ich einen Hauch von Minze, was sein Atem viel zu nahe an meinem Gesicht sein musste. Er steuerte mich in den Flur, dann nach links, öffnete die andere Tür und schob mich sanft hindurch.
Die exakte Kopie des Jungen hinter mir, nur in verwaschenem grünen T-Shirt und Jeans, saß auf dem Bett in der Ecke und spielte Videogames. Als er aufsah und mich entdeckte, breitete sich sofort ein Lächeln in seinem Gesicht aus.
„Du hast Besuch“, sagte Chris spöttisch und ließ mich los. Er verschwand ohne ein weiteres Wort, lachte sich jedoch auf dem Weg aus dem Zimmer schlapp.
Ich schloss die Tür hinter ihm, ließ mich dagegen fallen und stieß einen langen Atemzug aus, während ich mir im Kopf eine Notiz machte, nie wieder das hinterste Zimmer im Flur zu betreten.
„Hey, bist du okay?“, fragte Ethan und stieß sich vom Bett hoch. Mit verdutztem Blick kam er zu mir herüber.
„Mm-hmm.“ Ich nickte, fühlte mich aber immer noch zu wackelig auf den Beinen, um meinen sicheren Platz an der Tür zu verlassen. Jetzt würde ich mir bei jedem Zusammentreffen mit Ethan automatisch Chris’ nackte Brustmuskeln an ihm vorstellen. Verfluchter Mist.
„Du siehst ein wenig atemlos aus.“
„Ich bin ins falsche Zimmer gegangen.“
„Warum?“
„Warum denkst du wohl?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sandte ihm einen vernichtenden Blick zu, weil er schließlich dran schuld war, dass ich in die Irre geleitet worden war. „Er hört meine CD. Warum hast du ihm mein Volbeat-Album gegeben?“
Lachend parkte Ethan seinen Hintern auf der Ecke des Schreibtischs und hielt sich an der Kante fest. „Das war ich nicht. Du hast sie ihm gegeben.“
Grundgütiger, konnten die beiden endlich aufhören, mir das unter die Nase zu reiben? „Aber nur, damit er sie dir gibt.“
„Tja, er wollte sie nicht rausrücken. Aber zumindest spielt er sie laut genug, damit ich die Songs auch hören kann.“
Wie aufs Stichwort stellte Chris die Musik in seinem Zimmer wieder lauter. Wir konnten sie durch die Wand hören. „Siehst du?“ Ethan schenkte mir ein strahlendes, einseitiges Lächeln, in das ich mich sofort verliebte.
„Also, äh, was willst du jetzt machen?“, fragte ich, um mich von dem Zusammentreffen mit Chris abzulenken, und steckte meine Finger schulterzuckend in meine engen Hosentaschen.
Daran hatte er wohl keinen Gedanken verschwendet, als er mich zu sich einlud, denn er schaute mich ratlos an. Nachdenklich verzog er den Mund zur Seite, aber es kam kein einziger Vorschlag raus.
Ich reckte den Hals und sah über seine Schulter zu dem Flachbildschirm am Fußende seines Bettes. „Was hast du gespielt?“
„FIFA. Kennst du das?“
„Machst du Witze? Mit Nick spiele ich das die ganze Zeit. Hast du Lust auf ein Match?“
Ethans Augen fingen an zu glänzen. „Klar. Mach’s dir gemütlich. Ich hole dir was zu trinken und …“ Er hielt inne und betrachtete mich forschend als sei ich ein Objekt einer ihm unbekannten Spezies. „… Popcorn?“
Als ich ihn in den weiten Baggy-Jeans und dem verwaschenen T-Shirt so stehen sah, dachte ich automatisch an Erdnüsse, weil er mich wieder mal an die Peanuts erinnerte, aber das sagte ich nicht laut. „Popcorn klingt toll.“
Während er weg war, machte ich es mir auf dem Bett gemütlich, nahm den Controller und spielte Ethans Spiel weiter. Wenig später kam er mit einer Flasche Mineralwasser, Limo und einer Schüssel mit warmem, gebutterten Popcorn zurück. Mmh, lecker. Ich rutschte zur Seite, damit er sich neben mich aufs Bett setzen konnte. Ethan stellte die Schüssel zwischen uns und griff sich einen zweiten Controller.
„Glaub bloß nicht, dass du auch nur die geringste Chance gegen mich hast, nur weil ich ein Mädchen bin“, stichelte ich und wählte meine Mannschaft – die Niederlande.
Ethan wählte die Ukraine. „Das würde ich nie wagen.“ Er stieß mich scherzhaft mit dem Ellbogen in die Seite.
Wir spielten eine ganze Weile. Es war einer der spaßigsten Nachmittage, die ich seit Langem erlebt hatte. Außerdem hatte ich nicht übertrieben, als ich behauptete, ich sei gut in diesem Spiel. Ethan ging mit fliegenden Fahnen unter! Leider war er ein schlechter Verlierer und versuchte zu schummeln, indem er mir in den Controller griff.
„Hey, hör auf damit!“ Ich warf ihm eine Popcornflocke ins Gesicht.
Charlie Brown fasste das als Aufforderung zum Kampf auf, griff sich eine Handvoll aus der Schüssel und rief: „Iss das, Miller!“
Die Lippen fest aufeinander pressend, versuchte ich ihm auszuweichen und mich weg zu schlängeln, aber er hielt mich fest. Bei unserem Gerangel fiel sein Controller zu Boden, meiner rutschte zwischen Bett und Wand, und die Schüssel fiel um und berieselte uns mit Popcorn. Ich lachte so heftig, dass ich den Mund öffnete, der mir sofort mit Popcorn gestopft wurde.
„Geh weg!“, rief ich und kaute, was Ethan mir zwischen die Zähne geschoben hatte.
„Nur wenn du zugibst, dass ich gewonnen habe.“
„Ein lausiger Verlierer bist du! Ich habe dieses Spiel fair und …“, ich grinste, „… mühelos gewonnen.“ Das war ein Fehler. Ethan kniff die Lippen zusammen. Er wackelte mit den Augenbrauen und ich wusste, er führte Übles im Schilde. Seine Finger fanden meine empfindlichsten Stellen an der Seite und er kitzelte mich, bis ich halb erstickte vor Lachen und Popcornkrümel hustete.
Ich drückte hart gegen seine Brust, aber was für mich hart war, war für ihn zuckerwatteweich, denn er wich keinen Millimeter zurück.
„Gib auf!“, forderte er und grinste siegessicher auf mich herab. Er lag halb auf mir und pinnte meine Handgelenke mit festem Griff auf die Matratze.
„Niemals!“, schrie ich, obwohl es eigentlich kein Schrei war. Eher ein heiseres Wispern, ausgelöst durch das heiße Prickeln, das seine Nähe mir verursachte. Wir verharrten reglos. Sein Gesicht war mir so nahe, dass unsere Nasenspitzen aneinander reiben würden, wenn einer von uns auch nur die kleinste Bewegung machte. Seine Augen waren genau so weit aufgerissen wie meine, doch einen Wimpernschlag später heftete sich sein Blick auf meinen Mund. Ich weiß nicht warum, aber das veranlasste mich, mir über die Lippen zu lecken. Er tat dasselbe.
Mein Herz schaltete von leichtem Jogging- in den Turbomodus. Ach, du liebe Güte, jetzt war es soweit. Ethan würde mir meinen ersten Kuss geben. Wie um alles in der Welt konnte das bei unserem ersten Date schon passieren? Und es war ja eigentlich nicht einmal ein Date, wir hatten nur Wii gespielt.
Plötzlich kamen mir Chris’ Worte wieder in den Sinn. Ich wollte wissen, auf welche Musik du stehst, damit ich sie auflegen kann, wenn wir auf meinem Bett rumknutschen. Es war verrückt, dass ich ausgerechnet jetzt daran denken musste, aber die Erinnerung an sein anzügliches Grinsen bei diesen Worten ließ sich nicht abschütteln.
Und hier lag ich nun und war kurz davor, mit seinem Bruder zu knutschen. Ein spöttisches „Ätschbätsch“ tönte in meinem Kopf – und das hatte Chris wegen seiner unverschämten Arroganz auch verdient. Schüchtern schluckend konzentrierte ich mich wieder auf Ethan.
Der Augenblick für meinen ersten Kuss hätte nicht perfekter sein können. Obwohl ich mir wünschte, dass Ethan nicht auf mir liegen würde, weil er dadurch unweigerlich bemerkte, wie heftig mein Atem ging und wie aufgeregt ich war. Sofort würde er wissen, dass ich noch nie geküsst worden bin, und irgendwie machte mich das noch nervöser. Ich sah dieses perfekte Abbild eines Gottes über mir an und alles, woran ich denken konnte, war, wie viele Mädchen er bereits geküsst haben musste. Nette Mädchen, gute Küsserinnen, keine Mauerblümchen wie mich. Was, wenn ich die totale Niete im Küssen war?
Ethans Blick wanderte zurück zu meinen Augen. Auch sein Atem kam stoßweise und eine winzige Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. Er zögerte.
Außerhalb meiner Bücherwelt kannte ich mich mit Küssen zwar nicht sonderlich gut aus, aber selbst ich wusste, dass man dabei aufgeregt aussehen sollte, hingerissen, verliebt, meinetwegen auch entspannt – aber ganz bestimmt nicht skeptisch. „Es tut mir …“, fing er an, aber er konnte den Satz nicht beenden, denn ein lautes Klopfen ertönte und im selben Augenblick ging die Tür auf.
„Hey, E. T.“, sagte Chris beiläufig, während er ins Zimmer kam. „Ich bestell uns Pizza …“ Er brach abrupt ab, blieb stehen und gaffte uns an. Seine Kinnlade fiel ihm förmlich auf die Brust. „Nicht dein Ernst.“
Hallo? Fiel ihm denn nicht noch was Dämlicheres ein, als das?
Mit einem Räuspern setzte sich Ethan auf, ließ meine Handgelenke los und fuhr sich nervös durchs Haar. Auch ich rappelte mich auf.
Aus rätselhaftem Grund hörte Chris nicht auf, uns anzustarren, als hätte er gerade seinen Bruder dabei erwischt, wie er mit einem Affen rumknutschte. Was zum Teufel war sein Problem? Er war derjenige, der noch vor kaum einer Stunde damit geprahlt hatte, dass ich die nächste Eroberung auf seiner Liste sein würde.
Da er den perfekten Moment nun schon mal so erfolgreich ruiniert hatte, könnte er sich jetzt bitte wieder verziehen? Aber dann erinnerte ich mich an Ethans Zögern und fragte mich, wobei uns sein Bruder tatsächlich unterbrochen hatte.
„Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass du noch hier bist“, stammelte Chris zutiefst erschüttert, was absolut keinen Sinn ergab. Vor allem, weil er jetzt gar nicht mehr so arrogant und selbstsicher klang, wie vorhin in seinem Zimmer. Ohne ein weiteres Wort machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand in den Flur.
Ethan stand auf und rief ihm nach: „Pizza klingt gut.“ Dann wandte er sich wieder mir zu und musste sich tatsächlich zu einem Lächeln zwingen. „Willst du mit uns essen?“
Ist es das, was normalerweise passiert, wenn ein Kuss schief geht? Dass sich hinterher alle so seltsam benehmen? „Äh …“ Ich schaute auf meine Uhr und sprang wie von der Tarantel gebissen vom Bett auf. Es war sechs Minuten vor sieben. „Verflixt!“
„Was ist?“
„Ich muss los.“
Ethan folgte mir aus dem Zimmer zur Haustür. „Also, wenn es wegen …“, fing er mit bekümmerter Stimme an.
„Nein, das ist es nicht“, beruhigte ich ihn schnell, bemüht, uns beide vor einem peinlichen Augenblick zu bewahren. Trotzdem fragte sich ein Teil von mir, ob er mich wohl doch noch geküsst hätte, wenn ich ein wenig länger geblieben wäre. „Meine Mom braucht das Auto und ich muss in genau drei Minuten zu Hause sein.“
„Oh.“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen und seine Wangen färbten sich rosa.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich diejenige sein sollte, die errötete, nachdem was eben in seinem Zimmer passiert war, aber im Moment war ich zu angespannt dafür, um lange darüber nachzudenken. „Hey, das war nett“, sprudelte ich hervor. „Das sollten wir bei Gelegenheit wiederholen.“ Wii spielen, natürlich, nicht auf dem Bett herumalbern, ohne dass es zu etwas führt. Verflucht, ich hätte mir am liebsten für diesen Gedanken eine Ohrfeige verpasst. „Ich meine … ich …“
Chris steckte den Kopf aus einem anderen Zimmer heraus, vielleicht der Küche. Er hatte einen skeptischen Ausdruck im Gesicht, der mir ganz und gar nicht gefiel. Konnte er seine Nase da bitte raushalten?
„Ach, egal. Ich nehme an, wir sehen uns“, sagte ich zu Ethan und zog die Tür auf, aber ich bekam keine Gelegenheit zu gehen. Er packte mich am Handgelenk und drehte mich zu sich um.
„Das war echt nett heute, Susan. Willst du morgen vielleicht wiederkommen?“ Sein Lächeln war unsicher. „Oder wir könnten auch die Limo trinken gehen, von der wir gesprochen haben.“
Nach einem halbherzigen Seufzen nickte ich. „Okay. Ruf mich nach der Schule an.“ Ich lächelte und entzog ihm meine Hand. Als ich mich daran erinnerte, wer mich heute tatsächlich angerufen hatte, durchbohrte ich Chris mit finsterem Blick. „Gib ihm meine Nummer, Dumpfbacke!“
Chris, der seinen Bruder immer noch anstarrte, als hätte er nicht mehr alle Latten am Zaun, nickte wortlos, und ich ging.
Kapitel 5
AM DONNERSTAGMORGEN BERICHTETE ich Liza und Simone von meinem Besuch bei Ethan – Sam hatte ich am vergangenen Abend am Telefon bereits alles erzählt. Die Begegnung mit Chris verschwieg ich jedoch. Das war zu peinlich. Meine Freundinnen drückten mir die Hände und quietschten wie Meerschweinchen vor Freude, dass sich zwischen Ethan und mir etwas anzubahnen schien. In Anbetracht des flauschigen Gefühls in meinem Magen, das dieser Gedanke in mir auslöste, konnte ich ihnen den begeisterten Ausbruch nicht einmal verübeln. Ich hätte mir nur gewünscht, dass sie ein wenig diskreter gewesen wären – und leiser. Die halbe Schule musterte uns schon mit neugierigen Blicken.
Zum Glück kamen ihre Jungs und zogen die Mädchen mit sich, sodass ich mich auf den Weg zu meiner Naturwissenschaftsklasse machen konnte. Lange blieb ich jedoch nicht allein. Als ich um die Ecke bog, legte mir jemand locker den Arm um die Schultern und sagte: „Hey, Sue.“
Ich blickte auf und sah ihn ein Paar atemberaubend blaue Augen, die auf mich gerichtet waren. Unwillkürlich malte sich mir ein Lächeln auf die Lippen, aber gleich darauf erstarrte ich argwöhnisch. Vorsicht, Susan, mahnte ich mich selbst. Stirnrunzelnd fragte ich: „Und du bist …?“
„Chris.“ Er verdrehte die Augen, als sei es für ihn völlig unverständlich, dass ich ihn und seinen Bruder nicht auseinanderhalten konnte. Aber zum Teufel, wie sollte ich auch? Das war ungefähr so, als müsste ich ein Zuckerkorn vom anderen unterscheiden. Unmöglich! Bis einer der beiden den Mund aufmacht, dachte ich grimmig.
„Was willst du, Chris?“, fauchte ich und gab mir keine Mühe meine Enttäuschung darüber zu verbergen, dass ich neben dem falschen Jungen den Gang entlang lief. Und um ihm meine Abneigung noch deutlicher zu machen, entfernte ich mit spitzen Fingern seine Hand von meinen Schultern.
Sofort baute sich Chris vor mir auf und versperrte mir den Weg. Die Arme verschränkt, lehnte er sich gegen einen Spind. In der schwarzen Lederjacke und der zerrissenen Jeans sah er ganz und gar nicht aus wie eine Figur von den Peanuts. Vielleicht konnte ich das ja zukünftig als Anhaltspunkt nehmen.
„Ich bin neugierig“, sagte er und hob einen Mundwinkel zu einem Lächeln, das mich für eine Sekunde sprachlos machte.
Oh-oh. Ein einziger Blick in sein Gesicht, und ich wusste, dieser Junge bedeutete Ärger. Ich bekam ein flaues Gefühl in der Magengrube, etwa zu vergleichen mit dem Gefühl, wenn man einem Rottweiler gegenübersteht und genau weiß, dass er bei der nächsten Bewegung zubeißen wird. Vielleicht rief die schwarze Lederjacke dieses Bild hervor, aber vor allem lag es wohl an seiner unverschämten Einladung, mit ihm auf seinem Bett zu knutschen.
Er legte den Kopf schräg und hielt meinen Blick fest. „Hat Ethan dich gestern geküsst?“
„Hör auf zu sabbern, Spike“, stieß ich hervor, nachdem ich meine Stimmbänder endlich wieder in Gang gebracht hatte. „Was zwischen deinem Bruder und mir passiert, geht dich nichts an.“
Chris lachte. „Wusste ich’s doch. Er hat nicht den Mumm dazu.“
Was sollte das denn bitte heißen? Je länger ich in Chris’ Gesicht blickte, desto mehr ging er mir auf die Nerven; oder besser gesagt, das Prickeln, das er mit seinem Blick auslöste. Jedenfalls beschloss ich, nicht nachzuhaken, was seine rätselhafte Bemerkung bedeuten sollte, und schob mich an ihm vorbei, wobei ich mit meiner Schulter gegen seine rempelte.
„Hab einen schönen Tag, kleine Sue“, schnurrte er mir hinterher und ich war erneut versucht, ihm den Stinkefinger zu zeigen. Ach, warum eigentlich nicht? Mein Mittelfinger war das Letzte, was er von mir zu sehen bekam, ehe ich um die Ecke bog.
Unglücklicherweise sah auch meine Geschichtslehrerin Miss Hayes die Geste und zögerte keine Sekunde, mich dafür zum Nachsitzen zu verdonnern.
Dieser Vollpfosten Chris Donovan hatte mir eine Strafe eingebrockt?! Ich kochte vor Wut, als ich den Naturwissenschaftsraum betrat. Aber nicht nur der heiße Zorn rötete mein Gesicht, sondern auch die Scham, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben nachsitzen musste.
Ich erzählte weder Nick noch Sam davon, aber nach der Stunde war ich immer noch stinksauer. Vor der Klasse hakte ich mich bei Sam ein und eilte mit ihr den Korridor hinunter, in dem Versuch, Nick einen Moment abzuschütteln. „Ethans Bruder ist ein Idiot“, knurrte ich.
„Chris? Warum?“, fragte Sam.
„Weil er glaubt, dass Ethan nicht den Mumm hat, mich zu küssen.“ Und weil ich wegen ihm nachsitzen muss, verdammt noch mal!
Sams stufig geschnittenes Haar wippte um ihr Kinn, als sie mich von der Seite ansah. „Woher weißt du das?“
„Er hat mir vor dem Unterricht aufgelauert und mir diesen Mist erzählt – wegen gestern, als er mich und Ethan auf dem Bett erwischt hat.“
„Und du glaubst, dass er womöglich recht hat? Ich meine, dass sein Bruder keinen Mumm hat?“
Ich zog den Arm unter ihrem heraus, als wir uns an der Ecke für die nächste Stunde trennen mussten. „Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht, denn ich fänd’s wirklich schön, meinen ersten Kuss von Ethan zu bekommen. Er ist echt süß“, schwärmte ich. „Und supersexy und er bringt mich zum Lachen.“ Hoffentlich würde er sein Versprechen halten und sich nach der Schule mit mir treffen. Nun ja, nach der Schule und der Nachsitzstunde.
Mit hängenden Schultern und einem Knurren, das mir unwillkürlich aus der Kehle entwich, machte ich mich auf den Weg zur zweiten Stunde – Französisch mit Miss Lewis. Oh welche Freude. Ich knabberte an diesem Morgen doppelt so stark an meinen Nägeln wie sonst.
Vor der Mittagspause gab es keine weiteren Zwischenfälle mehr, was mir Zeit verschaffte, mich abzuregen und mein Schicksal zu akzeptieren. So schlimm war es schließlich auch nicht, oder? Vermutlich würde ich in der Extrastunde Alex Winter treffen. Er musste ständig nachsitzen, weil er entweder die Hausaufgaben nicht vorweisen konnte oder im Unterricht geplaudert hatte. Zumindest hatte ich das so über ihn gehört.
Gemeinsam mit den Mädchen ging ich in die Cafeteria. Vor der Essensausgabe hatte sich schon eine lange Schlange gebildet und es würde Ewigkeiten dauern, bis wir an die Reihe kamen. Zum Glück standen Nick, Tony und Ryan etwas weiter vorn an und boten uns an, unser Essen mitzubringen.
„Für dich Pizza und eine Kiwi wie immer?“, fragte Nick.
„Ja, aber bring mir bitte eine extra Kiwi mit“, bat ich ihn und folgte meinen Freundinnen zu dem langen Tisch am Fenster, der bei allen als der Fußballtisch bekannt war. In der Hoffnung, Ethan würde sich uns anschließen, weil er ja zurzeit meinen Platz in der Mannschaft übernommen hatte, suchte ich den Raum nach ihm ab und entdeckte ihn mit ein paar anderen älteren Jungs zwei Reihen hinter dem Naturwissenschaftsklubtisch. Auf dem Weg zu meinem Platz musste ich an ihm vorbei. Ich freute mich über sein Lächeln, als er mich entdeckte. Er griff nach meiner Hand und hielt mich fest.
„Gehen wir heute zu Charlie’s?“, fragte er und zwinkerte mir zu.
Ja, ich muss schon zugeben, ich schmolz auf der Stelle dahin. Das Seufzen, das mir entwich, war zwar nicht geplant, aber ich konnte es nicht mehr ungeschehen machen. „Um fünf?“
„Soll ich dich abholen?“
Eine Million Gedanken schossen mir gleichzeitig durch den Kopf und alle hatten damit zu tun, dass Ethan versehentlich mitten in einen weiteren Streit meiner Eltern platzen könnte. Das konnte ich auf gar keinen Fall riskieren! „Äh, warum treffen wir uns nicht einfach dort? Ich muss sowieso noch ein paar Dinge in der Stadt besorgen.“
„Cool. Bis dann. Und bitte, Susan …“ Als er meinen Namen in die Länge zog, schmolz ich gleich noch ein wenig mehr. „Lass mich nicht wieder sitzen.“
Unsere kurze Unterhaltung brachte ihm ein paar neugierige Blicke von seinen Freunden ein, aber niemand sagte etwas. Zumindest nicht, solange ich da war.
„Das werde ich nicht“, versprach ich lächelnd und ging zu meinen Freunden.
Nick hatte bereits einen Teller mit zwei Stück Pizza Hawaii an meinen üblichen Platz gestellt – Schinken und Ananas, mein Lieblingsbelag. „Wofür ist die extra Kiwi?“, fragte er, als er mir die beiden Früchte nacheinander über den Tisch zuwarf.
Heiße Schamesröte verbrannte mir das Gesicht. Ich senkte den Kopf und murmelte: „Die ist für später.“
„Was ist denn später?“
Da ich die Frage nicht einfach ignorieren konnte, antwortete ich nach kurzem Zögern so leise wie möglich. „Ich muss nachsitzen.“
„Du musst was?“
Ich schwöre, in diesem Moment starrten mich alle am Tisch mit weit aufgerissenen Augen an.
„Sehr subtil, Leute“, motzte ich, als ich sah, dass auch Schüler von den Nachbartischen die Köpfe in unsere Richtung drehten. Ich griff mir die Gabel auf meinem Teller und verteilte damit den Ananashaufen auf meiner Pizza. Dann biss ich ein Stück ab. „Miss Hayes hat mich dabei erwischt, wie ich mich von jemandem mit dem Mittelfinger verabschiedet habe, deshalb lässt sie mich nachsitzen. Keine große Sache“, sagte ich mit vollem Mund. „Alex muss jeden Tag länger dableiben.“
Alex Winter lachte. „Ja, aber doch nicht wegen obszöner Gesten.“
„Das sieht dir gar nicht ähnlich“, warf Liza ein. „Was ist denn passiert?“
Ich nahm einen Schluck aus meiner Spriteflasche. „Irgendsoein Arsch ist mir auf die Nerven gegangen. Ist doch egal.“
„Oho, welch ungepflegte Ausdrucksweise, Miller“, rief Tony und schubste mich scherzhaft mit der Schulter an. „Jetzt fehlt dir nur noch ein anrüchiges Tattoo an der richtigen Stelle und schon hast du den Ruf als das neue Bad Girl der Schule.“
Alle brachen bei der Vorstellung in lautes Gelächter aus. Nur Ryan schmunzelte lediglich und warf mir einen belustigten Blick zu, als hätte er da so eine Ahnung, wer der erwähnte Arsch war. Ich tat ihm nicht den Gefallen, seinen Verdacht zu bestätigen oder abzustreiten, sondern mampfte weiter meine Pizza. Danach schälte ich eine der Kiwis und schnitt sie in Scheiben. Die andere steckte ich in meinen Rucksack.
Simone und Liza gaben jedoch im Sportunterricht keine Ruhe, bis ich ihnen schließlich verriet, dass mich Ethans dämlicher Bruder in Schwierigkeiten gebracht hatte. Loyale Freundinnen, die sie waren … kugelten sie sich vor Lachen.
In der letzten Stunde hatte ich Journalismus. Liza ebenfalls. Wir setzten uns auf unsere Plätze in der ersten Reihe und sahen zu, wie die anderen Schüler in den Raum strömten. Ted kam als Letzter. Er sagte kurz „Hallo“ und ließ sich auf den Stuhl hinter mir fallen.
„Hey“, grüßte ich zurück, drehte mich um und wippte mit dem Stuhl zurück, sodass ich mit einem Arm auf seinem Tisch lehnte. „Arbeitest du heute bei Charlie’s?“
„Ja, jede Woche, Montag bis Freitag.“
„Cool. Ethan und ich schauen heute Nachmittag mal rein.“
„Was?“ Er schenkte mir ein spöttisches Lächeln. „Ihr taucht dieses Mal beide auf?“
„Ach, halt die Klappe.“ Ich streckte ihm die Zunge raus und drehte mich nach vorn, weil gerade der Lehrer hereinkam.
Die Stunde ging schnell vorüber, und während die meisten meiner Freunde nach Hause gingen, trottete ich durch den Korridor zu Mr. Ellenburghs Klassenraum. Er saß an seinem Tisch, um ein Auge auf Regelbrecher wie mich zu werfen.
„Hi, Mr. Ellenburgh.“ Ich winkte ihm zu.
Er schaute von seiner Zeitung auf und machte große Augen. „Susan! Was um alles in der Welt machst du denn hier?“
Ich zog eine Grimasse. „Ich vermute mal, ich gehöre hier her. Wenn Sie in Ihre Liste schauen, werden Sie sicher irgendwo meinen Namen finden.“
Mr. Ellenburgh fuhr mit dem Finger auf einem Blatt entlang, das sich unter seiner Zeitung befand, und sagte gleich darauf verdutzt: „Tatsächlich. Susan Miller. Hier steht’s.“ Sein Blick glitt zu mir zurück. „Aus welchem Grund lässt dich Miss Hayes denn nachsitzen?“
Aus dem falschen, das war klar. Ich war mir ziemlich sicher, wenn ich Mr. Ellenburgh sagen würde, dass alles nur ein Missverständnis war und ich nichts Unrechtes getan hätte, würde er mich gehen lassen. Aber ich war keine Lügnerin. „Sie hat mich in einem schwachen Moment erwischt. Keine Sorge, Mr. Ellenburgh“ – oh, mein allerliebster Lieblingslehrer von allen – „Ich habe nicht vor, das zur Gewohnheit werden zu lassen.“
„Schön. Dann setz dich bitte, Susan.“ Während er eine Geste machte, dass ich mir einen Platz suchen sollte, spiegelte sich in seinen Augen Mitgefühl für meine missliche Lage und ich mochte ihn noch ein kleines bisschen mehr deswegen.
Ich schlurfte den Gang zwischen den Tischreihen entlang, und senkte dabei meinen Blick, damit mich niemand bemerkte oder erkannte. Natürlich war das eine dämliche Hoffnung, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, diesen Gangstern in die Augen zu blicken. Dabei würde ich mir vorkommen, wie deren Komplizin.
Ganz hinten sank ich auf einen Stuhl und zog mein Mathebuch heraus, um Hausaufgaben zu machen. Um mich herum fingen die Jungs und Mädchen an zu plaudern und amüsierten sich offensichtlich königlich.
Mr. Ellenburgh wies sie nicht zurecht und forderte sie auch nicht auf, den Mund zu halten. Offenbar kümmerte sich zu dieser Tageszeit niemand mehr wirklich darum, was die Schüler taten. Wer hätte gedacht, dass es beim Nachsitzen nicht um Strafe und Disziplin ging, sondern das Ganze sogar Spaß machen konnte? Ich verstand allmählich, warum sich Alex nie darüber beschwerte. Schade, dass er heute nicht auch hier war, aber so hatte ich wenigstens Zeit, um meine Hausaufgaben zu machen.
Ich nahm gerade die zweite Matheaufgabe in Angriff, als ich etwas Oranges aus dem Augenwinkel wahrnahm. Gleich darauf rollte ein Basketball langsam über meinen Tisch – von rechts nach links. Das kam mir so unwirklich vor, dass ich nicht einmal versuchte, den Ball zu stoppen. Stattdessen schrie ich vor Überraschung leise auf, als er auf den Boden plumpste und ein paar Mal neben mir auf und ab hüpfte. Mein Stift war mir entglitten und ebenfalls über die Tischkante gerollt.
Ich bückte mich, um beides aufzuheben – Stift und Ball. Als ich mich wieder aufrichtete, stand ein Donovan-Zwilling vor mir. Dem frechen Grinsen nach zu urteilen war es der berüchtigte Herzensbrecher und weniger liebenswerte der beiden.
„Hey, Sue.“ Chris nahm mir den Ball ab. „Noch nie einen Basketball gesehen?“ Auf seinem weißen Muskelshirt prangte der leuchtend grüne Schriftzug Grover Beach Dunkin’ Sharks und das Bild eines Hais, der einen Basketball mit den Zähnen zerreißt. Ich vermutete daraufhin einfach mal wild, dass er zum Basketballteam der Schule gehörte.
Vielleicht war er auch einer der Jungs, die gelegentlich ein wenig rowdyhaft drauf waren und während der Pausen Basketball in den Korridoren spielten, was ein absolutes No-Go war.
Die Gangster auf der anderen Seite des Klassenzimmers – eindeutig seine Freunde – grinsten bei seiner Bemerkung und bestätigten meine Vermutung.
„Mein Name ist Susan“, berichtigte ich knurrend. Dass er mich Sue – oder noch schlimmer – Sonnenschein nannte, ging mir allmählich erheblich auf den Keks.
Sein Lachen, das darauf folgte, war Beweis genug, dass ihn mein Name einen Scheißdreck interessierte. „Ich frage mich, ob mein Bruder wohl weiß, dass seine Freundin nachsitzen muss?“
„Wenn du es ihm sagst, erschieß ich dich.“ Mit einem mordlustigen Blick ließ ich ihn wissen, dass ich meine Drohung bitterernst meinte. „Und ich bin nicht seine Freundin“, fügte ich schnaubend hinzu.
„Ja, das weiß ich.“ Chris sagte das mit einem so seltsamen Tonfall, dass ich mich fragte, was er wohl tatsächlich damit meinte.
Ich beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken, und hoffte, dass er mich endlich in Ruhe lassen würde, wenn ich ihn ignorierte. Aber Chris ließ sich stattdessen auf den Platz neben mir fallen, kippte den Stuhl zurück und legte seine Füße auf den Tisch. Gekonnt ließ er den Ball auf einem Finger kreisen. „Also, was hat dich hier reingebracht?“
Da ich ihn offenbar nicht loswerden würde, legte ich den Stift auf den Tisch, drehte mich zu ihm und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du.“
„Ich? Wow.“ Chris fing den Ball mit beiden Händen. „Wie das?“
„Meine Geschichtslehrerin hat mich dabei gesehen, wie ich dir den Stinkefinger gezeigt habe.“
„Ja …“ Er runzelte die Stirn und setzte eine gespielt gekränkte Miene auf, obwohl er eindeutig Mühe hatte, sich das Lachen zu verkneifen. „Das war wirklich unhöflich.“ Obendrein wackelte er jetzt auch noch tadelnd mit dem Zeigefinger vor meiner Nase. „Wir müssen dringend an Ihren Manieren arbeiten, Miss Miller, falls Sie tatsächlich weiterhin mit meinen Bruder ausgehen.“ Er ließ den Basketball wieder auf dem Finger herumwirbeln, wobei sich sein muskelbepackter, makellos glatter Arm anspannte und sich sein Bizeps sichtbar wölbte. Unwillkürlich fragte ich mich, warum er die Lederjacke ausgezogen hatte. Die hätte mich vielleicht vom Sabbern abgehalten. Chris war eindeutig ein Schwachkopf, aber es bestand kein Zweifel daran, dass er ebenso appetitlich aussah wie Ethan. Gah!
„Da wir gerade davon sprechen“, fuhr er mit unschuldigem Blick fort, dem ich kein bisschen traute, „trefft ihr euch heute wieder?“
„Warum bist du so sehr am Privatleben deines Bruders interessiert? Hör auf, deine Nase in Sachen zu stecken, die dich nichts angehen. Vor allem, wenn es auch um mein Privatleben geht, denn ich werde dir einen Scheißdreck erzählen.“
„Oh, solch hässliche Worte aus einem so hübschen Mund. Jetzt verstehe ich, warum du nachsitzen musst, Sonnenschein. Ist bestimmt so ein Fußballerding, das mit der Flucherei, und so.“
Ich verstand nur Bahnhof und runzelte die Stirn, worauf er mit den Schultern zuckte. „Es hat mich überrascht, dass du beim Mittagessen mit den Bay Sharks am Tisch gesessen hast. Ich hätte gedacht, du gehörst zur Streber-Fraktion.“
„Wie kommst du denn darauf?“ Mir war zumute, als sei ich gegen eine Wand gelaufen. Aber dann ging mir ein Licht auf. „Oh, lass mich raten. Die Brille, richtig? Du glaubst wirklich, weil ich eine Brille trage, bin ich ein Streber?“
Chris summte ein nachdenkliches „Hmm“. „Das war mein Gedanke, ja.“
„Und Ethan hat dir nicht gesagt, dass ich in der Fußballmannschaft war – bin?“ Ich verdrehte die Augen über meinen eigenen Versprecher.
„Ethan erzählt mir neuerdings nicht mehr so viel.“
„Aus gutem Grund. Es geht dich nämlich nichts an.“
„Vielleicht hast du recht. Aber jetzt bin ich neugierig.“ Chris zog ein Gesicht, als hätte er ein bestimmtes Detail bisher völlig übersehen. „Warum geht er plötzlich ins Fußballtraining?“
„Wenn du’s unbedingt wissen musst. Er übernimmt eine Weile meinen Platz, weil ich mir das Knie verletzt habe.“
Er saugte die Unterlippen zwischen die Zähne und ich schwöre, wäre es Ethan gewesen, hätte ich nicht widerstehen können und mich ihm unverzüglich an den Hals geworfen. Aber da es sich um Chris handelte, beschloss ich, dass ich rein gar nichts bei seinem Anblick fühlte. Nicht einmal, als sich seine blauen Augen eine Spur verdunkelten und ein geheimnisvoller Blick hineintrat. „Ist das so?“, fragte er gedehnt.
„Ja, das ist so“, antwortete ich und imitierte spöttisch seinen schleppenden Tonfall. „Und zu deiner Information, nur weil jemand eine Brille trägt, ist er noch lange kein Streber. Ich brauche sie nur zum Lesen, nicht zum Spielen. Und jetzt mach dich bitte vom Acker und geh jemand anderem auf die Nerven. Ich habe noch Hausaufgaben zu erledigen.“ Ich machte eine scheuchende Geste mit der Hand.
Lachend stand er auf, den Ball unter dem Arm. „Gib mir Bescheid, wenn er dich geküsst hat. Ich würde wirklich gerne wissen, ob es dazu kommt.“
„Den Teufel werde ich tun. Und jetzt verschwinde.“
Chris warf den Ball einem seiner Freunde zu, der uns beobachtet haben musste, denn er war gefasst und fing ihn auf. Dann lehnte sich Chris über den Tisch und zog mir die Brille von der Nase. Tief blickte er mir in die Augen. „Mein Angebot für ein Date in einer Woche steht noch.“
Er musste echt ein Rad ab haben. Eine andere Erklärung gab es nicht. Ich griff nach meiner Brille, aber er hielt sie außerhalb meiner Reichweite. „Gib sie mir zurück, Schwachkopf! Und ich werde niemals mit dir ausgehen“, fauchte ich. „Weder heute noch nächste Woche noch in einer Million Jahren.“
Einen unendlich langen Moment betrachtete mich Chris aufmerksam. Dann zeichnete sich allmählich ein verschmitztes Lächeln auf seinen Lippen ab. „Du wirst mit mir ausgehen, Sonnenschein. Und ich zeige dir, wie schnell die Hölle gefrieren kann, wenn ich etwas will.“
Eigentlich hätte er schon allein dafür, dass er mich auf ein „Etwas“ reduzierte, einen Tritt ans Schienbein verdient. Vielleicht lag es an seinem Lächeln, das sich so mühelos seinen Weg durch meine Schutzmauern grub, oder dem gefährlich verführerischen Schnurren in seiner Stimme, so dicht vor meinem Gesicht. Wer weiß? Jedenfalls war ich in diesem Augenblick wie zu Eis erstarrt und konnte mich, abgesehen von dem Zucken in meiner Kehle, als ich schwer schluckte, nicht rühren.
„Siehst du?“, sagte Chris neckend und legte die Brille vor mich auf den Tisch, wobei sein Blick wie Klebstoff an mir haftete. „Das Feuer verebbt schon zu einem zarten Glühen.“ Er stupste mit den Fingerknöcheln leicht gegen mein Kinn, richtete sich dann auf und ging fort, als hätte er sich nur einen Stift von mir ausgeliehen und nicht meinen ganzen Körper in sündiger Vorahnung zum Erbeben gebracht.
Mit einem Kopfschütteln und einer Ohrfeige, die ich mir in Gedanken verabreichte, brachte ich mich wieder zu Verstand. Ich wusste über Jungs wie ihn Bescheid – sie zogen sämtliche Blicke auf sich, wenn sie bloß durch die Korridore streiften, und verwandelten den Verstand eines Mädchens mit einem albernen Grübchenlächeln im Nu zu Matsch. Solche Jungs trugen ein Leuchtschild um den Hals und darauf stand in Großbuchstaben: ÄRGER. Aber nicht mit mir. Ich war nicht der nächste Name auf seiner Eroberungsliste und ich würde mir von ihm nicht so etwas Wichtiges wie meinen ersten Kuss versauen lassen, nur weil er mich als leichte Beute ansah.
Nachdem ich meine Würde wiedergefunden hatte, räusperte ich mich laut und rief: „Hey, Chris!“
Er verschränkte die Arme auf der Lehne des Stuhls, auf dem er rittlings neben seinen Freunden saß, und warf mir einen neugierigen, selbstsicheren Blick zu. Ich gab ihm nicht einmal Zeit genug, das Wort „Sonnenschein“ auch nur zu denken, und fuhr fort: „Es braucht schon ein wenig mehr als ein niedliches Lächeln, um bei mir zu punkten, und zum Glück ist dein Bruder im Gegensatz zu dir mit dem ganzen Paket ausgestattet.“ Ich schenkte ihm ein teuflisches Lächeln und hoffte, dass ich seinem übergroßen Ego mit dieser Bemerkung vor seinen Freunden eine ordentliche Schramme verpasst hatte. „Du willst die Hölle einfrieren? Nur zu, versuch es! Aber bei mir wirst du damit nicht weit kommen.“
Einen Augenblick lang sah mich Chris verblüfft an. Mein Zickengehabe hatte sein Interesse an mir sicherlich erlöschen lassen. Er wirkte wie jemand, der nur auf das Eine aus war: auf Mädchen, die leicht zu haben waren und mit denen er kurzzeitig seinen Spaß haben konnte, nicht mehr. Vor allem nicht, wenn dieses „Etwas“, wie er es genannt hatte, ernsthafte Anstrengungen erforderte. Richtig?
Falsch. Sein linker Mundwinkel wanderte so langsam nach oben, dass ein Schauer meinen ganzen Körper durchlief, bevor er mit diesem verwegenen Grinsen fertig war. Er blinzelte und fuhr sich mit der Zunge über die Innenseite seiner Unterlippe. Die ganze Klasse beobachtete uns inzwischen; ihre Blicke glitten zwischen ihm und mir hin und her.
Vor versammeltem Publikum, das ihn später zitieren konnte, sagte er: „Okay, kleine Sue. Ich nehme deine Herausforderung an.“
Kapitel 6
MIT DEM LÄUTEN der Schulglocke flitzte ich aus dem Klassenraum und lief schleunigst nach Hause, um mich für mein Date mit Ethan vorzubereiten. Dass ich die vergangene Stunde mit Chris in einem Raum eingesperrt gewesen war, hatte mich ziemlich hibbelig gemacht. Sein Grinsen, seine Stimme, vor allem aber seine anzügliche Ankündigung, mich zu seinem nächsten großen Fang zu machen, verfolgten mich immer noch. Natürlich hatte das alles nichts zu bedeuten; warum also bekam ich diesen Blödian nicht aus meinem Kopf?
Was mich jedoch weitaus mehr beunruhigte als sein aufgeblasenes, mega-elefantengroßes Riesenego, war seine Bemerkung, dass sein Bruder mich nicht küssen würde. Dachte er das wirklich? Heute war der dritte Tag in Folge, an dem Ethan mich gebeten hatte, Zeit mit ihm zu verbringen. Zumindest ein klitzekleiner Funken Interesse seinerseits musste da ja wohl vorhanden sein. Niemand erwartete, dass er mir gleich einen Antrag mitsamt Ring und allem Drum und Dran machte, aber ein Kuss sollte da eigentlich schon drin sein. Ich hatte genug Liebesromane gelesen, um zu spüren, dass zwischen uns etwas in der Luft lag.
Um die Sache ein wenig zu beschleunigen, beriet ich mich mit einer Expertin – meiner Freundin Simone. Sie kam sofort nach meinem Anruf angeflitzt und brezelte mich auf, wie ich es zuvor noch nie getan hatte.
„Geh duschen und föhn dir die Haare“, befahl sie. Sie war eindeutig in ihrem Element. „In der Zwischenzeit sehe ich mal nach, was dein Kleiderschrank so zu bieten hat.“ Sie war bereits damit beschäftigt, die Bügel mit meinen zumeist ungetragenen Kleidern zu durchforsten, als ich das Zimmer verließ. Bei meiner Rückkehr saß sie mit einem knallroten Kleid über den Beinen und einem strahlenden Megawattlächeln wie aus einem Disneyfilm im Gesicht auf meinem Bett.
„Du willst doch nicht wirklich, dass ich das da anziehe, oder?“, fragte ich mit skeptischem Blick.
„Willst du heute geküsst werden oder nicht?“ Das war ihre Standardantwort auf jeden Einwand, den ich an diesem Nachmittag vorbrachte, um jeglichen Protest meinerseits abzuwürgen, während sie mir Mascara auftrug, Lipgloss auf die Lippen schmierte und meine Locken mit einem Glätteisen bearbeitete. Als sie fertig war, flossen mir die Haare wie flüssiger Honig über die Schultern. Hut ab! Sie wusste wirklich, was sie tat. Mir gefiel mein neues Ich. Das Mädchen im Spiegel, das mir entgegenblickte, sah ein wenig älter aus und so sexy wie nie zuvor.
Jetzt war es an der Zeit, mein neues Ich in ein Kleid zu stecken, das ich seit der zehnten Klasse besaß und noch kein einziges Mal getragen hatte, weil mein ehemals fehlender Vorbau die Wirkung völlig ruiniert hätte. Abgesehen von den langen Ärmeln war das Kleid ziemlich kurz und zeigte verdammt viel Bein.
„Es sendet die richtigen Signale aus“, versicherte mir Simone, als ich mich zweifelnd im Spiegel betrachtete. „Vertrau mir! Ethan wird bei deinem Anblick der Sabber im Mund zusammenlaufen. Wenn du damit keinen Kuss bekommst, dann weiß ich auch nicht weiter.“
Ethan küssen … Es gab nichts, was ich mir im Augenblick sehnlicher wünschte.
Es war halb vier – Zeit zu gehen, wenn ich nicht zu spät kommen wollte. Unwillkürlich zappelig vor Aufregung schlüpfte ich in meine schwarzen Ballerinas, griff mir eine der siebzehn Handtaschen, die Simone zur Auswahl mitgebracht hatte, und lief nach unten.
Mom umarmte mich, als sie mich in meinem neuen Glanz sah. „Du siehst wunderschön aus, Schatz.“ Sie hielt mich auf Armeslänge von sich und fügte mit strenger Stimme hinzu: „Um acht bist du zu Hause. Morgen ist Schule.“
„Um zehn“, flehte ich. „Bitte!“
Nach einem tiefen Seufzen sagte sie: „Okay, um neun.“
„Oh, bitte, Mrs. M.“, eilte mir Simone zur Hilfe. „Es ist doch beinahe Wochenende. Halb zehn? Die beiden brauchen Zeit für einen Gutenachtkuss. Es ist immerhin Susans erster.“
Während Simones Gesicht mit der Hoffnung strahlte, dass meine Mutter nachgeben würde, brannte meines vor Verlegenheit. Wie konnte sie nur so etwas Privates wie meinen ersten Kuss vor meiner Mutter erwähnen? Allerdings funktionierte ihr Plan und Mom ließ mich lächelnd ziehen. „In Ordnung, halb zehn. Aber ich möchte nicht, dass du in der Dunkelheit allein nach Hause gehst. Sorg dafür, dass Ethan dich heimbringt.“
„Das wird er!“ Nickend schob ich Simone schnell aus der Tür, um meiner Mom keine Gelegenheit zu geben, ihre Meinung doch noch zu ändern. „Bis später.“
Vor ihrem Auto blieb Simone stehen. „Soll ich dich mitnehmen?“
„Nein, danke. Ich laufe. Meine Nerven müssen sich vor dem Treffen mit Ethan noch ein wenig abkühlen.“ Ich war nicht mehr so aufgeregt gewesen, seit mein Dad und ich uns in Disneyland für eine Umarmung von Mickey Mouse angestellt hatten. Damals war ich fünf. Und ein Kuss von Ethan würde so viel schöner sein, als nur von einer riesigen Maus in roten Shorts gedrückt zu werden.
Den Blick auf die kleinen Risse im Beton gerichtet, schlenderte ich die Straße entlang und war so tief in meine Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekam, wie sich mir plötzlich jemand anschloss – bis Ethan meinen Namen sagte. Erschrocken ruckte ich den Kopf nach oben. Gleich darauf fluchte ich leise und versuchte mir die Zerrung im Nacken weg zu reiben.
Ethan zog mitfühlend die Brauen zusammen. „’Tschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich war mir nur nicht sicher, ob das wirklich du bist.“
„Was meinst du denn damit?“
Er betrachtete mich eingehend von Kopf bis Fuß. „Du siehst anders aus.“ Aus seiner Stimme ließ sich nicht heraushören, ob das gut oder schlecht war. Unsicherheit überrollte mich wie eine Herde Antilopen auf der Flucht und ich hatte keine große Lust, die Antwort herauszufinden.
„Wo hast du dein Auto geparkt?“ Ja, ich weiß, sehr cleverer und unauffälliger Themenwechsel.
„Ähm, ich bin nicht hergefahren.“
„Du bist gelaufen?“ Das mussten mindestens zwei Meilen oder mehr sein. „Ist dein Auto kaputt?“
„Nein.“ Er lachte leise und nun rieb sich auch er über den Nacken, aber bestimmt nicht, weil er eine Zerrung hatte. Mit einem Mal wirkte er verlegen. „Ich bin heute Nachmittag ein wenig nervös geworden, also bin ich gelaufen, um die Zeit totzuschlagen.“
Lächelnd drückte ich Simones Handtasche an meine Brust. „Du warst nervös?“
Ethan nickte und schob die Hände in die Taschen seiner schwarzen Jeans. „Ich …“ Er brach so plötzlich ab, wie jemand, der merkt, dass er sich mit der völlig falschen Person unterhält. Mich nicht aus den Augen lassend, nahm er zwei tiefe Atemzüge, die dem Anschein nach von einem rasenden Herzschlag begleitet wurden. Stand er etwa unter Schock?
„Ich war mir nicht sicher, ob du kommst oder mich wieder versetzt. Ich sitze nicht gern allein an der Bar“, sagte er mit beherrschter Stimme, den Blick auf die Füße gesenkt.
Das war definitiv nicht das, was er ursprünglich hatte sagen wollen. Falten krochen mir über die Stirn, aber nur kurz. Wenn ich jetzt weiter nachhakte, würde das nur den Anfang unseres Dates ruinieren und das wollte ich nicht. Vermutlich wäre ich auch im Erdboden versunken, wenn man mich versetzt hätte, also pustete ich mir ein paar verirrte Strähnen aus der Stirn, die sich vom Glätten statisch aufgeladen hatten, und sagte bloß: „Dann ist es ja gut, dass du heute nicht allein bist.“
Inzwischen hatten wir das Café erreicht und Ethan ging mir voran hinein. Ich nutzte die Gelegenheit, um mein Spiegelbild in der Glastür zu überprüfen. Ein paar Haare am Kopf standen zu Berge, so als hätte Simone mir statt des Glätteisens einen Luftballon über den Kopf gerieben. Ich leckte mir blitzschnell über die Finger und strich sie glatt.
Verwundert, was mich aufhielt, drehte sich Ethan um und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich ließ die Hände nach unten sinken und schenkte ihm ein unschuldiges Grinsen.
Wir setzten uns an einen runden Tisch für zwei in der Nähe der Bar. Ted winkte mir zu und begrüßte Ethan mit einem Nicken. Weil unter der Woche nie viel los war, stand Ted nicht nur hinter der Bar, sondern bediente auch an den Tischen, was Tony Mitchell an den Wochenenden übernahm. Charlie, der Eigentümer des Cafés, war nirgendwo in Sicht. Da er sich hundertprozentig auf sein Personal verlassen konnte, nahm er sich in letzter Zeit immer öfter mal einen Nachmittag frei.
Ted kam lächelnd hinter der Bar hervor, ein Geschirrtuch lässig über die Schulter geworfen. „Heute mit Begleitung?“, zog er Ethan auf.
Einen Herzschlag lang sah Ethan mich an. Sein Gesicht lief in einem niedlichen Rosaton an und er senkte den Blick auf das Zuckerpäckchen, mit dem er spielte, seit wir uns gesetzt hatten. „Ja, offenbar sind alle Missverständnisse beseitigt“, antwortete er mit einer seltsam leisen Stimme.
Ted fixierte ihn eine stumme Sekunde lang und meinte schließlich: „Gut für dich.“ Als nächstes drehte er sich zu mir, und sofort fiel mir auf, dass sein Lächeln verschwunden war. Natürlich bemühte er sich augenblicklich darum, es wieder in Position zu bringen. „Also, was darf’s sein? Einen Haselnuss deluxe für dich?“
„Mm-hm.“ Ich nickte. Aus lauter Vorfreude auf den Caffè Latte lief mir bereits das Wasser im Mund zusammen.
„Und für dich?“, wandte sich Ted nun Ethan zu.
„Ich glaub, ich nehme einen Cappuccino. Mit Schlagsahne, kein Milchschaum, bitte.“
Ted krümmte die Augenbrauen, als ob diese Bestellung für ihn besonders interessant sei. Warum, war mir nicht klar.
Sobald wir wieder allein waren, lehnte Ethan sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und setzte ein spitzbübisches Grinsen auf. „Also, raus mit der Sprache. Wieso musstest du nachsitzen?“
Heiliger Strohsack! Dagegen sahen selbst meine auffällig unauffälligen Themenwechsel blass aus. Ich knirschte mit den Zähnen. „Ich bring deinen Bruder um.“
„Weil er es mir gesagt hat?“ Ethan lachte. „Er war nicht der Erste. Alex und Tony haben es beim Fußballtraining erwähnt. Sie wollten mir den Grund aber nicht verraten.“
Die Liste mit den Leuten, mit denen ich morgen früh ein Hühnchen rupfen würde, hatte sich gerade um zwei Namen verlängert. Ethans Blick meidend zuckte ich mit den Schultern. „Nicht der Rede wert.“
„Du weißt, dass du mich damit nur noch neugieriger machst“, zog er mich auf. „Und wenn du nichts sagst, muss ich mir wohl irgendeinen lustigen Scheiß über dich ausdenken.“
„Ach ja? Und was?“
„Na ja, womöglich hast du dein Oberteil vor deinem heißen Lehrer in der Klasse gelüftet oder die Wände am Gang mit Graffitis beschmiert.“
Ich lachte schallend und schlug ihm auf die Schulter. „Du weißt aber schon, dass du einen Knall hast, oder?“
„Es liegt ganz in deiner Hand.“
„Na schön, dann erzähle ich dir eben die ganze Geschichte. Eine meiner Lehrerinnen hat mich dabei erwischt, wie ich deinem Bruder heute Morgen den Stinkefinger gezeigt habe.“
Mit einem Mal verschwand Ethans amüsierter Blick. „Warum hast du das denn getan?“
„Er ist meiner Meinung nach ein bisschen zu sehr daran interessiert, was wir beide zusammen machen“, antwortete ich und versuchte beiläufig zu klingen, damit die Stimmung nicht kippte.
Ethan rieb sich mit dem Zeigefinger übers Kinn. „Ach, ist er das?“
„Du musst dir keine Sorgen machen. Ich habe ihm schon gesagt, dass ich ihm einen Scheißdreck erzählen werde.“ Irgendwie klang das selbst in meinen Ohren seltsam, also fügte ich schnell hinzu: „Und überhaupt, was gibt es da zu erzählen? Ich meine, wir sind Freunde, das ist alles, nicht wahr?“
Vielleicht würde sich das an diesem Abend allerdings ändern. Schlagartig schoss meine Hoffnung nach oben und kleine, flauschige Bällchen aus zittriger Aufregung flitzten mir durch den ganzen Körper.
„Klar.“ Ethan lehnte sich zurück, damit Ted die Kaffeetassen auf den Tisch stellen konnte. „Danke“, murmelte er.
Ich bedankte mich ebenfalls, aber Ted sah nur Ethan an und nickte.
Ich löffelte etwas Schaum auf, dann kniff ich Augen und Lippen zusammen und rubbelte mir die Nase, weil die statisch aufgeladenen Haare mich schon wieder kitzelten. Ethan griff über den Tisch und überraschte mich damit, dass er mir eine Strähne hinters Ohr steckte. Irgendwie war diese Berührung jedoch nicht halb so sinnlich wie gestern Abend, als Chris dasselbe getan hatte.
Ethan war demnach wohl ein praktisch denkender Mensch, kein Verführer wie sein Bruder. Umso besser. Chris besaß den Charme eines Stinktiers und … Zum Teufel noch mal, nicht einmal denken sollte ich an ihn – schon gar nicht ausgerechnet jetzt. Was stimmte denn bloß nicht mit mir?
Ich schüttelte den Schauer ab, der sich bei der Erinnerung an Chris’ perfekt geformten Oberkörper über meinen Rücken geschlichen hatte, und verankerte mich selbst in der Gegenwart, indem ich mich an Ethans freundlichem Blick festhielt. So seidig, wie mein Haar durch das Glätten geworden war, blieb es nicht lange hinter meinem Ohr, aber diesmal ignorierte ich einfach die Fransen, die mir wieder übers rechte Auge fielen.
„Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“, wollte Ethan wissen.
„Meine Freundin hat sie mir geglättet.“ Ich verdrehte die Augen. „Sie meinte, damit sehe ich gut für ein Date aus.“
„Mir gefällt es, wie du es sonst trägst“, sagte er mit entschuldigender Stimme.
Dem Himmel sei Dank, dachte ich, weil mir die kitzeligen Strähnen, unabhängig davon ob ich gut aussehen wollte oder nicht, allmählich auf die Nerven gingen. Mit erleichtertem Seufzen strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und band sie mir am Hinterkopf mit einem Zopfband aus meiner Handtasche zum Pferdeschwanz. Sofort fielen neunzig Prozent der Anspannung, die sich am Nachmittag in mir aufgestaut hatte, von mir ab und plötzlich bekam ich wieder Luft. „Ah, das fühlt sich gleich viel besser an.“ Sehr viel mehr nach mir selbst.
„Aber mir gefällt die Vorstellung, dass du diesen Aufwand für mich betrieben hast“, sagte Ethan spielerisch.
„Es war ein Experiment und es ist schief gegangen, also tun wir doch so, als sei es nie passiert“, neckte ich zurück und schüttete mir Zucker in den Caffè Latte.
Ethan spielte mit und stellte den Kragen in perfekter Elvis-Presley-Imitation nach oben. Er hob die Augenbrauen und verzog den Mund zu einem einseitigen Lächeln. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst.“
Habe ich schon erwähnt, wie sehr ich diesen Jungen für sein natürliches, unkompliziertes Wesen mag? Nie hätte ich gedacht, dass mir jemand mit solchen kleinen Gesten ein so wohliges Gefühl vermitteln konnte. Ich fing allmählich an zu glauben, dass wir nicht nur seelenverwandt, sondern sogar Zwillingsseelen waren. Warum um alles in der Welt war ich überhaupt so nervös gewesen?
Bald schon schwenkte das Gespräch wieder auf unsere Lieblingsthemen: Musik und Bücher. Die meiste Zeit unterhielten wir uns darüber, wie toll New Line Cinema Herr der Ringe adaptiert hatte und wie episch die Filmmusik war. Wir sprachen auch über Harry Potter und Sherlock Holmes, die wir beide liebten, aber ich konnte Ethan einfach nicht für Twilight erwärmen. Das war für mich okay, aber unsere Unterhaltung kam dadurch ins Stocken und ein peinliches Schweigen entstand.
Notiz an mich selbst: Nie wieder glitzernde Vampire erwähnen.
Ich fuhr mir mit dem Zeigefinger über meine Unterlippe und knabberte am Nagel, während ich einen Blick auf den Nebentisch warf, an dem ein Mädchen ein Handygame spielte. „Weißt du, was ich jetzt gerne tun würde?“, murmelte ich.
Ethan lachte. „Hoffentlich Mario Kart spielen, denn daran habe ich gerade gedacht.“
Mein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Dann los!“
Ethan stand auf und zog seine Geldbörse aus der Hose. Er warf ein paar Dollar für unsere Getränke plus Trinkgeld auf den Tisch und bot mir seinen Arm. Fröhlich hakte ich mich bei ihm ein.
„Zu dir oder zu mir?“, fragte er.
Zu mir kam wegen der Zankereien meiner Eltern nicht infrage, aber dieses Mal hatte ich wenigstens eine gute Ausrede. „Ich habe keine Wii.“
„Dann also zu mir. Wenn wir Glück haben …“, er warf einen Blick auf die Uhr, „… kommen wir gerade rechtzeitig zum Abendessen. Hast du Hunger? Ich habe immer Hunger.“ Er machte eine zerknirschte Miene.
Nachdem die Nervosität verschwunden war, fiel mir auf, dass ich tatsächlich Hunger hatte, und lächelte. „Solange es keinen Spinat und keine Leber gibt.“
Ein sichtlicher Schauder durchzuckte Ethan. „Gott bewahre.“
Obwohl es zwei Meilen bis zu seinem Haus waren, kamen wir für meinen Geschmack viel zu schnell dort an. Kein einziges Mal hatte er meine Hand auf seinem Arm losgelassen und ich genoss seine Nähe. Sein Körper, so warm und fest neben meinem, gab mir das Gefühl, in meinem eigenen persönlichen Paradies zu sein.
Sobald er die Haustür aufgeschlossen und mich reingelassen hatte, rief er: „Mom, wir haben einen Gast zum Abendessen. Ist das okay?“
Mrs. Donovan kam aus der Küche und brachte einen würzigen Geruch mit sich. „Natürlich“, sagte sie und gab mir begeistert die Hand. „Entschuldigung, das letzte Mal war ich ziemlich in Eile. Ich bin Beverly.“
„Das ist Susan“, stellte Ethan mich vor, bevor ich es tun konnte, daher sagte ich nur: „Freut mich, Sie kennenzulernen.“
„Komm mit.“ Ethan zog mich hinter sich her. „Lass uns noch ein Rennen fahren, bis das Essen fertig ist.“
Ich folgte ihm durch das Haus, doch bevor wir sein Zimmer erreichten, ging die Tür am Ende des Ganges auf und zu meiner großen Überraschung trat Lauren, das schwarzhaarige Supermodel, heraus. Natürlich war Chris gleich hinter ihr und seine Finger waren mit ihren verschränkt.
Seine Haare standen ihm in ungezähmtem Chaos zu Berge und sein Hemd war schief zugeknöpft. Offensichtlich war er beim Anziehen abgelenkt gewesen. Idiot! Ging’s vielleicht noch ein bisschen offensichtlicher! Der Kerl war so widerlich. Und mit so einer Nummer wollte er mich rumkriegen? Ich verdrehte die Augen. Dann schoss mir jedoch ein anderes Bild durch den Kopf. Meine Hände in diesen strubbeligen Chaoshaaren, während er mich leidenschaftlich küsste. Quatsch, nicht er, sondern Ethan … während Ethan mich leidenschaftlich küsste! Eine seltsame Hitze loderte bei dieser Vorstellung in mir auf und plötzlich hatte ich Schwierigkeiten zu atmen.
Wie benebelt blieb ich im Flur stehen, obwohl Ethan in sein Zimmer weiterlief, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, seinen Bruder oder dessen Freundin zu begrüßen. Ich hingegen war unfähig, meinen Blick von Chris abzuwenden, als er hinter Lauren an mir vorbeiging, wofür ich mir am liebsten selbst einen kräftigen Tritt verpasst hätte, damit ich aufwachte.
Chris entging natürlich nicht, dass ich ihn angaffte, und er zwinkerte mir zu. Meine Knie wurden weich wie Wackelpudding, aber im selben Augenblick wurde mir auch mein Fehler in aller Deutlichkeit klar. Blitzschnell lief ich Ethan hinterher und schlug die Tür ein wenig zu fest hinter mir zu.
Ethan saß bereits auf dem Bett, einen Controller in Form eines Lenkrads in der Hand, und streckte mir einen zweiten entgegen. Mario Kart. Richtig! Ich pflanzte mich neben ihn, aber ganz gleich, wie viel Spaß es auch machte und wie sehr wir beide lachten, während er mich beim Rennen in die Knie zwang, das Bild von meinen Händen in Chris’ – nein, nein, in Ethans! – Haaren verfolgte mich. Lieber Himmel, früher oder später würde mich diese Zwillingssache in den Wahnsinn treiben.
Ethan hatte mich gerade zum vierten Mal in Folge geschlagen, als es an der Tür klopfte und Chris von der anderen Seite rief: „Fütterungszeit!“ Wir unterbrachen das Spiel und gingen zu ihm und Beverly in die Küche, die zugleich als Esszimmer fungierte. Ein runder Kirschholztisch stand auf einer Seite. Ich weiß nicht genau warum, aber als mir klar wurde, dass Chris Lauren vorhin wohl zur Tür gebracht hatte, um sich zu verabschieden, fühlte ich mich erleichtert. Es wäre mir peinlich gewesen, seinem Mädchen der Woche gegenüberzusitzen, nachdem er mich heute so unverschämt angebaggert hatte.
Ich hielt ihm zugute, dass er vor seiner Familie den unschuldigen Sohn und netten Bruder spielte. Er verlor kein einziges Wort darüber, dass er mich zu seiner langen, berüchtigten Liste hinzufügen wollte, was ich zu schätzen wusste. Ich hätte das Essen mit seinem normalen Selbst wohl nicht durchgestanden. Ein Schauer überflog mich. Vielleicht mochte er Lauren ja wirklich und hatte unsere Challenge bereits vergessen.
Ich machte mich selbst nützlich und deckte den Tisch mit den Tellern und dem Besteck, das Beverly auf der Kochinsel bereitgelegt hatte. Es war für vier. Niemand machte Anstalten, noch einen fünften Stuhl zu holen und auch ein fünftes Gedeck sah ich nicht. Verwundert wandte ich mich an Ethan, der eine Schüssel mit Kartoffeln auf den Tisch stellte. „Kommt dein Vater nicht zum Essen?“
Ethan lachte verbittert auf. Er gab sich keine Mühe, ebenso leise zu sprechen wie ich, als er mir eine Erklärung abgab. „Mein Vater lebt in L.A. mit seiner ehemaligen Sekretärin. Er kommt schon seit fast sechs Jahren nicht mehr zum Essen.“
„Oh“, brachte ich hervor und wurde rot.
„Schon gut“, beschwichtigte er mich. „Setz dich.“
Ich sank auf einen Stuhl und wollte gerade nach dem Glas mit Wasser neben meinem Teller greifen, als Chris um den Tisch herumkam und meine Hand ergriff. Wortlos zog er mich hoch, schob mich einen Sitz nach links weiter und setzte sich auf meinen freigewordenen Platz. Okay, jeder Haushalt hat seine eigenen Regeln und Gewohnheiten, dachte ich und verzog das Gesicht als ich Ethan anblickte, der sich rechts von Chris mir gegenüber hingesetzt hatte.
Er schüttelte lächelnd den Kopf, wodurch meine Beklommenheit verschwand.
Beverly teilte gebratenen Fisch und gebuttertes Baguette aus. Als sie sich links neben mir niedergelassen hatte, fingen wir an zu essen. Die Jungen erzählten derweil ihrer Mutter von ihrem Tag. So lief das also bei einer normalen Familie beim gemeinsamen Essen ab. Es war unglaublich entspannend, ihnen einfach zuzuhören und mich einmal nicht mit Streitereien und mörderischen Blicken über den Tisch hinweg abgeben zu müssen. Grundgütiger, es war so lange nicht mehr friedlich bei mir zu Hause zugegangen, dass ich schon ganz vergessen hatte, wie das war.
Natürlich kam irgendwann der Moment, als mich Beverly einem Verhör unterzog, aber auf nette Art. Sie war sehr daran interessiert, wann und wo ich ihren Sohn kennengelernt hatte, und seltsamerweise auch, in welcher Art von Haus ich lebte. Es war eine Herausforderung für sich, unser zweigeschossiges Haus zu beschreiben, damit sie eine bildhafte Vorstellung davon bekam.
„Nimm es ihr nicht übel“, sagte Ethan, als ich mit dem Baujahr des Hauses ans Ende meiner Weisheit gelangte. Er hielt mir den Brotkorb hin. „Sie fragt jeden so aus. Mom ist Immobilienmaklerin. Ständig auf der Jagd nach Häusern, die sie verkaufen kann.“
„Wow, das ist ja ein cooler Job“, sagte ich. „Es muss fantastisch sein, so viele Häuser von innen zu sehen.“
„Es ist der beste Job der Welt. Ich liebe Häuser“, schwärmte Beverly.
„Ich auch.“ Vor allem ruhige, aber das sagte ich nicht laut.
Wir plauderten während des ganzen Essens. Es kam mir so vor, als sei ich schon immer Teil dieser netten Familie gewesen – ein weiteres Zeichen dafür, dass Ethan und ich füreinander bestimmt waren. Und wenn Chris sich weiterhin so vorbildlich benahm, könnte ich mich vielleicht sogar daran gewöhnen, dass er der Bruder meines zukünftigen Freundes war.
Als eine Standuhr irgendwo im Haus acht Uhr schlug, stand Beverly auf und klatschte in die Hände. „In Ordnung, Jungs. Das Geschirr. Spielt es euch aus.“
Was war denn das für eine rätselhafte Ankündigung? Offensichtlich wussten die Zwillinge jedoch genau Bescheid, was sie meinte. „Ach, komm schon, Mom. Ich habe einen Gast“, beschwerte sich Ethan.
„Ja, genau“, kam ihm Chris zu Hilfe und schenkte mir ein spöttisches Grinsen. „Sie kann den Abwasch erledigen.“
„Die Freundin deines Bruders wird ganz bestimmt nicht eure Arbeit machen“, wies ihn Beverly mit ausgestrecktem Finger zurecht.
Mir stockte der Atem bei der Bemerkung. Als ich ihr verstohlen einen Blick zuwarf, stellte ich aus dem Augenwinkel fest, dass Ethan dasselbe tat. Wir schauten einander an und ich schluckte. Ethans Wangen färbten sich in einem ganz bezaubernden Rotton. „Mom, sie ist nicht meine Freundin“, murmelte er.
„Siehst du? Sie ist nicht seine Freundin.“ Chris stand auf. „Also kann sie auch das Geschirr abwaschen.“ Er versuchte, aus dem Raum zu schlüpfen, aber Beverly packte ihn am Kragen seines schwarzen Hemds, das inzwischen korrekt zugeknöpft war, und zog ihn lachend zurück.
„Keine Chance, Freundchen. Erst die Arbeit.“
„Okay, okay! Ich mach’s ja“, gab er schmunzelnd auf. Er fing an, die Teller auf dem Tisch zu stapeln. Als er sich meinen griff und mir dabei zuzwinkerte, erkannte ich, dass er mich die ganze Zeit nur hatte aufziehen wollen. Und das war okay. Nett, sogar. Was war nur aus dem Vollpfosten geworden, den ich von der Schule kannte? Verstaute er seine unerträglichen Außenweltmanieren im Schrank, sobald er nach Hause kam?
Chris trug das Geschirr zum Spülbecken und rief über die Schulter: „Nachtisch in zwanzig Minuten!“
Das war das Stichwort für Ethan, um aufzustehen, und ich folgte ihm unverzüglich. Er schleifte mich wieder in sein Zimmer für eine weitere Runde Mario Kart.
„Was hat deine Mom gemeint, als sie sagte, ihr sollt es euch ausspielen?“, fragte ich, während ich mir einen Charakter für das Rennen aussuchte.
„Wir haben eine Abmachung. Wenn Chris und ich kochen, muss sie den Abwasch und das Aufräumen in der Küche übernehmen, und wenn sie kocht, muss das einer von uns tun. Normalerweise spielen wir im Garten eine Runde Basketball, um zu entscheiden, wer dran ist.“ Er grinste. „Der Verlierer hat Geschirrdienst.“
Das fand ich so niedlich, dass mein Herz für diese Familie ein wenig dahinschmolz. Aber noch etwas anderes erweckte meine Aufmerksamkeit. „Moment, mal. Hast du gerade gesagt, wenn du und Chris kochen?“
„Ja. Es macht mir Spaß. Uns beiden.“ Ethan wartete, dass die rote Ampel auf dem Bildschirm auf Grün schaltete, dann schossen wir beide los, und er fuhr fort: „Vor ein paar Jahren hatten wir mal den Plan, eines Tages ein Restaurant zu eröffnen und es die Zwillingsköche oder so ähnlich zu nennen.“
„Eine tolle Idee.“
Er nickte. „Ich würde das immer noch gern machen, aber ich glaube, Chris liegt inzwischen mehr an Basketball als am Kochen. Er will auf dem College spielen, vielleicht sogar Profi werden.“
Der traurige Ton in seiner Stimme legte sich so düster über uns wie dicke Nebelschwaden über San Francisco. „Aber du kannst das Restaurant ja auch allein eröffnen. Und dann nennst du es einfach Die fantastische Hälfte der Zwillingsköche“, schlug ich vor.
„Genau, und du könntest kommen und mein Essen testen.“
„Ich wäre jeden Abend da, das schwöre ich.“ Rasch zog ich ein Kreuz über meinem Herzen, bevor ich wieder das Lenkrad umfasste und versuchte, Ethan in diesem Rennen zu schlagen. Ich hatte nicht die geringste Chance. „Na ja, wenn dein Traum von einem Restaurant sich nicht erfüllt“, sagte ich, „kannst du immer noch erfolgreicher Rennfahrer werden.“
„Und mir den Namen Super Mario auf mein Gokart sprayen, oder wie?“ Er lachte.
Ich zuckte mit den Schultern und legte den Controller hin. Für einen Abend hatte ich genug Niederlagen eingesteckt. „Sagst du mir, wo die Toilette ist?“
„An der Küche vorbei, dann die zweite Tür rechts.“ Ethan zog die Beine an, damit ich vom Bett runterrutschen konnte, während er ein Solorennen startete.
Aus der Küche drang Musik. Als ich daran vorüberkam, warf ich einen verstohlenen Blick hinein. Statt kleiner schien der Geschirrberg in der letzten Viertelstunde darin eher noch gewachsen zu sein. Chris schüttete etwas, das aussah wie Joghurt, in vier Dessertschalen auf der Kücheninsel und sang dabei zu „Stay With Me“ von Sam Smith mit. Er bemerkte mich nicht. Sein Körper bewegte sich leicht im Rhythmus der Musik, so als klopfe er den Takt mit dem Fuß, während er sich Obst aus einer Schale hinter ihm schnappte und es zu schälen begann. Ich machte mich wieder auf die Suche nach dem Badezimmer.
Selbst dort konnte ich ihn singen hören. Vor Faszination bekam ich eine Gänsehaut. Ethan hatte recht; in der Küche hatten die Zwillinge eindeutig Spaß. Das kam mir total merkwürdig vor, weil ich sie mir so ganz anders vorgestellt hatte – vor allem Chris. Vielleicht hatte ich mich ja getäuscht und er war gar kein unerträglicher Schwachkopf? Die Behauptung, dass er mich verwirrte, war jedenfalls die Untertreibung des Jahrhunderts.
Auf dem Rückweg zu Ethans Zimmer verlangsamte ich meine Schritte, aber nur weil ich Chris’ Gesang noch ein wenig lauschen wollte. Vielleicht war das ein Fehler, denn als ich erneut in die Küche spähte, schaute er auf. Ohne mit dem Singen aufzuhören, krümmte er den Finger und winkte mich damit zu sich.
Warum ich der Einladung folgte, war mir ein Rätsel.
Sein schwarzes Hemd hing über der Lehne eines Küchenstuhls und das T-Shirt, das er nun trug, schmiegte sich eng an seinen athletischen Körper. Jeder Muskel zeichnete sich unter dem Stoff ab, während er das Obst klein schnitt. Auf den Dessertschalen stand jeweils ein Name. Ethan war auf die grüne gedruckt. Auf der blauen stand Christopher, wobei das opher mit einem Edding durchgestrichen und ian drüber geschrieben worden war. Die gelbe Schale war für Die beste Mom der Welt und ich war an diesem Abend offensichtlich Milch.
Als ich vor Chris auf der anderen Seite der Kücheninsel stehen blieb, sang er: „Oh, won’t you … stayyy with meee … ’cause you’re … aaall I need.“ Dabei dippte er eine halbe Pfirsichscheibe in die Creme in seiner Schüssel. Als er sie mir mit verführerischem Blick hinhielt, schüttelte ich den Kopf. Ich mochte Pfirsiche nicht.
Unbeeindruckt zuckte Chris mit den Schultern und biss die sahnige Spitze ab. Den Rest legte er zur Seite, um eine andere Frucht zu holen. Wie von selbst hoben sich meine Mundwinkel, als seine Hand über einer Kiwischeibe schwebte, was ihm nicht entging. In dem Wissen, dass er endlich meinen Schwachpunkt gefunden hatte, lächelte er. Er sang: „This ain’t love, it’s clear to see, but darling, stay with me“ und dippte dabei das Kiwistück in seine Schüssel. Dann hielt er es mir über die Kücheninsel hin.
Wegen der Creme konnte ich es ihm nicht aus der Hand nehmen, ohne mich dabei zu bekleckern. Aber das hatte er vermutlich eh nicht im Sinn. Wenn ich die Kiwi haben wollte, würde ich mich von ihm füttern lassen müssen. Mir wurde der Mund wässrig. Das war okay, denn hier ging es ja schließlich um Kiwi, mein Lieblingsobst. Aber warum mein Herz plötzlich galoppierte, war mir nicht ganz klar. Unsere Blicke trafen sich über seinem ausgestreckten Arm. Geduldig wartete er auf meinen nächsten Zug, der entweder eine ablehnende Bemerkung oder ein Biss in die Kiwi sein konnte.
In dem Moment wusste keiner von uns, wofür ich mich entscheiden würde. Mir fiel jedoch auf, dass er aufgehört hatte zu singen, obwohl der Song noch weiterlief.
In meinem Kopf begann eine stille Unterhaltung.
Das ist Kiwi. Du willst die Kiwi.
Aber das ist auch Chris. Ich will nicht, dass seine Finger meine Lippen berühren, nicht mal aus Versehen.
Vergiss seine Finger. Das ist Kiwi! Mit Vanillecreme.
Aber … es ist Chris.
Dann stell dir halt vor, es ist Ethan.
Oh hey, gute Idee.
Ich presste kurz die Lippen zusammen und beugte mich vor, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Ich schluckte, dann öffnete ich den Mund und in Chris’ Gesicht erschien ein winziges Lächeln. Er neigte das Kinn ein wenig, wodurch sein Blick noch intensiver wurde, während ich vorsichtig die Kiwi zwischen die Zähne nahm.
Ich dachte, ich sei für den Moment gewappnet, wenn meine Lippen unausweichlich seine Finger streifen würden, aber das war ich nicht. Ich weiß nicht, warum das so eine große Sache war, denn es dauerte nur einen winzigen Augenblick, aber trotzdem rauschte mir ein heißer Adrenalinstoß durch den Körper.
Noch verlegener machte mich, dass Chris keine Sekunde den Blick von mir nahm, während er die Hand zurückzog und sich die restliche Creme von Daumen und Zeigefinger leckte. Der Gedanke, dass meine Lippen eben erst diese Stellen berührt hatten, löste ein weiteres Prickeln aus.
Keine Sekunde länger hielt ich es in diesem Raum mit ihm aus, also wirbelte ich herum und verließ hastig die Küche. Chris’ Lachen folgte mir, dann fing er wieder an zu singen, wobei eindeutig ein belustigter Ton in seiner Stimme mitschwang.
Kapitel 7
FÜNF MINUTEN SPÄTER kamen die Donovans und ich wieder am Tisch zusammen. Chris stellte die Dessertschalen vor uns und setzte sich wieder rechts neben mich. Er machte auf cool, kein einziges Wort über die Kiwi vorhin. Eine Bemerkung darüber wäre im Beisein seines Bruders auch ziemlich unpassend gewesen. Aber dass er „Stay With Me“ vor sich hin pfiff, als er die Schale vor mir abstellte, kam mir trotzdem wie eine Frotzelei vor.
Meine Wangen glühten bei der Erinnerung daran, wie er mich dazu gebracht hatte, das Kiwistück zu nehmen … wie meine Lippen seine Finger streiften.
Weil ich so nervös gewesen war, hatte ich den Geschmack gar nicht richtig genießen können. Jetzt jedoch bemerkte ich, dass das Dessert nicht einfach nur aus Obstsalat mit Jogurt bestand, wie ich erwartet hatte. Tatsächlich hatte Chris eine total leckere Kokosnuss-Zitrone-Creme zubereitet. Und obwohl verschiedene Früchte in meiner Schüssel schwammen, konnte ich kein einziges Pfirsichstück entdecken.
Wie rücksichtsvoll von ihm. Ich hätte mir jedoch eher die Zunge abgebissen, als ihm das zu sagen.
Nach dem Dessert bot Ethan an, mich nach Hause zu fahren, und das keine Minute zu früh. Falls ich zu wieder zu spät kam, würde mir meine Mom mindestens eine Woche Hausarrest aufbrummen. Wir gingen zu seinem Auto und ich schmolz ein wenig dahin, als er mir die Tür öffnete, wie der letzte Gentleman von Grover Beach. Die Fahrt ging viel zu schnell zu Ende, aber das Gute an der Sache war, dass Ethan den Motor vor meinem Haus abstellte.
War er das jetzt? Der Moment, in dem er sich zu mir rüberbeugen und mich küssen würde? Mein Herz schlug so heftig wie ein Presslufthammer gegen meine Rippen.
Ethan drehte sich zu mir, ein halbseitiges Lächeln auf den Lippen, und mein Atem beschleunigte sich. Wenn ich so heftig weiterschnaufte, würde die Luft im Auto wohl in ein paar Minuten aufgebraucht sein. Mit zittrigen Knien drehte ich mich auf dem Sitz zu ihm um. „Danke für den schönen Abend“, sagte ich mit so fester Stimme, wie es mir möglich war.
„Mm, er war wirklich schön.“ Statt sich zu mir zu beugen, lehnte er den Kopf an die Nackenstütze. „Nicht zu fassen, wie schnell meine Mom dich ins Herz geschlossen hat“, fuhr er fort. Seine Stimme klang immer noch beiläufig, aber auch ein wenig zurückhaltend. Dann lachte er, ein herzerwärmendes Geräusch. „Chris und ich haben schon immer vermutet, dass sie sich insgeheim gewünscht hatte, einer von uns wäre ein Mädchen geworden.“
„Das kann nicht dein Ernst sein.“ Es kam als scherzendes Geplänkel heraus, aber innerlich fühlte es sich wie eine Beschwerde darüber an, dass er lieber plauderte, statt mich zu küssen.
„Doch, wirklich.“
Ja, das hatte ich befürchtet. Mein Herz wurde schwer, da mein lang ersehnter erster Kuss in immer weitere Ferne zu rücken schien. Was geschah hier gerade? Hatten wir nicht einen tollen Abend gehabt? Es war unser zweites offizielles Date – oder wie auch immer – und seit drei Minuten hätte ich im Haus sein sollen. Nicht, dass ich etwas überstürzen wollte, aber es hieß jetzt oder nie!
Die Sekunden verstrichen und nie schien der wahrscheinlichere Ausgang zu werden.
Ein finsterer Gedanke stahl sich mir in den Sinn. Wenn Chris ein Mädchen nach Hause brachte, verschwendete er wahrscheinlich keine Sekunde mit Worten. Heiliger Strohsack, warum dachte ich ausgerechnet jetzt an Chris, wo ich mir doch wünschte, dass Ethan mich küsste?
Frust schien mir die logische Antwort darauf zu sein. Der Gedanke an meinen ersten Kuss hatte mich eindeutig durcheinandergebracht. Ethan war ein toller Junge: hübsch, zuvorkommend, süß … und anzüglich, wenn er nicht darüber nachdachte. Hm, vielleicht lag ja genau da das Problem. Dachten wir beide zu viel darüber nach?
„Hey, ich hänge wirklich gern mit dir ab“, sagte Ethan und ich konnte spüren, dass die Einladung zu einem weiteren Date unausgesprochen in der Luft hing. Wenigstens hoffte ich das. Vor Erleichterung fiel mir ein kleines Gebirge von der Brust.
„Das sagst du nur, weil du mich heute bei Mario Kart besiegt hast“, neckte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Schließlich wollte nicht ich diejenige sein, die ihn um ein weiteres Date bat.
„Ja das, und weil deine Füße nicht so übel riechen wie die meiner anderen Freunde“, scherzte er.
Wir beide lachten und ich stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite. „Danke für dieses nette Bild, Ethan. Genau so was will ein Mädchen nach dem zweiten Date hören.“
Er grinste. „Oh, du solltest erst mal hören, was ich mir für das dritte einfallen lasse.“
Würde es ein drittes Date geben? Die Frage musste mir im Gesicht gestanden haben, denn er räusperte sich und stammelte: „Wollen wir … ähm … dieses Wochenende was zusammen machen? Wenn dir die Videospiele zu langweilig werden, können wir auch ins Kino gehen.“
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte ich viel zu viel Zeit mit Nick Frederickson verbracht und er hatte mich in gewisser Weise verdorben. „Machst du Witze? Mir wird es nie langweilig werden, Wii zu spielen. Aber Kino klingt auch gut.“
„Samstagabend? Wir könnten beides machen. Komm zu mir rüber und wir spielen eine Weile, bevor wir ins später einen Film ansehen. Aber kein Mario Kart mehr.“ Lachend stieß er mich leicht mit der Schulter an. „Ich möchte nicht riskieren, dass du mich vor lauter Frust nicht mehr sehen willst.“
„Das wird nicht passieren.“ Auch wenn er mich nicht küsste, genoss ich die Zeit mit Ethan sehr und ich war lieber mit ihm zusammen als das fünfte Rad am Wagen bei Sam und Tony – oder bei irgendeinem der anderen Pärchen. Ethan wäre umwerfend als fester Freund, aber auch als „Nur-Freund“ war er cool. „Ruf mich wegen Samstag an.“ Ich fummelte am Griff, bis sich die Tür endlich öffnete. Nach einem tiefen Seufzer sagte ich Gute Nacht und stieg aus.
Schwer schluckend zog ich mein Kleid zurecht und sah seinem Auto hinterher, bis die roten Rücklichter hinter der nächsten Ecke verschwanden.
Mom wartete im Wohnzimmer auf mich. Dad stand in der Küche und schenkte sich ein Glas Scotch ein. Die Stille im Haus war jedoch trügerisch. Wenn Dad vor dem Schlafengehen einen Drink nahm, deutete das auf zwei Dinge hin. Erstens, der Streit während meiner Abwesenheit rangierte auf meiner Heftigkeitsskala ziemlich weit oben. Und zweitens, Dad lieferte Mom durch den Alkohol erneut einen Grund, auf ihn loszugehen. Sie würde meckern, dass er sich betrank – obwohl er sich mit einem einzigen Glas wohl kaum abfüllen konnte. So oder so würde ich in dieser Nacht wohl nebenan schlafen.
„Hey, Mom, ich bin zurück“, rief ich.
Sie stand vom Sofa auf und kam lächelnd zu mir. Hut ab, dass sie – und auch mein Dad – mich aus ihren Streitereien raushielt und immer in liebevollem Ton mit mir redete, selbst bei ihren lautstarken Auseinandersetzungen. Deshalb konnte ich auch nie böse auf sie sein, auch wenn mir bei dem nächtlichen Geschrei manchmal das Trommelfell zu zerplatzen drohte und ich noch vor meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag auf der Couch eines Psychiaters landen würde, dem ich dann erzählte, woher meine Schlafstörungen rührten.
Mom fuhr mir durchs Haar. „Wie war dein Date?“ Vermutlich brannte sie genauso sehr wie Simone darauf zu erfahren, ob Ethan mich geküsst hatte, oder nicht.
„Es war schön. Ich werde Ethan am Wochenende wiedersehen.“ Mehr würde sie nicht aus mir rausbekommen. Ich meine, jetzt mal ehrlich, sie ist meine Mom. Man erzählt doch seinen Eltern nicht die ganzen romantischen Einzelheiten eines Dates. Besonders, wenn diese Einzelheiten gar nicht so romantisch sind, wie man erhofft hatte.
In meinem Zimmer schlüpfte ich aus dem Kleid und zog mir ein Top und eine Pyjamahose an. Nach dem Zähneputzen rief mein Bett laut nach mir, aber Simone erwartete einen Anruf und es wäre gemein, sie warten zu lassen. Mein Handy lag auf dem Nachttisch und ich griff es mir, während ich unter die Decke kroch. Nach einem Wischen leuchtete das Display auf und ich entdeckte eine Überraschungs-SMS.
Sie kam nicht von einem meiner Freunde, trotzdem kannte ich die Nummer. Am Nachmittag hatte ich sie unter Arroganter Schnösel in meiner Kontaktliste gespeichert.
Mein erster Gedanke war, die Nachricht von Chris ungelesen zu löschen. Kein Gericht der Welt würde mich dafür verurteilen, so wie er mich heute beim Nachsitzen behandelt hatte. Dann kam mir das Bild, wie er in der Küche sang und mir eine Kiwi mit Creme hinhielt wieder in den Sinn. Die Neugier gewann die Oberhand und mit einem Schnauben und Kopfschütteln öffnete ich die SMS und las: Gar nicht wie ein Streber.
Wer zum Teufel sollte denn daraus schlau werden? Fehlte da vielleicht etwas? Ich kratzte mir den Kopf, tippte Was? und drückte auf Senden.
Während ich auf eine Erklärung wartete, simste ich schnell eine kurze Zusammenfassung über den Abend an Simone, setzte aber auch Sam und Liza auf die Empfängerliste. Kaum, dass die Nachricht draußen war, klingelte mein Handy. Mein erster Gedanke war, dass eines der Mädchen meine SMS wirklich schnell gelesen hatte und mit mir darüber reden wollte. Aber ein Blick auf das Display verriet mir, dass ein gewisser Arroganter Schnösel meine Nummer gewählt hatte.
Was zum Geier … „Chris, warum rufst du mich an?“, schnauzte ich ins Handy. Aber vermutlich hatte ich diesen Anruf mit meiner Antwort auf seine Nachricht herausgefordert.
„Um dir süße Träume zu wünschen und deine Frage zu beantworten“, erwiderte Chris mit einem Schmunzeln in der Stimme.
Ein irritierter Seufzer entwich mir. „Weiß dein Bruder, dass du mit mir telefonierst?“
„Nein. Er ist gerade zurückgekommen … übrigens viel zu schnell, wenn du mich fragst.“ Mit frotzelndem Ton fuhr er fort: „Bedeutet das, dass er dich wieder nicht geküsst hat?“
Mit zusammengebissenen Zähnen knurrte ich: „Das geht dich nichts an.“
„Komm schon, es ist eine simple Ja-oder-Nein-Frage.“ Ein Lachen driftete in mein Ohr. „Ich werde viel besser schlafen, wenn ich die Antwort kenne.“
Was scherte es mich, ob er gut schlief? „Warum fragst du ihn nicht selbst, wenn du es unbedingt wissen willst?“
„Okay. Wenn du meinst …“ Nach kurzem Schweigen hörte ich, wie sich eine Tür öffnete, was meine Körpertemperatur ungefähr um zehn Grad erhöhte. Er würde doch nicht wirklich … „Hey, Ethan!“, rief Chris und unterbrach meinen Gedanken. „Hast du Susan heute geküsst?“
„Nein. Warum?“, kam die Antwort aus der Ferne. Ethans leise Stimme ließ mir das Herz in die Hose rutschen. Irgendwo schlug eine Tür in Chris’ Haus zu.
„Ethan sagt Nein“, rieb er mir unter die Nase, als hätte ich es nicht gerade selbst gehört. „Ich frage mich, warum nicht.“ Seine Stimme hatte einen nachdenklichen Ton angenommen, der zu hundert Prozent vorgetäuscht war. „Könnte es sein, dass er einfach kein Interesse hat?“
So sehr seine Vermutung mir auch wehtat, fragte ich mich das inzwischen selbst. Aber es war noch zu früh, um die Hoffnung aufzugeben. Aller guten Dinge sind drei, schwirrte mir die alte Redewendung durch den Kopf, während ich zu Chris sagte: „Zu deiner Info, er hat mich um ein weiteres Date gebeten.“
„Ach, wieder zum Wii spielen? Ist das wirklich deine Vorstellung von einem perfekten Date?“
„Wir gehen ins Kino.“ Und spielen vorher vielleicht ein paar Videogames. Das verschwieg ich allerdings. „Deine Vorstellung von einem perfekten Date ist vermutlich, dein Zimmer mit zerzausten Haaren wie kurz nach dem Aufstehen und einem falsch zugeknöpften Hemd zu verlassen.“
Chris wartete eine Sekunde ab. In seiner Stimme lag ein unverkennbares Schmunzeln, als er mir ins Ohr schnurrte: „Wusste ich doch, dass dir das aufgefallen ist.“ Seine Stimme wurde noch leiser und um ein Vielfaches verführerischer. „Hat es dich gestört?“
„Warum zum Teufel sollte es?“
Diesmal zögerte er nicht mit einer Antwort. „Weil ich zum einen exakt wie mein Bruder aussehe und soweit ich sehen kann, stehst du total auf ihn. Das heißt, dass du auch total auf mich stehst. Und zweitens, nur einer von uns beiden scheint derzeit versessen darauf zu sein, dich zu küssen.“
Seine Erklärung oder was auch immer das sein sollte, löste ein totales Durcheinander in meinem Kopf aus. Hier war es plötzlich so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
„Du hast aufgehört zu atmen, Sue.“ Gerade klang seine Stimme nicht im Geringsten neckisch. Eher erstaunt. Doch das legte sich schnell und ein Lachen drang an mein Ohr. „Ich nehme an, das bedeutet, du stimmst mir in beiden Punkten zu.“
Tat ich das? Die Ähnlichkeit der Zwillinge war verblüffend und nicht zu übersehen. Da ich Ethan für den süßesten Jungen der Welt hielt, erschien es nur logisch, dass ich dasselbe über Chris dachte. Mal abgesehen davon, dass es Chris an Charme, Manieren, Höflichkeit und meinem fantastischen Musikgeschmack mangelte. Obwohl seine Darbietung von „Stay With Me“ eine gewisse Bewunderung in mir hervorgerufen hatte.
„Chris, verrate mir eines“, wisperte ich, nicht ganz sicher, ob ich wirklich eine Antwort wollte. „Du hattest heute Nachmittag das schönste Mädchen der Schule in deinem Zimmer. Warum willst du ausgerechnet mich küssen?“
„Weil Lauren, wie die meisten anderen Mädchen, leicht zu haben ist.“ Nachdem er mir das mit derart gleichgültigem Tonfall mitgeteilt hatte, machte er eine theatralische Pause. „Du hingegen hast mich heute herausgefordert – noch dazu vor meinen Freunden.“
„Du willst mich also, weil du mich nicht haben kannst?“
„Wer sagt, dass ich dich nicht haben kann?“
„Ich.“
„Oh, okay. Also ja, dann will ich dich auf jeden Fall.“
Seine Logik brachte mich zum Lachen, aber es klang mehr Frust als Freude durch. „Du solltest wissen, dass ich niemals einen Jungen küssen würde, ohne tiefe Gefühle für ihn zu haben … und die habe ich nun einmal nicht für dich, Chris.“
„Ach, ist das so?“ Seine Stimme klang etwas höher, als würde er die Nase rümpfen. „In den vergangenen Monaten habe ich mehr als zwanzig Mädchen geküsst und das hat Spaß gemacht. Aber bei keiner Einzigen habe ich etwas gefühlt, außer na ja …“
„Stopp!“, rief ich und kniff die Augen zu. „Ich will’s gar nicht hören.“
„Okay, okay“, lachte er. „Übrigens gibt es noch einen anderen Grund, warum ich dich haben will.“
„Ach, und der wäre?“
„Du hast in diesem Kleid heute ziemlich heiß ausgesehen. Eindeutig nicht wie ein Streber, was deine Frage vom Anfang beantworten sollte.“ Ich dachte, noch anzüglicher könnte er gar nicht klingen, aber einen Herzschlag später bewies er, dass ich mich geirrt hatte. Seine Stimme wurde noch einen Hauch tiefer und sinnlicher. „Hätte ich dich heute Abend nach Hause gebracht, hätte ich dich auf jeden Fall geküsst. Und es hätte dir gefallen.“
Ein Schauer lief mir wie ein schmelzender Eiswürfel über Rücken und Arme. Kein unangenehmes Gefühl, aber trotzdem seltsam.
„Träum was Hübsches, Sonnenschein“, raunte er und legte auf.
Mir stand der Mund offen, als ich das Handy in meinen Schoß sinken ließ. Klar, dass er all diese Sachen nur aus einem Grund sagte … aber ich würde mir von ihm ganz bestimmt nicht den Kopf verdrehen lassen. Er mochte mich mit der Kiwi in einem schwachen Moment erwischt haben, aber wenn er glaubte, dass ich mich wegen einer solchen Belanglosigkeit in ihn verliebte, war er schief gewickelt. Meine Haare waren nicht schwarz, ich hieß nicht Lauren – und vor allem war ich kein x-beliebiges Mädchen, das er irgendwo am Schulhof aufgabeln konnte, um sich einen Abend – oder vielleicht auch zwei – mit ihr zu vergnügen.
Gutaussehend? Liebe Güte, das war er. Das konnte ich nicht abstreiten, da ich mich Hals über Kopf in seinen Zwillingsbruder verliebt hatte. Aber es brauchte schon mehr als nur gutes Aussehen, um wirklich attraktiv zu sein, und Chris musste sein Ego schleunigst in den Griff bekommen, bevor ihn diese Blase aus Wahnvorstellungen noch verschluckte.
Verflucht, warum war mir diese Retourkutsche nicht eingefallen, als er noch am Telefon war? „Super, Susan, ganz super“, murmelte ich und schlug mir an die Stirn. Schließlich rutschte ich tiefer unter die Decke und schaltete das Licht aus.
Aber schlafen? Nicht daran zu denken.
Wie erwartet stritten meine Eltern wieder so laut, dass man meinen konnte, sie veranstalteten ein Rockkonzert. Kurz vor Mitternacht hatte ich die Nase so voll von dem Lärm, dass ich mir mein Handy schnappte, das auch als Wecker diente, und mich aus dem Haus schlich. Mein Großvater hatte einen Ersatzschlüssel unter einer Topfpflanze auf dem Fensterbrett deponiert, daher musste ich ihn nicht aufwecken, wenn ich Zuflucht auf seiner Couch suchen wollte.
Er war am nächsten Morgen lange vor mir auf und küsste mich auf die Stirn, als ich mich bei ihm bedankte und in mein zerrüttetes Zuhause zurückkehrte. Mom sah zerknirscht aus, als sie mich reinkommen sah. Dad war bereits zur Arbeit gefahren.
„Wann hört ihr endlich mit dem Scheiß auf?“, hätte ich sie am liebsten angebrüllt, als ich mir einen Donut vom Teller auf der Küchentheke griff. Stattdessen brach ich mir ein Stückchen von dem Gebäck ab und schob es mir in den Mund. Eine Diskussion war sinnlos. Manche Dinge ändern sich eben nie.
Ich vermied jegliches Gespräch mit meiner Mutter, zog mich an, packte meine Sachen und ging zur Schule.
Auf der positiven Seite war zu verbuchen, dass Freitag war und der erste Tag in dieser Woche, an dem Ethan mittags bei uns am Fußballertisch saß. Ich war mir sicher, dass Ryan ihn eingeladen hatte, aber Liza war ganz offensichtlich die Drahtzieherin gewesen. Sie strahlte wie ein Flutlicht um Mitternacht, als wir zum Tisch hinüber gingen, und drückte meinen Arm ein wenig zu fest.
Dieses Mal beschwerte ich mich nicht über ihre Kuppelversuche. Tatsächlich war es mein Highlight des Tages, die ganze Mittagspause neben Ethan zu verbringen, obwohl wir nicht viel miteinander redeten, weil Alex sich die meiste Zeit mit ihm unterhielt. Aber es war mir egal, es genügte mir schon, ihn bewundernd angaffen zu können.
Nach der Pause, als wir alle wieder zum Nachmittagsunterricht gingen, versprach Ethan, mich am darauffolgenden Tag anzurufen, um Pläne für den Abend zu machen.
Er hielt sein Versprechen.
Am Samstagnachmittag klingelte mein Handy und riss mich aus dem letzten Kapitel eines weiteren Outlander-Buchs. Die unbekannte Nummer gehörte Ethan und gleich nach unserem Gespräch speicherte ich ihn unter Charlie Brown ab. Er hatte vorgeschlagen, dass wir uns bei ihm treffen, sobald ich mit dem Buch fertig war, was mich dazu brachte, die letzten Seiten zweimal so schnell zu lesen wie sonst. Zehn Minuten später legte ich das Buch zur Seite und machte mich ausgehfein.
Da mich das rote Kleid am Donnerstag bei ihm nicht weiter, sondern Chris nur auf dumme Gedanken gebracht hatte, beschloss ich, dieses Mal etwas bequemere Klamotten zu wählen. Jeans und eine weiße Bluse über einem blauen Trägertop. Auf dem Weg nach unten pfiff ich fröhlich vor mich hin, denn ausnahmsweise machte ich den Erfolg dieses Dates mal nicht von einem Kuss ab.
Unten traf ich auf meinen Vater. „Kannst du mich zu Ethan fahren?“, bat ich ihn.
Er faltete die Zeitung, die er gelesen hatte, zusammen, stand vom Tisch auf und holte seine Schlüssel. Ich mochte Moms Auto viel lieber als Dads, und wie immer, wenn ich in den schwarzen Toyota stieg, kniff ich mir die Nase zu und versuchte, meinen Brechreiz zu unterdrücken. Vier Monate nach dem Kauf hatte das Auto immer noch diesen typischen Neuwagengeruch, an den ich mich einfach nicht gewöhnen konnte. Rasch ließ ich das Fenster runter. Die frische Luft wehte mir ins Gesicht und gab mir Gelegenheit, meine Lungen zu füllen, bevor ich blau anlief.
Nachdem ich meinem Dad klare Anweisungen gegeben hatte, wo er mich hinbringen sollte, fragte er: „Also, wer ist dieser Junge? Ethan.“ Er versuchte, beiläufig zu klingen, wohl in der Hoffnung, dass die Frage nicht wie die eines besorgten Vaters klang.
Das ging daneben, Dad!
„Ich kenne ihn aus der Schule und vom Fußball. Wir sind ein paar Mal miteinander ausgegangen.“
„Das ist der Junge von Donnerstag, oder? Deine Mom hat mir von ihm erzählt.“
„Wirklich?“, neckte ich. „Bei all der Streiterei gab es einen Moment, in dem sie dir das sagen konnte?“
Ich meinte es nicht böse. Liebe Güte, wenn ich überhaupt mit jemandem darüber Scherze machen konnte, dann mit meinem Vater. Er stieß trotzdem einen tiefen Seufzer aus. „Im Moment ist es nicht einfach für dich, was?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Welches Kind hört seine Eltern schon gern endlos streiten?“
Bei einem kurzen Halt an einer Kreuzung tätschelte er mir das Knie. „Wir versuchen, eine Lösung zu finden. Es wird besser werden, das verspreche ich.“
Eine Lösung? So wie was zum Beispiel? Scotch und mehr Streitereien? „Komm schon, Dad. Du weißt, dass es nicht besser werden wird. Mom findet immer einen Grund, um dich anzugreifen. Sie kommt einfach nicht über Großmutters Tod hinweg.“
„Wir haben heute Morgen darüber geredet, einen Eheberater aufzusuchen.“
Tatsächlich sie beide? Oder nur er? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Mutter sich auf so etwas einlassen würde. Jedenfalls nicht, solange sie das eigentliche Problem und den Grund für ihre Streitereien nicht anerkennen wollte, nicht einmal zwei Jahre nach Großmutters Schlaganfall. „Das klingt nach einer guten Idee“, sagte ich jedoch laut.
Kurz darauf hielt Dad vor Ethans Haus. Zum Glück, denn das Gerede über die Probleme meiner Eltern fing an, mir auf die Stimmung zu drücken. Wir schauten beide aus meinem Fenster und betrachteten stumm den gemütlich aussehenden Bungalow. Keine Streitereien dort. Dachte er vielleicht gerade dasselbe?
Unvermittelt überraschte er mich mit einem Lachen. „Ich habe das Gefühl, dass ich mit dir kommen und mich diesem Jungen vorstellen sollte.“
„Dad!“ Ich verdrehte die Augen.
„Was denn? Machen das verantwortungsvolle Väter nicht so?“
„Das machen Väter nur dann, wenn sie ihre Töchter blamieren und für immer als Loser brandmarken wollen. Bitte sei nicht so ein Vater.“
Lachend schlang mein Dad einen Arm um meinen Nacken, zog mich vor und gab mir einen Kuss auf den Kopf. „Hab Spaß, Herzblatt. Und sei um Mitternacht zu Hause.“
Ich nickte und schenkte ihm ein Lächeln. „Mach’s gut.“
Während er auf der breiten, verlassenen Straße wendete, joggte ich die zwei Stufen zu Ethans Haustür hinauf und klingelte. Einer der Zwillinge öffnete mir und raubte mir den Atem mit seinem blendenden Aussehen. Verwaschene Jeans und ein weißes Poloshirt, die Haare in einem niedlichen Durcheinander. Das konnte jeder von ihnen sein. Nicht einmal das herzliche, einladende Lächeln gab mir einen Hinweis darauf, ob ich vor dem richtigen Jungen stand.
„Hi, Susan“, sagte er.
Ich ließ mir Zeit und musterte ihn eingehend.
Er verschränkte die Arme über der Brust und sah mich belustigt an. „Du versuchst gerade herauszufinden, wer ich bin, nicht wahr?“
„Nein, ich habe meine Antwort soeben erhalten“, sagte ich und schob mich an Chris vorbei. „Ist Ethan in seinem Zimmer?“
„Ja.“ Er schloss die Tür und lief hinter mir her. Im Flur drückte er sich erfolgreich an mir vorbei und versperrte mir den Weg. „Wie hast du’s herausgefunden?“
„Ganz einfach.“ Ich griff an seinen Kragen und zog die zwei massiven Silberketten um seinen Hals heraus. Sie waren mir an dem Tag aufgefallen, als ich in das falsche Zimmer gegangen war. Ich wickelte die Ketten um meinen Finger, bis sie ihn fast erstickten. „Deine Macho-Ketten haben dich verraten.“ Mit zufriedenem Lächeln ließ ich sie los und gab ihm mit dem Finger eine leichte Kopfnuss auf die Stirn.
Chris zog die Augenbrauen zusammen, blockierte aber weiter meinen Weg. „Hey, lass das.“
„Was? Die Kopfnuss oder deine Ketten das zu nennen, was sie sind?“ Lachend gab ich ihm einen zweiten Fingerschnips gegen die Stirn.
„Beides“, sagte Chris irritiert. Er schnappte mich am Arm und wirbelte mich so schnell herum, dass ich keine Chance hatte, zu reagieren, bis mein Rücken gegen seine Brust gedrückt war. Seine Arme lagen wie eine Fessel um meinen Oberkörper. „Wenn du das noch mal machst“, knurrte er mir ins Ohr, „kriegst du von mir einen Knutschfleck so groß wie Ohio … genau hier.“ Er senkte den Kopf und sein Atem fächerte über meine Haut, kurz bevor seine Lippen über dieselbe Stelle strichen.
Kleine Stromschläge zuckten durch meinen Körper, von der Stelle ausgehend, die er mit seinem Mund berührte. Ich konnte das Prickeln bis hinunter in meine Zehenspitzen spüren. Ein Stöhnen entfuhr mir; ich war so geschockt, dass ich das verräterische, erregende Gefühl, das mich zu überwältigen drohte, gar nicht genießen konnte. Energisch wand ich mich in seinem Griff und konnte dabei einen schwachen Stoß mit dem Ellbogen gegen seine Brust landen. „Lass mich los, Chris! Du bist echt widerlich!“
Er lachte, aber die Fessel um mich lockerte sich und er gab mich frei. Einen Augenblick stützte ich mich Halt suchend an die Wand und bemühte mich mit aller Kraft, meinen Atem nach diesem sinnlichen Anschlag wieder zu beruhigen. „Tu das … nie wieder!“
„Warum nicht?“ Er hob verschlagen die Augenbrauen. „Hast du Angst, dass du süchtig danach werden könntest?“
„Ja, entweder das …“ Ich verdrehte die Augen und machte ein Würgegeräusch. „… oder zu kotzen.“
„Jede Sucht fängt mit Verleugnung an, also lass ich dich mal in dem Glauben.“
Nur mühsam widerstand ich dem Drang, ihm einen Tritt zu verpassen, doch plötzlich wechselte seine Miene und sorgte dafür, dass ich wie angewurzelt stehen blieb.
„Warum bist du überhaupt hier? Kommst du heute Abend mit zu meinem Basketballspiel?“, fragte er, eine steile Falte auf der Stirn.
„Was? Nein.“
„Weshalb bist du dann gekommen?“
„Kino? Ethan und ich?“ Ich zog ein schales Gesicht. „Das hab ich dir gesagt, als wir telefoniert haben. Schon vergessen?“
Ich beschloss, dass Chris genug von meiner begrenzten Zeit in diesem Haus verschwendet hatte, und machte einen Schritt den Flur hinunter, doch er stützte einen Arm vor mir gegen die Wand und hinderte mich am Gehen. „Warte. Das ist heute?“
„Ja.“ Warum brachte ihn das so aus der Fassung?
„Das geht nicht.“
Ha, wart’s ab und staune! Ich wollte ihm gerade sagen, dass das sehr wohl ginge, nur bekam ich keine Gelegenheit dazu. Chris stürmte, ohne anzuklopfen, in Ethans Zimmer.
„Hey, was soll dieser Scheiß, dass du heute Abend ins Kino gehst?“, maulte er.
Ich blickte über seine Schulter und sah Ethan an seinem Schreibtisch sitzen. Er sah auf, von was auch immer er da machte. „Ich gehe mit Susan aus. Wo liegt dein Problem?“
„Mein Problem ist, dass es mein letztes Spiel in diesem Jahr ist. Das große Rückspiel gegen die Clearwater High. Es war ausgemacht, dass du hinkommst.“
Oh mein Gott, wenn Chris noch mehr wie ein kleiner, schmollender Junge klang, würde ich ihn noch tröstend in die Arme nehmen. Er war ehrlich gekränkt darüber, dass sein Bruder ihn versetzen wollte. Ich hatte schon immer vermutet, dass jeder seinen wunden Punkt hatte, und Basketball war ganz offensichtlich der von Chris.
„Du hast es versprochen“, fügte er hinzu und blieb wie angewachsen mit hängenden Schultern in der Tür stehen. Dann wurde seine Stimme sogar noch eine Nuance trotziger. „Sogar Mom kommt.“
Okay, ich war offiziell gerührt. Wenn jemals ein Frauenheld auf Knien gebettelt hatte, dann Chris Donovan in diesem Augenblick, weil sein Bruder ihm den sprichwörtlichen Dolch durchs Herz gestoßen hatte. Ich konnte es nicht verhindern, dass ich die Hand hob und tröstend Chris’ Arm berührte. „Wenn es dir so viel bedeutet, gehen wir heute eben nicht ins Kino. Ethan kann zu deinem Spiel mitkommen.“
Beide Brüder starrten mich an. Ethan fragte überrascht: „Kann ich das?“, während Chris gleichzeitig die Augenbrauen hochzog und argwöhnisch fragte: „Kann er das?“
„Natürlich“, gab ich zurück und kam mir dabei ein wenig komisch vor, weil sie die Entscheidung ganz offensichtlich von mir abhängig machten. „Das Kino läuft uns nicht weg. Und wenn es das letzte Spiel vor der Winterpause ist, solltest du wirklich gehen“, überzeugte ich Ethan. „Ich wäre am Boden zerstört, wenn meine Familie nicht zu meinen großen Spielen kommen würde.“
„Okay, aber du musst mitkommen“, verlangte Ethan.
Ääh. Basketball war wirklich nicht mein Ding, aber um mehr Zeit mit Ethan verbringen zu können, würde ich jede Folter in Kauf nehmen. Ich presste die Lippen zusammen und zuckte hilflos mit den Schultern. „Also schön, dann eben Basketball.“
Chris grinste bis über beide Ohren und einen Moment sah es so aus, als wolle er mich tatsächlich in die Arme nehmen. Nicht, weil er wieder den Schwachkopf gab und mich ärgern wollte, sondern weil er wirklich glücklich war.
Er überlegte es sich jedoch anders, was ich ihm hoch anrechnete. Dennoch drehte er sich so zu mir, dass nur ich sein Gesicht sehen konnte, und formte stumm mit den Lippen: „Du hast was gut bei mir.“
Oh, ich hatte so das Gefühl, dass ich irgendwann darauf zurückkommen würde.
Kapitel 8
„DAS WAR WIRKLICH nett, Susan“, verkündete mir Ethan wenig später. Und damit meinte er nicht nur meinen Wurf beim Wii Bowling. „Manchmal scheint Basketball für Chris alles zu bedeuten.“
„Na ja, hin und wieder habe auch ich mal einen schwachen Moment“, scherzte ich, aber insgeheim fragte ich mich, ob es seinem Bruder wirklich nur um Basketball ging. Für mich sah es ganz so aus, als spiele seine Familie eine wichtige Rolle für Chris. Andernfalls wäre er nicht so gekränkt darüber gewesen, dass Ethan etwas anderes vorhatte.
Ich machte eine weitere Wurfbewegung zum Bildschirm. „Wann fängt das Spiel an?“
„In einer dreiviertel Stunde“, kam die Antwort von der Tür. Chris lugte ins Zimmer, presste die Lippen zusammen und zog die Brauen hoch. „Mom ist fertig und wir fahren in fünf Minuten. Wenn ihr beide mitfahren wollt, kommt ihr besser schnell zum Schluss damit.“
Die Kugel rollte die Bildschirmbahn hinunter und warf alle Kegel um. Mit diesem sensationellen Strike gewann ich das Spiel. Strahlend drehte ich mich um und wippte, die Hände auf dem Rücken, auf den Fußballen hin und her. „Ich bin fertig. Wir können los.“
Getroffen von meiner Schadenfreude, verschränkte Ethan die Arme vor der Brust und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. Fehlte nur noch, dass er mit den Zehenspitzen genervt auf den Boden tippte. „Und wenn du noch so sehr meckerst – das nächste Mal spielen wir wieder Mario Kart.“
„Von mir aus.“ Solange es ein nächstes Mal gab, war ich das glücklichste Mädchen der Welt. Breit lächelnd begegnete ich Chris’ interessiertem Blick. Er musterte mich mit belustigter Miene und ich fragte mich, ob er in diesem Moment meine Gedanken lesen konnte.
Als wir aus Ethans Zimmer kamen, schlüpfte Beverly gerade in ihre schwarzen Pumps und eine zu ihrem burgunderfarbenen Wollkleid passende Jacke. Nicht gerade das, was ich zu einem Basketballspiel in der Schule anziehen würde, aber ich konnte sie mir eigentlich auch nicht in abgewetzten Jeans und überlangem Pulli vorstellen, und dazu eine Schaumstoffhand schwenkend.
Vor der Tür blieb sie vor einem schwarzen SUV stehen und klimperte mit den Schlüsseln. „Wer will fahren?“
Das Angebot schloss mich sicherlich nicht ein, aber nach einem Blick auf ihre Stöckelabsätze wusste ich, warum sie nicht allzu scharf aufs Fahren war. Chris schnappte sich sofort die Schlüssel und setzte sich hinters Lenkrad. Beverly wählte den Beifahrersitz, wodurch ich Ethan ganz für mich allein auf der Rückbank hatte. Nach drei Minuten machte mich sein Duft, eine Mischung aus etwas Herbem und Exotischem, schon völlig gaga und weckte die wildesten Träume in mir. Irgendwie war mir entgangen, dass er noch zum Deo gegriffen hatte, bevor wir das Haus verließen, aber vielleicht hatte er das getan, während ich mir die Schuhe zuband, und ich hatte es deswegen nicht mitbekommen. Jedenfalls roch er lecker – sehr männlich und betörend.
„Susan, Schätzchen“, sagte Beverly, kurz bevor wir am Parkplatz der Schule ankamen. „Wie lange hast du heute Ausgang?“
„Äh, normalerweise muss ich an Wochenenden um Mitternacht zu Hause sein“, antwortete ich und beugte mich über den Sitz zu ihr, damit sie mich über die Musik aus dem Radio auch hörte.
„Großartig! Sie drehte sich ein wenig um und schaute mich an. „Wir haben nämlich eine Tradition. Wenn die Sharks gewinnen, lade ich meine Jungs immer ins St. James Steakhouse in Oceano ein. Wenn das Team verliert, müssen mich die beiden zu Burger King in Arroyo Grande ausführen. Welches Restaurant es auch werden wird, du bist heute eingeladen.“
Mein Herz wurde butterweich. Ein Lächeln entwich mir und ich wandte mich Chris zu. „Dann sollte ich dein Team heute wohl besser anfeuern, damit Ethan eine anständige Mahlzeit bekommt, und du auch, was?“
„Er und ich“, sagte Chris verschmitzt und ließ den Blick kurz zu mir gleiten, ehe er ihn wieder auf die Straße richtete. „… und du.“
In dem Moment fielen mir zwei Dinge auf: Erstens, so wie es klang, war Chris froh, dass ich mit ihnen nach dem Spiel zum Essen gehen würde. Und zweitens, der atemberaubende Duft kam nicht von Ethan. Offenbar hatte sich Chris das exotisch duftende Deo aufgesprüht. Ich betrachtete sein Profil und nach ein paar tiefen Atemzügen wollte ich mich plötzlich gar nicht mehr zurücklehnen.
„Was ist?“, fragte er, als er meine Verwirrung bemerkte.
„Du riechst gut.“ Ach du liebe Zeit, das hatte ich wohl hoffentlich nicht laut gesagt, oder? Bitte, nicht!
Chris lachte mit den anderen beiden und brachte ein überraschtes „Danke“ hervor.
Ich ließ mich zurück in den Sitz plumpsen und wünschte mir, dass die Hitze, die in mir glühte, heiß genug war, um ein Loch in den Boden zu brennen, in dem ich mich verkriechen konnte.
Ausgerechnet Ethan blickte mich amüsiert an. „Hey, wenn ich gewusst hätte, dass du Axe magst, hätte ich mich auch damit eingesprüht.“ Sollte er nicht sauer sein, weil ich – gewissermaßen als sein Date für heute Abend – doch gerade seinem Bruder ein Kompliment gemacht hatte statt ihm? Falls es ihn störte, war er ein verdammt guter Schauspieler, denn er ließ sich nichts anmerken. Inzwischen fing ich jedoch allmählich an zu glauben, dass es Ethan völlig schnuppe war, ob ich auf ihn stand. Natürlich hatte ich mich aber auch gerade derart zum Affen gemacht, dass er wahrscheinlich einfach nur Mitleid für mich empfand.
Gott sei Dank waren wir bald da und wir konnten alle aussteigen. Die Abendbrise kühlte meine immer noch glühenden Wangen. Ich lief neben Ethan her, und zwar so langsam, dass Chris und seine Mom ein wenig Vorsprung bekamen.
Im Duft des Bruders meiner großen Liebe zu schwelgen war überhaupt nicht cool. Aber am Ticketschalter keinen Eintritt bezahlen zu müssen, weil wir einen der Spieler kannten, war es definitiv.
Vor der Umkleide umarmte Beverly Chris und wünschte ihm Glück. Ethan klopfte ihm auf die Schulter und meinte. „Ich will ein Steak, Bro.“ Als ich an der Reihe war, etwas zu sagen, zuckte ich nur mit den Schultern und schenkte ihm ein spöttisches Lächeln. „Du hast uns alle dazu gezwungen, dir heute Abend zuzusehen, also sorgst du besser dafür, dass du in der Halle nicht ausrutschst.“
Sein Lachen schallte durch den Korridor, als er seine schwarze Sporttasche über die Schulter warf und in der Umkleide verschwand.
Wir anderen suchten uns einen Platz in der Mitte der Tribüne mit gutem Ausblick in die Halle. Musik dröhnte aus den Lautsprechern an der Decke und mischte sich mit dem Lärm der Gespräche, die zum Teil über mehrere Sitzreihen hinweg geführt wurden. Die Zuschauer strömten in Massen durch die beiden Doppeltüren auf jeder Seite der Turnhalle, nahmen langsam ihre Plätze ein und ein intensiver Geruch von Hotdogs breitete sich aus.
Kurz darauf wechselte der Popsong in eine Fanfare. Schüler, Lehrer und Fremde spendeten gemeinsam Applaus, als das Basketballteam meiner Schule so euphorisch in die Halle stürmte, als hätten sie das Spiel schon gewonnen. Ich klatschte ebenfalls und zuckte zusammen, als Ethan direkt neben meinem Ohr auf den Fingern pfiff, weil Chris einen Ball beim Aufwärmen im Korb versenkt hatte.
Die gegnerische Mannschaft lief anschließend ein und erhielt einen ebenso lautstarken Begrüßungsapplaus von der Gasttribüne gegenüber. Ihre dunkelblauen Trikots bildeten einen guten Kontrast zu den weißen Trikots der Dunkin’ Sharks, weshalb es wohl keine Schwierigkeiten geben würde, die Spieler auseinanderzuhalten.
Ich hatte noch nie von der anderen Mannschaft gehört, aber sie hatten ihr Maskottchen mitgebracht – einen Löwen. Anfangs motivierte der Mensch im Löwenkostüm die Fans der Gäste für ihr Team zu singen und zu klatschen, aber bald schon sank er auf die Bank an der Seitenlinie und stützte das Kinn in die mächtige Pfote. Niemand konnte ihm seine schwindende Zuversicht verdenken, denn die Sharks ließen sein Team so schnell hinter sich wie ein Ferrari ein Moped.
Das änderte sich jedoch in der zweiten Halbzeit. Der Trainer tauschte drei Spieler aus. In unserer Mannschaft wurde niemand ersetzt. Die neuen Jungs, alle riesig, gut gebaut und mit Füßen so groß wie Boote, gingen viel aggressiver vor und wendeten damit das Spiel zu ihren Gunsten. Obwohl nicht alle Spielzüge in einem Foul endeten, gab es plötzlich viel mehr Gerangel um den Ball. Jedes Mal, wenn einer unserer Jungs geblockt oder aus dem Gleichgewicht gebracht wurde und über den Boden rutschte, sorgte das Geräusch von Haut, die über den Linoleumboden schrubbte dafür, dass mir die Haare auf den Armen zu Berge standen. Ich hatte den brennenden Schmerz eines solchen Sturzes erlebt und das wünschte ich keinem, ob er nun in unserem Team war oder im anderen. Auch die restlichen Zuschauer fühlten offensichtlich den Schmerz nach, denn es war jedes Mal ein kollektives „Aau“ zu hören, wenn einer der Jungs stürzte.
Während die Gegner einen Ball nach dem anderen versenkten, wurden die Würfe unseres Teams meist leicht abgefangen, bevor der Ball den Korb auch nur berühren konnte. Die Löwen schafften den Ausgleich in Nullkommanichts.
Chris wurde von einem Kerl geblockt, der ihn gut einen Kopf überragte und dem Begriff Manndeckung eine ganz neue Bedeutung verlieh. Bald schon hatte Chris mehr rote Stellen an Beinen und Schultern als die anderen Spieler zusammengenommen. Das minderte jedoch nicht seine Entschlossenheit. Falls überhaupt, sorgte es dafür, dass er noch härter angriff und noch energischer um den Ball kämpfte. Er und einer seiner Mitspieler versenkten zwei Bälle kurz hintereinander vor Ende des vierten Viertels, worauf die Menge in wilden Jubel ausbrach. Die Löwen schafften jedoch vor dem Abpfiff des Schiedsrichters noch den Ausgleich.
Ich drehte mich zu Ethan. „Zwanzig zu zwanzig. Und jetzt?“
„Sie gehen fünf Minuten in die Verlängerung“, erklärte er.
Den Löwen gelangen noch zwei weitere Punkte und ich knabberte vor Aufregung an den Fingernägeln, als die große Punktetafel unter der Decke die letzten Sekunden der Verlängerung herunterzählte.
Neun Sekunden vor Schluss fing Chris den Ball von einem seiner Freunde auf. In einem pfeilschnellen Lauf dribbelte er zum gegnerischen Korb, aber gerade, als er werfen wollte, rammte ihm sein Schatten von den Löwen die Schulter in den Rücken. Mit einem Stöhnen, das ich bis zu meinem Sitz hören konnte, sackte Chris auf die Knie. Er sah einen Moment lang verwirrt aus, aber zum Glück nicht verletzt. Und das Erstaunliche war, dass er trotz des Fouls den Korb getroffen und zwei Punkte gemacht hatte, die ihnen zum Gleichstand mit den Löwen fehlten.
Die Basketballregeln waren mir ein Rätsel und ich musste immer auf der Punktetafel nachsehen, wie viele Punkte ein Team erzielt hatte. Aber vom Fußball wusste ich, dass so ein Foul nicht ungestraft bleiben würde, selbst wenn die Spielzeit offiziell vorüber war.
Chris bekam den Ball.
„Er hat einen Freiwurf. Wenn er den verdammten Ball jetzt im Korb versenkt“, erklärte Ethan angespannt und den Blick auf seinen Bruder fixiert, „gewinnt er das Spiel für uns. Wenn er verfehlt, gibt es eine weitere Verlängerung um fünf Minuten.“
Gut zu wissen. Ich drückte die Daumen und stützte die Hände unter mein Kinn. Als Chris mit leichtem Sprung warf, wurden meine Augen groß wie Scheinwerfer und ich verfolgte den Ball mit meinem Blick, bis er sicher durch den Korb fiel.
Die Punktetafel sprang auf 23:22.
Die Dunkin’ Sharks hatten gewonnen! Ich atmete tief durch, um mit der Menge zu jubeln, wobei mir bewusst wurde, dass ich die ganze Zeit während des Freiwurfs die Luft angehalten hatte.
Während sich die meisten Zuschauer langsam zu den Ausgängen drängten, gingen einige die Tribüne hinunter, um den Spielern zu gratulieren. So wie Ethan, Beverly und ich.
Chris entdeckte uns an der Seitenlinie. Er klopfte mehreren seiner Freunde auf die Schultern, dann kam er auf uns zugestürmt wie ein Flummi, den man in Red Bull getaucht hatte. Er sah niedlich aus, so verschwitzt und glücklich, die Wangen gerötet vom Spiel. Seine Mutter beschwerte sich nicht, als er sie mit einer Umarmung zerquetschte, die nach Schweiß und Euphorie roch.
Obwohl ich ihn nicht in meine Nähe ließ, als er versuchte, einen Arm um mich zu legen und den anderen um Ethans Schultern, war ich keine völlige Spielverderberin und gratulierte ihm zum Sieg. „Das war ziemlich cool“, sagte ich und spiegelte sein Grinsen.
Er beugte sich zu mir und schnurrte mir ins Ohr: „Wie wär’s mit einem Kuss für das Siegerteam?“
„Ja, klar. Eher küsse ich diesen ausgestopften Verliererlöwen da drüben, danke.“
„Du hast also eine Schwäche für Wildkatzen“, neckte er leise. „Warum zum Teufel hängst du dann mit Ethan rum?“
Ich rempelte ihn gegen die Schulter. Grinsend lief er zu seiner Mannschaft zurück. Während sie zu den Umkleiden trotteten, um zu duschen, rief er Beverly zu: „Fünfzehn Minuten!“
Wir setzten uns vor die Umkleide und beobachteten, wie sich der Gang rasch leerte. „Wie hat dir dein allererstes Basketballspiel gefallen?“, fragte Ethan.
„Das war ganz schön extrem.“ Ich verzog das Gesicht. „Jedes Mal, wenn sich einer von ihnen das Knie angeschlagen oder sonst wie verletzt hat, habe ich mitgelitten. Es kommt mir so vor, als hätte ich mehr Abschürfungen an den Beinen als die Spieler.“
Beverly lachte über mein Geständnis. „Manchmal geht es wirklich ziemlich rau zu. Zumindest muss ich mir jetzt nur noch um einen meiner Jungs Sorgen machen, und nicht mehr um beide.“ Sie rieb Ethan liebevoll über den Rücken.
Ich sah ihn ungläubig an. „Was, du hast auch Basketball gespielt?“
„Mm-hm“, kam die gemurmelte Antwort.
„Warum hast du aufgehört?“
Er hob eine Schulter. „Ich hatte meine Gründe.“
Und das war’s. Mehr erfuhr ich nicht und sein ausweichender Blick sagte mir, dass jetzt nicht der rechte Zeitpunkt war, ihm ein Loch in den Bauch zu fragen. Also hielt ich die Klappe und wartete schweigend mit den beiden auf Chris. Aus seinen versprochenen fünfzehn Minuten wurden allerdings schnell zwanzig, dann fünfundzwanzig, und als er nach einer halben Stunde immer noch nicht auftauchte, fragte ich mich, ob er es vorzog mit seinen Freunden Party zu machen, statt mit uns Steak essen zu gehen.
Auch Ethan wurde ungeduldig. Er stand auf und sagte, dass er ihn suchen und notfalls aus der Umkleide schleifen würde. Bevor er jedoch die Tür erreichte, flog sie auf und ein Junge kam raus. Ethan blieb wie angewurzelt stehen. Da er mir die Sicht versperrte, sah ich nichts weiter als ein schwarzes Sweatshirt und Jeans, doch nach der gedämpften Stimme zu urteilen, war es Chris. „Gehen wir“, sagte er und stapfte bereits auf den Ausgang zu. Er hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, vermutlich, weil sein Haar nach dem Duschen noch feucht war und er sich im Freien nicht das Hirn einfrieren wollte.
Beverly und ich standen auf und liefen ihm nach. Sein wütendes Tempo weckte eine dunkle Vorahnung in mir.
„Chris, warte“, rief Beverly und packte ihn am Ärmel. „Was ist denn –“
Als sie abbrach, blieb ich wie erstarrt stehen. Ethan schloss langsam zu mir auf. Er hatte bereits gesehen, was mit Chris los war, aber für mich war das ein Schock, der mir die Zunge am Gaumen festnagelte.
Über seine rechte Augenbraue zog sich eine kleine Platzwunde und ein Taschentuchfetzen steckte in einem seiner Nasenlöcher. Das Papier war vollgesaugt mit Blut und ein paar Tropfen sickerten ihm aus dem Mundwinkel. Mir wurde übel. Ohne nachzudenken, holte ich ein Taschentuch aus meiner Tasche und tupfte damit vorsichtig über den Blutstreifen auf seiner Stirn. Verblüfft drehte sich Chris zu mir, hielt mich am Handgelenk fest und musterte mich eindringlich. Ein hübsches Veilchen zierte sein rechtes Auge.
„Tut mir leid, war ein Reflex“, murmelte ich und hatte keinen blassen Schimmer, wie ich aus der Nummer wieder rauskommen sollte. „Ich kann nicht mit ansehen, wenn jemand verletzt ist.“
„Mir geht’s gut“, erwiderte er eisern.
Hitze flutete mein Gesicht. Ich ließ rasch die Hand sinken und machte einen Schritt zurück. Ethan sagte nichts, sondern trat nur näher an mich heran, wofür ich dankbar war.
Beverlys Stimme überschlug sich, als sie Chris’ Kinn umfasste und sein Gesicht ins Licht drehte. „Was um alles in der Welt ist passiert?“
Chris entzog sich ihr seufzend. „Lass gut sein, Mom. Es ist nichts. Können wir jetzt los? Ich hab Hunger.“
„Nein, wir können ganz bestimmt nicht los. Schau dich doch mal an! Wer hat das getan?“
Seine Mutter ignorierend ging Chris durch die Glastüren, aber Beverly ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Sie stürmte ihm nach und wir folgten den beiden. Wieder einmal war mir die kühle Brise sehr willkommen. Am Auto stellte sie ihn zur Rede und riss ihm die Schlüssel aus der Hand.
„Wo willst du hin?“, schnappte sie.
„Nach Oceano … So wie ausgemacht“, gab er knurrig zurück.
„Aber bestimmt nicht mit diesem Veilchen. Und wir gehen hier nicht eher weg, bis du mir gesagt hast, was passiert ist.“
„Irgendjemand musste Will Davis endlich mal das Maul stopfen, das ist passiert.“
Beverly machte überrascht einen Schritt nach hinten. „Was?“, flüsterte sie fassungslos. „Du hast angefangen?“
Ich rieb mir ein plötzliches Frösteln von den Armen und wünschte mir, dass ich mich irgendwie verdrücken könnte, ohne dass es jemand bemerkte.
„Ich habe nicht angefangen, nein“, antwortete Chris. „Er ist mir auf die Nerven gegangen und deswegen habe ich ihm eine verpasst.“ Dabei warf er einen schnellen Blick zu Ethan. Seine Augen waren so eng zusammengekniffen, dass man sie nicht mal mehr Schlitze nennen konnte. Als er wieder nach den Autoschlüsseln griff, sah ich, dass seine Fingerknöchel ebenfalls aufgeschürft waren. Er zog das blutige Taschentuchschnipsel aus der Nase und warf es auf die Straße. „Will hat’s verdient, also können wir das Thema jetzt bitte beenden und essen gehen?“
„Was denkst du denn, welches Restaurant dich mit so einem blutig geschlagenen Gesicht reinlassen wird?“, schoss Beverly zurück. Offensichtlich war sie mit ihrer Geduld am Ende. „Ganz bestimmt nicht das St. James Steakhouse! Und was soll Susan jetzt von dir denken? Wir haben ihr versprochen, sie einzuladen, um euren Sieg zu feiern.“
Was? Warum musste sie mich denn in die Sache hineinziehen? Ein eiskalter Schauer kroch mir durch den Körper. Er wurde stärker und heiß, als Beverly Chris dazu zwang, mich anzusehen. „Du wirst dich augenblicklich bei der Freundin deines Bruders entschuldigen, weil du uns den Abend ruiniert hast. Und sie hat sich sogar noch um dich gekümmert.“
Grundgütiger, ich hatte ihm doch nur das Blut aus dem Gesicht gewischt. Ich wollte nicht, dass er sich entschuldigte. Aber ich war zu baff, um auch nur eine Silbe rauszubringen, als sich unsere Blicke auf dem dunklen Parkplatz verfingen.
Chris sah mich mit einer Miene, die mir das Herz schmerzvoll gegen die Rippen schlagen ließ. „Es tut mir leid.“
Ich biss mir auf die Lippe und rückte noch ein Stückchen näher an Ethan heran. Darauf wurde Chris’ Blick noch finsterer. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber ich konnte nicht ausmachen, was. Für Chris machte die Tirade seiner Mutter offensichtlich einen Sinn, auch wenn ich nicht schlau daraus wurde.
Ich konnte Chris nicht länger in die Augen sehen. Als ich meine Stimme endlich wieder gefunden und genug Luft in die Lungen gesaugt hatte, um zu sprechen, legte ich beschwichtigend eine Hand auf Beverlys Arm. „Wirklich, es besteht überhaupt kein Grund, sich bei mir zu entschuldigen. Ich steh sowieso nicht so besonders auf schicke Restaurants. Wir können einfach fahren und … und … Sie können mich bei mir zu Hause absetzen. Das ist schon okay.“
„Blödsinn, natürlich kommst du mit uns. Wir gehen aus und holen uns ein Siegermahl“, widersprach Ethan in fröhlichem Ton und verblüffte damit uns alle. Er schlug Chris auf die Schulter. „Bei Burger King interessiert sich niemand für deine hässliche Fresse.“
Ein leichtes Grinsen umspielte Chris’ Mund. „Danke gleichfalls, Bro.“
Zu meinem Erstaunen war es Ethan gelungen, die unangenehme Situation aufzulösen. Selbst seine Mutter gab sich seufzend geschlagen. Vermutlich war dieses seltsame Gespräch nur auf den Schock zurückzuführen, dass sich ihr Sohn geprügelt hatte. Ich sah, wie ihre Hände zitterten, als sie über Chris’ unverletzte Wange streichelte. „Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht anschreien sollen.“
Er akzeptierte ihre Entschuldigung mit einem Nicken und stieg ins Auto. Wir folgten seinem Beispiel. Als er den Motor anließ und Beverly sich auf dem Beifahrersitz anschnallte, meinte sie mit beiläufiger Stimme: „Ach, übrigens, die nächsten beiden Wochen hast du Hausarrest, Freundchen.“
Chris fiel die Kinnlade herunter, aber offensichtlich betrachtete er die Strafe als milde, denn er schloss den Mund widerspruchlos und fuhr uns nach Arroyo Grande.
Kapitel 9
ALS WIR DEN Burger King betraten, war nicht besonders viel los. Das Gedränge, das kurz vor Filmbeginn im Kino an der Ecke, hier immer herrschte, hatten wir offenbar verpasst, was ich keineswegs bedauerte. Während Chris und seine Mom an die Theke gingen, um die Bestellung aufzugeben, beschlagnahmten Ethan und ich einen Tisch im hinteren Bereich des Restaurants. Er stand direkt vor einem großen Fenster, aber das Licht im Restaurant war so grell, dass ich in der Scheibe nur eine Spiegelung der Einrichtung und meines bleichen Gesichts sah. Musik driftete von irgendwo zu uns herüber, gerade laut genug, dass man sie hörte, aber nicht so laut, dass man sich nicht mehr unterhalten konnte … was Ethan und ich im Moment ohnehin nicht taten.
Er hatte sich ein paar Strohhalme auf dem Weg zum Tisch gegriffen und pulte nun das Papier ab. „Ist alles in Ordnung?“, murmelte er.
„Ja. Warum fragst du?“
„Du warst so still auf der Fahrt hierher.“
Ich stibitzte mir einen der Strohhalme und begann ihn auszuwickeln. Meine ständig kalten Finger waren im Moment zu Eiszapfen gefroren, was bei mir in Stresssituationen nicht ungewöhnlich war, aber die Fummelei an der Papierverpackung wurde dadurch beinahe schmerzhaft. „Na ja, das waren wir doch alle“, antwortete ich und das war nicht mal gelogen.
„Schon, aber trotzdem. Du hast ziemlich besorgt gewirkt, als Chris mit dem blauen Auge rauskam.“
„Das war ich auch.“ Ich sah auf und versuchte, so ernsthaft wie möglich zu klingen, damit er verstand, was mich wirklich derart beunruhigt hatte. „Es lag eher daran, dass deine Mom es sich an so einem wichtigen Abend für deinen Bruder nicht verkneifen konnte, ihn anzuschreien. Ich hasse Streitereien.“ Meine Stimme wurde zu einem Flüstern. „Davon gibt’s bei mir zu Hause mehr als genug.“
Ethan klopfte mit dem Strohhalm auf den Tisch. „Deine Eltern schreien dich an?“
„Nicht mich, aber sie schreien sich gegenseitig ziemlich oft an.“ Ich warf einen Blick zur Theke und stellte fest, dass Chris und Beverly auf dem Weg zu uns waren. Beide hielten mit Burgern und Pappbechern voll beladene Tabletts in der Hand. „Lange Geschichte. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sie zu erzählen“, beendete ich unsere Unterhaltung.
Ethan folgte meinem Blick und nickte.
Chris pflanzte sich neben mir hin. Hatte ich’s doch geahnt, dass ich besser mal den Platz neben Ethan statt gegenüber von ihm hätte wählen sollen. Ehrlich, wie soll man seinen Burger genießen, wenn der berauschende Duft von Axe einem die ganze Zeit den Verstand vernebelt? Chris hatte wohl eine Dose von dem Zeug in seiner Sporttasche und es nach dem Duschen aufgesprüht. Vor der Prügelei mit Will. Während ich daran dachte, fragte ich mich, was der Kerl wohl gesagt hatte, dass Chris es für nötig befand, ihm seine Faust ins Gesicht zu rammen. Niemand erwähnte den Vorfall beim Essen, aber ich war mir sicher, dass Will sich schon ziemlich übel verhalten haben musste. Vielleicht konnte Ethan ja später mehr darüber herausfinden und es mir morgen erzählen.
Er und Chris unterhielten sich gerade über die Taktik des anderen Teams und ich verstand nur Bahnhof. Woher sollte ich auch wissen, was ein Doppeldribbling war oder ein Alley-Oop-Anspiel und – noch seltsamer – ein Rückspielverstoß. Das erinnerte mich aber wieder daran, dass ich Ethan unbedingt darüber ausquetschen musste, warum er Basketball aufgegeben hatte, sobald ich ihn allein erwischte.
Nachdem er sich im Spiel ausgepowert hatte, musste Chris seine Akkus offensichtlich wieder aufladen. Während ich mir die Finger an meinem Burger wärmte und mit Genuss kaute, verschlang er ganz drei! Und dann klaute er mir obendrein noch eine Handvoll von meinen Pommes, als seine alle waren.
Da ich noch nie ein großer Esser war, machte es mir nichts aus. Als jedoch nur noch eine Pommes übrig war und seine Hand sich wieder zu mir herüber stahl, schnappte ich sie mir schnell und stopfte sie mir mit genüsslichem Grinsen in seine Richtung in den Mund.
„Fiesling“, formte er lautlos mit verschmitztem Lächeln.
„Hey, du kannst mich nicht zum Essen einzuladen und mir dann die Hälfte wegfuttern“, erwiderte ich scherzend. Mit einem Blick zu Beverly vergewisserte ich mich, dass sie immer noch ins Gespräch mit Ethan vertieft war, ehe ich mich näher zu Chris beugte und mit gesenkter Stimme hinzufügte: „Außerdem ist es ja wohl nicht meine Schuld, dass du deine Chance auf ein fettes, ungesundes Steak vertan hast, von dem du vielleicht eher satt geworden wärst.“
„Ach, wen kümmert’s?“, gab er zurück und zuckte mit den Schultern. „Ethans Steaks schmecken sowieso viel besser.“
„Das stimmt“, beteiligte sich nun auch Ethan an unserem Gespräch. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er zuhörte. „Irgendwann musst du mich mal für dich kochen lassen.“
„Wie jetzt?“ Ich nagelte ihn mit herausforderndem Blick fest. „War das etwa eine Einladung zum Dinner am nächsten Samstag?“
„Darauf kannst du wetten. Aber ich kann das nicht allein. Chris muss mir helfen.“ Er sah seinen Bruder an, als sei das Aufforderung genug.
Chris verzog das Gesicht. „Nein, ich koche nicht gern für Gäste, Ethan. Das weißt du.“ Er klaute sich ein paar Pommes von seiner Mutter und nahm genussvoll den letzten Bissen von ihrem Cheeseburger, als sie ihn gnädig anbot.
„Ach komm schon. Warum stellst du dein Licht immer unter den Scheffel? Sie wird es mögen. Du bist ein hervorragender Koch“, versuchte Ethan seinen Bruder zu überreden.
Nach dem Dessert zu urteilen, das Chris neulich zubereitet hatte, konnte ich Ethan nur zustimmen. Und plötzlich wollte ich unbedingt, dass er nachgab und für mich kochte, wenn auch nur, damit ich einen Vorwand hatte, Ethan bei etwas zuzusehen, das er wirklich gerne tat. Ich legte den Kopf schräg und schaute Chris mit meinem liebevollsten Dackelblick an. „Biiiiitte?“
Er lachte leise, offensichtlich gerührt, schüttelte aber trotzdem den Kopf. „Nein.“
„Komm schon, sei kein Spielverderber. Ich verspreche auch, alles aufzuessen, selbst wenn es grauenhaft schmeckt.“
Sein geschmeicheltes Lächeln verschwand und er durchbohrte mich mit einem hitzigen Blick in den Augen. „Es wird nicht grauenhaft schmecken.“
Plötzlich brachte ich nur noch ein raues Flüstern hervor. Wie schaffte er es bloß, mich in nur zwei Sekunden derart aus der Fassung zu bringen? „Heißt das, du kochst mit deinem Bruder für mich?“
„Mmm.“ Er stierte nachdenklich in die Luft. „Nö.“
Verflixt. Ich seufzte über meine vernichteten Hoffnungen, aber eine Sekunde später schoss mir eine fantastische Idee in den Sinn. Ich gab mir alle Mühe, seinen hitzigen Blick zu imitieren – vermutlich jedoch erfolglos – und sagte mit einem Flirten in der Stimme: „Du bist mir was schuldig.“
Stumm musterte Chris seine Familie einen Moment, ehe er sich wieder auf mich fixierte und die Finger an einer Serviette abwischte. „Das ist wohl so.“ Er hielt kurz inne. „Du hast Glück, dass ich Hausarrest und somit am Samstag sowieso nichts Besseres vorhabe.“
Das kam einem Ja gleich und ich fing an zu grinsen.
„Oh, wie schön“, sagte Beverly. „Aber du solltest früher da sein, um beim Kochen zuzusehen, Susan. Ich verspreche dir, es ist ein wahres Vergnügen sie zusammen in der Küche zu erleben.“
Ich lehnte mich zurück, legte den Kopf gegen die Glasscheibe neben mir und verhakte meinen Blick mit Ethans. „Tatsächlich?“
Er wackelte mit den Augenbrauen. „Wenn es meine Mom sagt, muss es wohl so sein.“
„Seid ihr fertig, Jungs?“, fragte Beverly einen Moment später, stapelte Pappbecher ineinander und beseitigte das Chaos, das die Jungs mit dem Papier und den Extra-Ketchup-Päckchen angerichtet hatten. Als sie aufstand, warf sie sich schwungvoll die Handtasche über die Schulter. Etwas zu schwungvoll, denn sie schlug Chris direkt ins Gesicht.
„Verdammt, Mom!“, raunte Chris leise und hielt sich dabei die ohnehin schon angeschlagene Nase. Die Augen kniff er vor Schmerz zusammen.
„Oh, Liebling, das tut mir ja so leid!“ Sie ließ die Tasche fallen und beugte sich zu ihrem Sohn. Zärtlich strich sie ihm über die Haare und tätschelte ihm die Schulter.
Als Chris die Hände senkte und die Lider wieder öffnete, hatten seine Augen einen seltsamen Glanz bekommen, was nach einem Schlag auf die Nase ganz normal war. Ich wusste, wovon ich redete. Seit ich Fußball spielte, hatte ich schon mehr Ellbogen ins Gesicht bekommen als mir lieb war, und man konnte nichts gegen die Tränen tun, die einem in diesem Moment in die Augen stiegen. Blut lief über seine Finger. „Fuck“, zischte er, sprang auf und lief in Richtung der Toiletten.
„Autsch“, wimmerte ich, denn ich konnte seinen Schmerz in jeder Faser meines Körpers nachfühlen.
„Ach, er muss nur lernen, sich von Prügeleien fernzuhalten“, scherzte Ethan. „Oder zumindest fern von ihr.“ Er deutete mit dem Kinn zu Beverly und lächelte mich verschwörerisch an. An der Tischkante und der Sitzbanklehne abgestützt, hievte er sich hoch und schwang sich aus der Nische. „Ich sehe lieber mal nach ihm, damit er nicht alles vollblutet und sie wegen Mom noch die Polizei holen, bevor wir hier draußen sind.“
„Wir warten beim Auto auf euch“, sagte Beverly, während sie den Tisch abräumte. Sie schob die Tabletts in den Abräumwagen an der Wand und stellte die Becher in den dafür vorgesehenen Korb.
Ich folgte ihr zum Ausgang, änderte aber im letzten Augenblick meine Meinung. „Ich komme gleich nach; ich gehe mir noch schnell die Hände waschen.“ Beverly nickte und ich machte mich auf zur Damentoilette. Als ich die Tür aufstieß, hörte ich Ethans Stimme nebenan im Männerklo. Ich wusste deshalb, dass er es war und nicht Chris, weil seine Stimme nicht so klang, als sei seine Nase gebrochen.
„Es ging dabei um mich, stimmt’s?“, sagte er in schuldbewusstem Ton. Meine Neugier sorgte dafür, dass ich wie angewurzelt stehen blieb und die Ohren spitzte.
Chris antwortete nicht und Ethan fügte hinzu: „Du weißt, dass du das nicht tun hättest müssen.“
„Da irrst du dich“, gab Chris schroff zurück. „Ich musste es tun. Und ich bereue es nicht im Geringsten. Will verlangt schon die ganze Zeit nach einem Arschtritt. Du andererseits hättest Susan nicht nach Hause bringen sollen.“
Ich lehnte mich zurück, den Blick auf die Figur an der Tür gerichtet, und stieß ein „hä“ aus, als ob der Aufkleber etwas mit meiner Verwunderung zu tun hätte. Glücklicherweise war niemand sonst hier hinten, der mitbekam, dass ich mich ein wenig verrückt aufführte.
„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Ethans Stimme klang leise, schuldbewusst. Ich glaubte ihm kein Wort und Chris offensichtlich auch nicht.
„Spiel hier nicht den Ahnungslosen, Ethan. Du weißt ganz genau, was ich meine. Was willst du mit ihr beweisen?“
Ein dumpfes Geräusch ließ mich einen Satz nach hinten machen; ich prallte geradewegs an die Wand. Aua. Ethan hatte sich wohl offensichtlich gegen die Tür gelehnt. „Ich will gar nichts beweisen, ich mag sie“, sagte er.
Chris lachte. „Auf die gleiche Art, wie sie dich mag?“
„Vielleicht?“
„Vielleicht auch nicht.“
Chris’ sarkastische Stimme bereitete mir eine Gänsehaut, die meinen ganzen Körper überzog wie Moos den Waldboden. Er hatte mir schon einmal gesagt, dass Ethan und ich seiner Meinung nach nicht zusammenpassten, aber ich hatte angenommen, dass er mich nur ärgern wollte. Als er Ethan jetzt dieselbe Anschuldigung an den Kopf schleuderte, fragte ich mich, wie viel Wahrheit in seinen ganzen bisherigen Bemerkungen wohl gesteckt hatte – und ob ich das wirklich herausfinden wollte.
Vermutlich war das ein guter Moment, sich zurückzuziehen und zu vergessen, was ich gehört hatte, aber die masochistische Seite in mir wollte unbedingt weiterlauschen.
„Sue scheint ein nettes Mädchen zu sein“, fuhr Chris nach einem Moment des Schweigens fort. „Du wirst sie verletzen, wenn du ihr nicht bald die Wahrheit sagst.“
„Weißt du was?“, knurrte Ethan. „Ich habe keine Lust mehr auf diesen Scheiß. Komm raus, wenn das Nasenbluten aufhört.“
Als die Tür zum Herrenklo aufflog, flüchtete ich mich panisch in die Damentoilette und drückte mich dort an die Wand, während hinter mir die Tür langsam zufiel. Bevor sie sich komplett schloss, hörte ich Chris mit nachdrücklicher Stimme rufen: „Ethan, ich bin dein Bruder. Es ist mir egal, verstehst du?“ Eine kurze Pause. „Und Mom auch.“
Das war das Letzte, was ich hörte, weil sich die Tür inzwischen fest geschlossen hatte, und mir blieb nichts anderes übrig, als aufs Klo zu gehen. Aber Chris’ letzte Worte ließen mich nicht los. Was war ihm egal? Natürlich bedeutete ihm Ethan etwas, sonst hätte er nicht all diese Dinge gesagt. Also was war diese spezielle Sache, die ihm und Beverly nicht wichtig war?
Ich wusch mir kopfschüttelnd die Hände und verfluchte den Moment, in dem ich das Kino gegen ein bescheuertes Basketballspiel eingetauscht hatte.
Als ich zum Wagen kam, war Chris noch nicht da. Das Nasenbluten musste schlimmer gewesen sein, als es aussah. Ethan sagte nichts, als ich mich neben ihn auf den Rücksitz setzte. Er starrte einfach weiter aus dem Fenster. Ich presste die Stirn gegen die kühle Scheibe auf meiner Seite und sinnierte darüber, ob das jetzt das Ende unserer Romanze war, die sich wahrscheinlich ohnehin mehr in meinem Kopf abgespielt hatte als in der Wirklichkeit. Auch als Chris endlich aus dem Fastfood-Restaurant kam und uns nach Hause fuhr, hielt ich den Blick auf die am Fenster vorbeisausenden Straßenlaternen gerichtet.
Da ich ihm an jeder Kreuzung Anweisungen gab, fand er mein Haus mühelos und parkte wenig später davor, um mich aussteigen zu lassen. Ich dankte Beverly für die Einladung und sagte Ethan, er solle mich anrufen, falls er Lust darauf hatte, nächste Woche irgendwann mit mir abzuhängen. Ohne mir auch nur einen Blick zu schenken, nickte er.
Vielen Dank auch, Chris Donovan, dass du mir alles versaut hast! Auch wenn es nur eine Fantasie gewesen war, spätestens jetzt war sie wie eine Seifenblase zerplatzt. Zähneknirschend warf ich die Autotür zu und ging ins Haus.
Es war erst kurz vor elf und meine Eltern waren beide noch auf – und stritten ausnahmsweise mal nicht. Sie schauten fern und sagten Hallo, als ich reinkam. Für einen kurzen Augenblick vergaß ich den verwirrenden Abend, lehnte ich mich in den Türrahmen zum Wohnzimmer und betrachtete sie. Mom hatte die Sockenfüße unter Dads Beine geschoben. Den Blick auf den Bildschirm gerichtet, rieb er über ihre Wade und aß Brezeln aus einer Schüssel, die zwischen ihnen stand.
Warum konnte es nicht immer so sein?
„Ist alles in Ordnung, Schatz?“, fragte meine Mutter und riss mich aus meinen Gedanken. Ihre Blicke richteten sich verwundert auf mich.
Ich schenkte ihnen ein liebevolles Lächeln. „Sicher. Es war nur ein seltsamer Abend. Ich bin müde. Bis morgen.“
Mom hauchte mir einen Luftkuss zu, bevor ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer machte.
Nachdem ich geduscht und den Pyjama angezogen hatte, kroch ich unter die Decke und fischte nach meinem Handy auf dem Nachttisch. Eine Nachricht wartete auf mich, aber nicht von Ethan, wie ich gehofft hatte. Sie war wieder einmal von Chris. Träum was Hübsches, Sonnenschein las ich.
Einen Moment lang verspürte ich das heftige Verlangen, das Handy durchs Zimmer zu schleudern und mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen. Ethan hatte ein Geheimnis. Er mochte mich, aber er log mich an. Und Chris kannte offensichtlich dieses Geheimnis, aber er schickte mir nur blöde Nachrichten. War das etwa fair?
Ich überlegte, ob ich Ethan eine SMS schicken und ihn über das Gespräch in der Toilette ausfragen sollte, aber das war natürlich eine dämliche Idee. Er würde mich hassen, weil ich gelauscht hatte, und wenn er dieses Geheimnis selbst vor seinem eigenen Zwillingsbruder verschwieg, würde er es mir erst recht nicht anvertrauen.
Das Gespräch ging mir jedoch nicht aus dem Kopf und der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Frustriert warf ich mich von einer Seite zur anderen und knipste irgendwann die Nachttischlampe an. Entschlossen griff ich zu meinem Handy.
Bist du noch wach? tippte ich und drückte auf … ja, wem sollte ich die Nachricht schicken? Ethan oder Chris?
Ich legte den Kopf auf die angewinkelten Knie und stieß ein frustriertes Stöhnen aus. Ethan war ganz sicher die bessere Wahl, weil es schließlich um ihn und mich ging, und wir konnten doch auch sonst so gut miteinander reden. Zumindest über unkomplizierte Themen wie Bücher und Musik. Er hatte sich jedoch vorhin so merkwürdig verhalten, dass ich bezweifelte, er würde glücklich darüber sein, wenn ich ihn mit diesem speziellen Thema am Telefon konfrontierte.
Chris andererseits war ein Idiot und er würde triumphieren, wenn ich ihm schrieb, aber er schien auch eher bereit als sein Bruder, mir dabei zu helfen, über gewisse Dinge Klarheit zu gewinnen. Tief einatmend richtete ich mich auf und schickte ihm die Nachricht.
Jetzt schon, kam fünfundvierzig Sekunden später seine Antwort.
Es war Viertel nach zwölf. Ich hätte vor dem Abschicken der SMS auf die Uhr schauen sollen. Aber da ich ihn nun schon mal aufgeweckt hatte, konnte ich die Sache auch durchziehen.
Also tippte ich: Kann ich über etwas mit dir reden?
Du kannst mich jederzeit anrufen. 😉
Agh, ich hatte auf ein „Klar, was ist los?“ gehofft. Ihn anzurufen erschien mir als derart dumme Idee, dass sich sogar meine Nackenhärchen vor lauter Protest heftig sträubten. Es kam mir fast so vor, als ziehe er mir damit eine Art verpflichtende Zusage aus der Nase. Andererseits wollte ich unbedingt die Wahrheit herausfinden …
Schwer schluckend stählte ich meine Nerven, dann wischte ich mit dem Daumen über den Bildschirm und rief ihn an.
„Hey, Sonnenschein. Was bedrückt dich?“ Seine Stimme klang ein wenig schläfrig, aber nicht sehr. Eigentlich wirkte er ziemlich überrascht, dass ich auf sein Angebot eingegangen war und ihn mitten in der Nacht angerufen hatte.
„Etwas, das du heute getan hast“, gab ich vorsichtig zu.
Ein Wimpernschlag verging, dann sagte er: „Angefangen mit dem Angebot für einen Knutschfleck kann das alles Mögliche sein.“ Sein leises Lachen drang zu mir. „Geht’s auch etwas genauer?“
Warum in Dreiteufelsnamen musste er den Knutschfleck erwähnen? Ein Schauer prickelte mir über die Haut, als ich mich an das Gefühl seiner Lippen auf meinem Hals erinnerte. Gedankenverloren rieb ich mir die Stelle und sank ins Kissen. „Ich habe heute etwas Schreckliches getan“, fing ich mit wimmriger Stimme an. „Als du wegen des Nasenblutens zur Toilette musstest, bin ich auch aufs Klo gegangen.“
„Okay, das ist wirklich keine große Sache, Susan. Irgendwann muss jeder mal pinkeln“, veralberte er mich.
Ich wünschte mir, dass er in meinem Zimmer wäre, mir gegenüber, damit ich ihm für diese Bemerkung eine weitere Kopfnuss geben konnte. Da er aber dummerweise zwei Meilen entfernt war, blieb mir nichts anderes übrig, als genervt die Augen zu verdrehen. „Ich war vor der Tür, als du dich mit Ethan in der Toilette unterhalten hast. Ich habe euch gehört.“
Das Schweigen, das darauf folgte, brachte mich fast um. „Chris …?“
Er räusperte sich und jegliche Belustigung war aus seiner Stimme verschwunden. „Was genau hast du gehört?“
Tja, das war ziemlich schwierig zu erklären. Ich wollte nicht das ganze Gespräch wiederholen, also sagte ich nur: „Irgendetwas stimmt nicht und du weißt, was es ist. Da es mich betrifft, denke ich, du solltest es mir sagen.“
„Nein, das denke ich nicht.“ Seine Antwort kam so knapp, so endgültig, dass es mich unwillkürlich fröstelte.
„Dann sag mir wenigstens, warum du dich mit diesem Jungen geprügelt hast; diesem Will.“
„Kann ich nicht, tut mir leid.“ Ebenso entschlossen wie zuvor.
Allmählich nagte der Frust an mir. Chris ließ mich auflaufen. „Schön. Dann brauche ich mich auch nicht länger mit dir zu unterhalten.“ Verärgert drückte ich ihn weg, ohne Gute Nacht zu sagen, aber nur zehn Sekunden später rief er wieder an.
„Das war unhöflich“, sagte er statt eines Grußes.
„Mir etwas zu verheimlichen, obwohl du weißt, dass ich deinen Bruder mag – das ist unhöflich“, schoss ich zurück.
„Das mag sein, aber ich kann’s nicht ändern. Wie du mir erst neulich so nett unter die Nase gerieben hast, geht mich die Sache nichts an.“
Ich seufzte tief. Mir gefiel sein Zynismus zwar nicht, aber er hatte ja recht. Ich hatte gewollt, dass er uns in Ruhe lässt, also warum im Namen der Vernunft hatte ich ihn überhaupt gefragt? Die Antwort kannte ich allerdings ganz genau. Ich war drauf und dran, mich ernsthaft in seinen Bruder zu verlieben, und musste einfach die Wahrheit wissen. „Wie wär’s, wenn ich rate, und du sagst bloß Ja oder Nein?“
„Oh nein.“ Sein Lachen wärmte mich. „So funktioniert das nicht.“
Verflixt, so kamen wir nicht weiter. Ich kniff die Augen zu, rieb mir über die Nase und stöhnte.
„Mach das noch mal –“ Chris’ Stimme klang mit einem Mal rau und animalisch. „Und ich frag dich als Nächstes, was du gerade anhast.“
Als mir klar wurde, dass ich direkt ins Telefon gestöhnt hatte, brannten mir die Wangen vor Scham. „Chris, du bist so ein Knallkopf.“
„Ja, vielleicht. Aber in einer Woche hast du ein Date mit dem Knallkopf.“
Wie zum Teufel kam er denn darauf? „Nein, habe ich nicht.“
„Oh doch, hast du. Du kommst zu mir, ich werde für dich kochen und wir werden zusammen essen. Das klingt für mich sehr wohl nach einem Date.“
Das konnte er unmöglich ernst meinen. Wollte er mich veralbern?
„Und wie es sich für ein echtes Date gehört“, fuhr er fort, „werde ich dich küssen, bevor der Abend zu Ende ist.“
„Wenn du das wirklich glaubst, bist du verrückt.“
„Ach ja? Man hat mich schon Schlimmeres genannt.“ Er lachte leise und ich hasste mich dafür, dass dieses Lachen erneut wohlige Schauer in mir auslöste. Mehr noch, jetzt fragte ich mich, was er wohl im Bett anhatte. Argh!
„Du solltest langsam die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Ethan, so nett er auch sein mag, vielleicht einfach nicht der Richtige für dich ist“, stellte Chris in den Raum.
Tja, nach all dem Unsinn, den sie über mich geredet hatten, zwangen sie mich tatsächlich dazu. „Aber du bist der Richtige, oder wie?“, giftete ich.
„Wenigstens habe ich keine dunklen Geheimnisse.“
Grundgütiger, jetzt war Ethans Geheimnis auch noch dunkel. Was hatte er getan? Seine letzte Freundin um die Ecke gebracht und im Garten verbuddelt?
„Ich denke, es ist spät und höchste Zeit, dieses Gespräch zu beenden“, erwiderte ich.
„Wirklich? Zu schade.“ Er meinte es nicht Ernst. Oder vielleicht doch, aber er ließ es so klingen, als ziehe er mich tierisch auf. Raunend fügte er hinzu: „Bevor du auflegst, könntest du bitte noch mal für mich stöhnen?“
„In deinen Träumen“, brachte ich durch zusammengebissene Zähne heraus, was ihn nur mal wieder sehr amüsierte.
„Dann sehe ich dich wohl demnächst. Nacht, kleine Sue.“
Ich drückte ihn kopfschüttelnd weg und blickte mit einem mürrischen Stirnrunzeln auf den Bildschirm, der behauptete, ich hätte gerade ganze sechzehn Minuten mit Chris telefoniert. Als ich jedoch das Licht ausschaltete, zog ein Lächeln über mein Gesicht.
Kapitel 10
AM SONNTAGNACHMITTAG NACH dem Essen schrieb ich einen Aufsatz für die Schule und rief anschließend Liza an, ob wir was zusammen unternehmen wollten. Ich wusste, dass Hunter bei ihr sein würde und das gab mir eine vorzügliche Gelegenheit, einige unauffällige Fragen zu stellen, die mir vielleicht Antworten in der Sache Ethan Donovan liefern würden.
Liza meinte, ich solle zu ihr rüberkommen. Sie schauten gerade Iron Man 3, aber der Film wäre schon kurz vorm Ende und sicher vorbei, bis ich dort aufkreuzen würde.
Da Lizas Haus so was wie mein zweites Zuhause war, lief ich gleich die Treppe zu ihrem Zimmer hoch, statt zu warten, bis sie runterkam. Nachdem ich angeklopft hatte, drang ein gedämpftes „Es ist offen“ zu mir durch die Tür. Als ich reinkam, erkannte ich, warum ihre Stimme so dumpf geklungen hatte. Sie lag mit Hunter auf ihrem Bett und hatte das Gesicht seitlich auf seine Brust gelegt, während er sie fest umschlungen hielt.
Unfähig sich zu bewegen, weil ihr Freund sie nicht loslassen wollte, murmelte sie: „Mach’s dir bequem. Ich hole dir etwas zu trinken, sobald der Oger mich hier loslässt.“
„Was niemals geschehen wird“, fügte Hunter hinzu und grinste mich an.
Wir hatten bereits die erste Dezemberwoche, was hieß, dass die beiden inzwischen seit dreieinhalb Monaten zusammen waren … und anscheinend bekam er immer noch nicht genug von ihr. Meine innere Romantikerin hob die Handrückseite an die Stirn und schmolz buchstäblich dahin. Manchmal beneidete ich die beiden um ihre liebevolle Beziehung. Vor allem seit dem Tag, als ich Ethan begegnet war und angefangen hatte, mich in ihn zu verlieben.
„Keine Sorge“, sagte ich lächelnd. „Ich bin nicht durstig und ich weiß ja, wo ich mir ein Glas Wasser holen kann.“ Außer dem Bett an der rechten Wand standen in Lizas Zimmer ein Schreibtisch, ein Schrank und neben der Tür ein Futon. Ich setzte mich in den Drehstuhl vor ihrem Tisch und drehte mich, nach draußen schauend, langsam hin und her. Im Baum vor dem Fenster flogen gerade Vögel auf.
„Du warst diese Woche so oft mit Ethan zusammen, ich bin überrascht, dass du heute überhaupt die Zeit gefunden hast vorbeizuschauen“, scherzte Liza.
Ich vergaß die Vögel und drehte ich mich in ihre Richtung. „Wir waren gestern Abend aus. Ich dachte mir, es sei okay, mal eine Pause einzulegen und zur Abwechslung etwas Zeit mit meinen anderen Freunden zu verbringen.“ Spaßeshalber streckte ich ihr die Zunge raus.
„Wie hat dir das Basketballspiel gefallen?“, fragte Ryan.
„Hm?“ Woher in aller Welt wusste er das denn schon wieder? Keiner meiner Freunde war dort gewesen und ich hatte auch noch niemandem davon erzählt. Aber sicher hatte Ethan – oder Chris – ihn darüber aufgeklärt. Ich neigte dazu zu vergessen, dass sie ebenfalls mit ihm befreundet waren. „Na ja, es war interessant, aber nicht so toll wie Fußball. Die Sharks haben gewonnen, also schätze ich mal, es war okay.“
„Und das Essen bei Burger King danach?“ Er lachte, wohl wissend, dass er heute genug Material hatte, um mich aufzuziehen.
Völlig baff funkelte ich ihn mit finster blitzenden Augen an. Liza ebenfalls, während sie sich in seinen Armen wand, um ein wenig mehr Luft zu bekommen. Sie stützte ihr Kinn auf seine Brust. „Wie kommt es, dass du Dinge über meine Freundin weißt, die nicht einmal mir bekannt sind?“ Sie drehte den Kopf zu mir. „Und wann genau wolltest du mir übrigens davon erzählen?“
Ich hob die Augenbrauen. „Öhm … jetzt?“ Ich nahm einen Stift vom Tisch und klopfte damit abwesend auf meinen Oberschenkel, während ich den beiden über den vergangenen Abend berichtete. Da Hunter bereits so gut wie über alles Bescheid zu wissen schien und ich Liza ohnehin davon erzählt hätte, erwähnte ich auch Chris’ blaues Auge und meine Vermutung, dass es etwas mit Ethan zu tun hatte.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Liza.
„Weil ich Ethan und Chris darüber reden gehört habe. Die Prügelei wurde durch eine Bemerkung von diesem Basketballer, diesem Will, ausgelöst.“ Ich machte eine Pause und musterte Hunter eindringlich. „Du weißt nicht rein zufällig, worum es ging?“
Ryan ließ Liza los und richtete sich auf. Er lehnte sich gegen das Kopfteil des Bettes und räusperte sich. „Chris hat gesagt, dass er ein paar Dinge zwischen sich und der Mannschaft klären musste, aber er hat nicht gesagt, was.“
Sollte ich das glauben? Ganz bestimmt nicht. Er klang ernst, das schon, aber er hatte den Kopf gesenkt und wich meinem Blick aus, was meinen Argwohn verschärfte.
„Wusstest du, dass Ethan auch mal im Basketballteam war?“, fragte ich und er nickte. „Warum ist er ausgestiegen?“
„Das weiß ich nicht mit Sicherheit.“
„Dann rate.“
Er seufzte tief. Grundgütiger, er schien sich kaum überwinden zu können, den Mund aufzumachen, und es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis er sich endlich zu einer Antwort bequemte. Warum schien jeder mehr über Ethan zu wissen als ich und trotzdem wollte niemand etwas ausspucken?
Ryan rieb sich über den Nacken. „Ich kann mir vorstellen, dass es etwas mit William Davis zu tun hat. Wie ich höre, kommen die beiden nicht gut miteinander klar.“
„Das ist alles?“ Ich zog eine enttäuschte Grimasse. „Mehr weißt du nicht?“
Er presste die Lippen zusammen, zögerte eine Sekunde und schüttelte dann den Kopf. Eine Sackgasse, wieder einmal. Oh, wie ich das liebte.
Meine Schläfen massierend, schloss ich die Augen und meinte zu Liza: „Da dein klettenhafter Freund dich endlich losgelassen hat, würdest du mir wohl bitte etwas zu trinken holen?“
Liza sprang auf. „Natürlich. Was willst du haben? Mineralwasser oder O-Saft?“
„Whiskey wäre nett, danke.“
Lachend lief sie nach unten, vermutlich nicht auf der Suche nach Alkohol. Sie war etwa zwanzig Sekunden fort, als Ryans sanfte Stimme mich aus meinen frustrierten Grübeleien riss. „Liza sagt, dass du Ethan magst. Also … echt magst.“
Ich hob den Blick und betrachtete einen Atemzug lang forschend sein Gesicht. In seiner Miene lag etwas, das mich an Chris’ Ausdruck erinnerte, als er über Ethan und mich gesprochen hatte. Oh nein, nicht auch noch Hunter. Ich stieß ein Seufzen aus. „Und jetzt ist wohl der Moment, in dem du mir sagst, dass er nicht der Richtige für mich ist?“
Ryan presste kurz die Lippen zusammen. „Würdest du auf mich hören, wenn ich es täte?“
„Vielleicht … wenn mir zur Abwechslung verdammt noch mal irgendjemand sagen würde, was eigentlich los ist! Hat er eine Freundin? Denn das ist das Einzige, was mir in den vergangenen Tagen als Grund für diese Geheimniskrämerei eingefallen ist.“
„Nein, Miller, er hat keine Freundin.“ In Hunters Schmunzeln lag ein Hauch von Ironie, aber der Anlass dafür entging mir. Er sagte jedoch nichts weiter, denn Liza kam mit meinem Glas whiskeyfreiem Orangensaft zurück. Und dem Ausdruck in seinem Gesicht nach zu urteilen, hatte er schon mehr gesagt, als er wollte.
Ein wenig später ließ ich mich von ihnen dazu überreden, nach Misty Beach mitzukommen. Am Strand hatten Ryans Eltern einen wunderschönen kleinen Bungalow. Dort trafen wir Sam, die statt ihres Freundes Nick mitgebracht hatte, weil Tony im Charlie’s kellnerte. Sie schien ebenso gelangweilt wie ich. Liza holte ein Monopolyspiel aus Ryans Zimmer. Wir machten es uns an dem ovalen Küchentisch bequem und vertieften uns in den Kampf um Reichtum, der bis zum Sonnenuntergang andauerte.
Die vielen Häuser und Hotels und der wachsende Geldscheinstapel vor mir bestätigten eines: Glück im Spiel, Pech in der Liebe.
Als Nick beim nächsten Wurf auf der Parkstraße landete, wo ich ein weiteres Hotel stehen hatte, ging er pleite und warf geschlagen die Hände hoch. „Fantastisch, Susan. Mission erfüllt. Nick ist game over.“
„Ah, nicht schmollen, Kleiner.“ Sam klopfte ihm auf die Schulter. „Du kannst sie beim nächsten Mal bei Twister schlagen.“
Ja, das konnte er vermutlich. Aber wegen meines verletzten Knies musste ich, obwohl es nicht mehr wehtat, immer noch wie ein rohes Ei behandelt werden – Twister und auch Fußball würde ich noch eine lange Weile nicht spielen können. Wir machten Schluss, als ich in der nächsten Runde auch Liza in den Bankrott schickte, und gingen mit unseren Getränken ins Wohnzimmer hinüber, wo wir uns auf der weißen Couch um den niedrigen Tisch niederließen. Hunter servierte uns geröstete Erdnüsse. Während ich mir eine nach der anderen in den Mund stopfte und mir das Salz von den Fingern leckte, schweiften meine Gedanken zu Charlie Brown und ich klinkte mich einen Moment total aus.
Erst, als mich eine Nuss am Kopf traf, die Nick geworfen hatte, gelang es mir, alle Gedanken an Ethan zur Seite zu schieben. Spielerisch schlug ich auf Nicks Schulter. „Hey, hat dir deine Mama nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, mit Essen zu werfen?“
„Doch, hat sie.“ Er lachte. „Sie hat aber auch gesagt, dass es unhöflich ist, eine Frage nicht zu beantworten.“
„Hm?“ Ich schaute die anderen verwundert an und so wie es aussah, waren alle Augen auf mich gerichtet. „Was habe ich gemacht?“
Liza war die Erste, die in Gelächter ausbrach, die anderen folgten ihrem Beispiel.
„Mach dir nichts draus, Susan“, tröstete mich Ryan und hob sein Glas zu einem spöttischen Prost. „Ich denke, wir haben unsere Antwort schon erhalten.“
Verflixt, mein Gesicht erstrahlte garantiert gerade in feuerwehrrot. Ich nahm einen Schluck Mineralwasser, um mich abzukühlen, und hoffte, die anderen würden mich nicht allzu sehr damit aufziehen.
Glücklicherweise wechselte Sam das Thema. „Kann mir mal jemand sagen, warum es keinen Winterball in der Grover Beach High gibt? In jeder anderen Schule in jedem anderen Land, in dem ich war, gab es einen. Warum hier nicht?“
„In den vergangenen Jahren gab es immer einen Winterball“, erklärte Liza. „Dieses Jahr ist eine Ausnahme.“
„Warum?“
„Das Budget gibt es nicht her“, sagte Hunter und zuckte mit den Schultern. „Das hat man mir zumindest gesagt.“
Sam biss sich auf die Lippe. „Wie schade.“
Und das war es auch total. Dieses Jahr hätte ich womöglich endlich die Chance gehabt, mit einem echten Date dorthin zu gehen. Die Schulbälle hatten bisher immer viel Spaß gemacht. Ich ging mit einer ganzen Gruppe hin, wobei es egal war, wer wessen Partner war. Aber da meine besten Freundinnen nun alle fest liiert waren, wäre es zu schön gewesen, wenn ich ebenfalls am Arm eines Jungen dort hätte auftauchen können. Ethan hätte dieser Junge sein können.
Vielleicht aber auch nicht …
Wenn sie nur endlich dieses verdammte Geheimnis lüften würden, das würde uns alle weiterbringen.
„Hey, ich habe eine Idee!“, rief Liza plötzlich. Sie setzte sich aufrecht hin und zog die Beine unter sich. Dann packte sie Ryans Arm und schaute ihn an. „Wir könnten doch einen Winterball bei dir veranstalten.“
Er musterte sie mit schräg gelegtem Kopf und gekräuselten Lippen. „Hmmm. An Weihnachten?“
„Ja. Oder Silvester. Das wäre schön, meinst du nicht? Es wäre wie eine Party, aber keine richtige Party. Jeder soll sich dafür in Schale werfen.“
„Hey, wir Mädchen könnten Ballkleider tragen und schicke Frisuren“, schlug Sam mit derselben Begeisterung vor wie Liza.
Zugegeben, die Idee hatte was für sich. Irgendwo in den Tiefen meines Schranks hing noch mein knielanges Spaghettiträgerkleid aus Satin. Ich hatte es nur einmal getragen und wo ich jetzt endlich Kurven vorzuweisen hatte, würde es viel besser sitzen.
Hunter grinste. Ganz eindeutig hatte er eine Entscheidung getroffen und er zögerte auch nicht, diese kundzutun. „Dann ist es beschlossen. Silvesterball bei mir zu Hause. Könnte spaßig werden.“
Liza klatschte in die Hände. „Baby, du bist der Beste!“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu und kniff die Augen zusammen. „Aber lad bitte nicht wieder ganz Grover Beach und die umliegenden Städte ein.“ Wir alle wussten, was sie zu dieser Bemerkung veranlasste. Normalerweise platzte Hunters Haus bei Partys aus allen Nähten. Dreihundert Gäste waren bei ihm keine Seltenheit. „Wie wäre es ausnahmsweise mit einer kleinen, netten Feier, was denkst du?“ Sie stieß ihn in die Seite.
„Okay. Einhundert?“
Sie schenkte ihm einen treuherzigen Blick. „Ich dachte da eher so an fünfzig, vielleicht sechzig.“
„Dein Ernst?“ Er zog eine Grimasse. „Wie kannst du das denn überhaupt eine Party nennen?“
„Das tue ich ja gar nicht. Ich nenne es einen Ball nur für enge Freunde.“ Sie küsste ihn schnell und die Sache war besiegelt. Er konnte nie Nein sagen, wenn Liza ihn mit ihren großen grünen Augen bittend ansah.
„Gut. Also nur die Fußballmannschaft und ein paar mehr. Aber als Entschädigung trägst an diesem Abend besser etwas Rückenfreies, Matthews.“ Er strich ihr Haar zur Seite und küsste sie auf den Nacken. Dann zog er sie fester an sich und fragte in die Runde: „Wer hat Lust auf eine Partie Catch Phrase?“
*
Es war schon lange dunkel, als ich an diesem Abend nach Hause kam. Nach meinem unangenehmen Gespräch mit Hunter hatten wir stundenlang Catch Phrase und Pictionary gespielt. Vom Lachen tat mir das ganze Gesicht weh; es fühlte sich so an, als hätte ich den ganzen Nachmittag mit meinen Mundwinkeln Gewichte gestemmt.
Unglaublich, wie schnell ein paar vergnügliche Stunden mit Freunden mich aufheitern konnten. Ich hatte es wirklich nötig gehabt, meine Gedanken von Ethan und seinem Geheimnis abzulenken – worin das auch immer bestand. Überhaupt, wie schlimm konnte es schon sein? Hunter hatte gesagt, er hätte keine Freundin, und Hunter konnte man immer zu hundert Prozent vertrauen. Und Ethan war sicherlich kein Axtmörder, der die Mädchen umbringt, mit denen er ausgeht. Oder doch? Oh Mann, diesen lächerlichen Gedanken sollte ich mir besser gleich aus dem Kopf schlagen. Da nahm ich doch lieber an, dass er einfach nur schwul war.
Ich lachte über die Vorstellung … bis der Blitz der Erkenntnis mich mit voller Wucht traf und mich derart plättete, als hätte mich ein Achtzehntonner überrollt.
Ach du Scheiße! Sitzen. Ich musste mich hinsetzen. Sofort. Im Raum gab es plötzlich nicht mehr genug Luft zum Atmen.
Ethan – schwul. Konnte das sein? Er war so nett, so höflich, so verständnisvoll. So charmant und unglaublich süß. Aufstöhnend schlug ich mir die Hände vors Gesicht. Konnten all diese Dinge etwa Hinweise darauf sein? Die Tatsache, dass ich mich in seiner Nähe so wohl fühlte – wie mit einer guten Freundin?
Nein. Nein! Ich sprang auf und lief durchs Zimmer. Auch Hetero-Jungs waren nett und süß. Ich sollte keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Vor allem nicht, wenn sie so schwerwiegend und bedeutsam waren wie das. Es durfte einfach nicht wahr sein. Ethan in einer Beziehung mit einem anderen Mädchen? Damit konnte ich umgehen. Ich würde ihn einfach dazu bringen, sie zu verlassen und sich in mich zu verlieben. Ethan als Serienkiller? Auch gut. Dann würde ich eben warten, bis er wieder aus dem Gefängnis freikam. Aber falls er gar kein Interesse an Mädchen hatte …? Daran konnte ich beim besten Willen nichts ändern, oder?
Meine Knie wackelten und mein Herz hämmerte so heftig, dass ich fürchtete, jeden Moment könnte das Haus von der Erschütterung über mir zusammenbrechen. Ich sank auf den Stuhl und schlug den Kopf auf den Tisch. Bitte alles, aber nicht das. „Gott, bitte, gib mir doch wenigstens eine faire Chance …“
Mein Handy piepte neben mir und ich riss den Kopf hoch. Warum ich mir überhaupt so große Hoffnungen machte, war mir unerklärlich. Ethan würde mir nie eine Nachricht nach zehn Uhr abends schicken. Chris allerdings schon und ich schnaufte tief, als ich sie las.
Lust auf ein weiteres mitternächtliches Schwätzchen? ^^
Nicht heute sendete ich zurück. Ich war jetzt wirklich nicht in der Stimmung, mich mit ihm zu unterhalten, denn meine ganze Welt war gerade in sich zusammengebrochen. Außerdem wäre die Versuchung zu groß, ihn danach zu fragen, und wenn ich mich täuschte, würde ich mich nie wieder herausreden können. Der Einzige, der das für mich klären konnte, war Ethan. Und ich würde ihn ganz bestimmt nicht am Telefon danach fragen. Zu viel Chaos herrschte im Moment in meinem Kopf. Deshalb beschloss ich, mich bis morgen in der Schule zu gedulden. Das gab mir außerdem reichlich Zeit, mir bis dahin die richtigen Worte zu überlegen, denn „Ethan, bist du vielleicht schwul?“ war wohl kaum der richtige Aufhänger für dieses Gespräch.
Aber natürlich kam eine weitere Nachricht von Chris. Warum nicht? Ich fand gestern Nacht mit dir schön 😉
Weil du die Art von Ärger bist, die ich im Moment so rein gar nicht gebrauchen kann.
Herrje, warum machte ich mir überhaupt die Mühe, ihm zu antworten? Chris war ein Volltrottel, verdammt, und sollte sich ganz leicht ignorieren lassen! Doch ich konnte es einfach nicht.
Mein Handy piepste erneut. Ach, alle Mädchen stehen doch auf ein bisschen Ärger. Und du solltest nicht verurteilen, was du noch nicht probiert hast. Du weißt nicht, was dir entgeht, Sonnenschein.
Die Erinnerung an Lauren, die aus seinem Zimmer kam, und wie Chris die Finger mit ihren verschränkt hatte, kam mir in den Sinn. Wut stieg in mir auf. Es war eine seltsame Wut, die sich mit einem leisen Anflug von Verletztheit mischte. Das war zu merkwürdig, um es zu analysieren, also tippte ich das Erste, was mir in den Sinn kam. Ernsthaft, du bist wie eine Probeflasche im Drogeriemarkt.
Mein Handy klingelte.
Ich atmete tief durch die Zähne ein und dann lang und laut aus. Schließlich verdrehte ich die Augen und ging ran, schaffte es aber nicht, auch nur ein Wort rauszubringen.
„Ich bin was?“, schnappte Chris, halb belustigt, halb verwirrt.
Da er mich nicht wirklich begrüßt hatte, hielt ich mich auch nicht mit langen Grußformeln auf. „Du kennst doch diese billigen Parfumflakons, die sie zum Ausprobieren als Werbung in die Läden stellen? Jede Frau, die daran vorbei kommt, sprüht sich ein bisschen von diesem oberflächlichen Allerweltsduft auf und am Ende riechen alle gleich. Ich tu das aber nicht. Ich bin sehr wählerisch, Chris. Ich muss nicht alles probieren, was mir kostenlos angeboten wird. Und vor allem mag ich keinen oberflächlichen Allerweltsduft.“ Ich hatte gesagt, was ich sagen wollte, und gab ihm keine Gelegenheit zu einer Erwiderung. „Gute Nacht.“ Entschlossen drückte ich ihn weg.
Er rief nicht noch einmal an, wie am vergangenen Abend. Hoffentlich war die Botschaft dieses Mal bei ihm angekommen. Ich schaltete das Licht aus und kuschelte mich unter die Decke. Drei Minuten später piepste mein Handy und das aufleuchtende Display tauchte mein Zimmer in blaues Licht.
Ich packte das Kissen fest um meinen Kopf und schrie mir den Frust von der Seele.
Warum konnte er mich nicht in Ruhe lassen? Nur eine Nacht! War das etwa zu viel verlangt? Ich griff nach dem Handy und zog es unter die Decke, um die Nachricht in meiner Höhle zu lesen.
Du hältst mich für langweilig? Autsch. Das tut weh, Miss Miller.
War er langweilig? Ich konnte mich nicht erinnern, das gesagt zu haben, und offen gestanden, war Chris alles andere als langweilig. Wenn ich mit ihm in einem Zimmer war, saß ich die meiste Zeit wie auf glühenden Kohlen, und seine dämlichen Nachrichten brachten mich derart durcheinander, dass ich jedes verdammte Mal darauf antwortete. Also nein, langweilig war er definitiv nicht.
Ich sagte oberflächlich, nicht langweilig. Da ist ein himmelweiter Unterschied. Das eine bedeutet, dass du einschläfernd auf mich wirkst. Das andere heißt, dass ich jedes Mal, wenn du den Mund aufmachst, das Verlangen verspüre, tiefer zu forschen, um herauszufinden, ob da eventuell mehr in dieser hohlen Hülle steckt.
Seine Antwort ließ mich schwer schlucken und ein warmes Kribbeln breitete sich in mir aus. Du willst meinen Mund erforschen? Nur zu.
Chris, hörst du mir eigentlich jemals wirklich zu?
Natürlich. Mit deiner letzten SMS hast du angedeutet, dass du mich küssen willst.
Obwohl sie so dämlich war, entlockte mir die Nachricht ein Lachen. Ich kroch aus meiner Höhle, schüttelte mein Kissen auf und lehnte mich zurück. Entschuldige, ich muss mal eben schnell gegen die Wand rennen, um dieses Bild wieder aus dem Kopf zu bekommen.
Das sagen sie alle … bevor sie mich anbetteln, mit ihnen auszugehen … J
Ha! Ich werde dich nicht um ein Date anbetteln.
*hust* Wenn ich mich richtig erinnere, hat ein gewisser Jemand mich angebettelt für sie am Samstag zu kochen *hust*
Das war – heilige Scheiße, das stimmte sogar. Ich löschte den angefangenen Text und biss mir auf die Lippe. Wie schaffte er es nur immer, meine Worte zu seinem Vorteil zu verdrehen? Mal sehen, was er daraus machen würde: Du hast Wahnvorstellungen.
Eine lange Pause. Ich dachte schon, dass er sich geschlagen gab. Gleich darauf aber piepte eine neue Nachricht.
Ja, einer von uns beiden hat die definitiv. Träum was Hübsches, Sonnenschein.
Der ernsthafte Ton dieser letzten Nachricht und die Zeit, die er dafür gebraucht hatte, eine solch kurze Antwort zu schreiben, weckte in mir die Frage, was er damit wohl meinte. War das ein weiterer Seitenhieb, weil ich in seinen Bruder verliebt war, der vielleicht gar kein Interesse an Mädchen hatte? Oder machte er bloß Witze?
„Gute Nacht, Chris“, murmelte ich, aber ich schickte ihm keine weitere SMS mehr. Tief seufzend legte ich das Handy auf den Nachttisch und wickelte mich in meine Decke.
Zum Glück hatte ich in den vergangenen Nächten so schlecht geschlafen, dass ich sofort wegdöste, trotz meiner Sorgen.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich sogar richtig ausgeruht und eine gewisse Ordnung war in meine Gedankenwelt zurück gekehrt. So wie ich es sah, hatte ich heute zwei Möglichkeiten. Erstens: Ich konnte Ethan vor der ersten Stunde abfangen, hatte jedoch keine Ahnung, welche Fächer er hatte, also wusste ich auch nicht, wo ich mit meiner Suche nach ihm anfangen sollte. Möglichkeit zwei war Chris um Hilfe zu bitten, falls ich ihm begegnete.
Sein Veilchen machte es mir leicht, die Zwillinge auseinanderzuhalten. Er gab gerade einem Jungen, der aussah, als wäre ein Pferd über sein Gesicht getrampelt, einen Ghetto-Handschlag. Will Davis, vermutete ich, und so wie es aussah, hatten sich die beiden wieder vertragen. Was vermutlich auch gut so war. In einem Team mit jemandem zu spielen, den man nicht ausstehen konnte, war übel.
Ich ging zu Chris hinüber, aber ein Rotschopf kam mir zuvor und zog seine gesamte Aufmerksamkeit auf sich … oder besser gesagt, ihr immenser Vorbau, der jeden Moment aus ihrem schwarzen Top zu platzen drohten. Chris lächelte auf etwas, das sie sagte. Leider hörte ich nicht, was es war, dazu waren sie zu weit weg. Als er jedoch den Arm um ihre Schultern legte und sie mit sich zog, während er auf mich zukam, löste sich mein Entschluss, mit ihm zu reden, in Luft auf. Ich sagte nicht einmal Hallo, als wir aneinander vorübergingen und knirschte lediglich mit den Zähnen auf sein „Guten Morgen, Sonnenschein.“
Fahr zur Hölle, du Arsch!
Ich wusste nicht genau, warum es mich so sauer machte, ihn mit diesem Mädchen zu sehen. Vielleicht, weil es mich daran erinnerte, dass der ganze Charme, den er über mir versprühte, nur Show war. Eine Show, die er für jedes Mädchen an der Schule abzog. Na, wenn mir das nicht das Gefühl gab, etwas ganz Besonderes zu sein … Ich verdrehte die Augen und verfluchte ihn stumm in allen drei Sprachen, die ich beherrschte.
Der Morgen verging ein wenig schneller, als ich mich auf den Unterricht konzentrierte, und bevor ich wusste, wie mir geschah, saß ich auch schon zum Mittagessen mit Ethan am Tisch. Er grüßte mich mit zaghaftem Lächeln, das ich erwiderte.
Und was jetzt?
All die Dinge, die ich mir in meinem Kopf zurechtgelegt hatte … Ich konnte sie ihm nicht einfach so an den Kopf schleudern, während alle am Tisch zuhörten. Das wäre so richtig mies. Meine beste Chance bestand darin, ihn nach dem Mittagessen abzufangen und ihn allein zu sprechen. Jap, das war ein viel besserer Plan.
Ethan aufzuhalten, während alle in den Nachmittagsunterricht gingen, war kein Problem. Ich musste dafür nur eine Minute sitzen bleiben. Er war mit den anderen aufgestanden, aber als er feststellte, dass ich ihn fixierte, setzte er sich wieder und verschränkte die Hände auf dem Tisch.
„Susan?“, rief Liza, offensichtlich unschlüssig, ob sie auf mich warten oder uns etwas Privatsphäre geben sollte.
„Ich treff euch in der Umkleide“, antwortete ich ihr. In der nächsten Stunde hatten wir Sport und niemanden würde es stören, wenn ich ein paar Minuten später kam, da ich ohnehin dazu verdammt war, noch ein paar Wochen vom Rand aus zuzusehen.
„Was ist los?“, fragte Ethan, als unsere Freunde gegangen waren. Es waren aber immer noch zu viele andere Schüler da, um offen mit ihm zu sprechen.
Ich räusperte mich und beugte mich vor. Dann atmete ich tief ein, konnte aber ein Seufzen gerade noch unterdrücken. Unbehaglich sah ich mich um. „Wir müssen reden.“
„Leg los.“ Er sah kein bisschen gestresst aus. Hatte er eine Ahnung, womit ich ihn konfrontieren wollte? Ich bezweifelte es.
Erneut ließ ich den Blick schweifen und schüttelte den Kopf. „Nein, nicht hier. Können wir uns heute Nachmittag treffen?“
„Klar.“ Nun wirkte er argwöhnisch. „Soll ich zu dir kommen?“
Montag … Nachmittag … Mom hatte zwei Tage frei … Dad kam montags gewöhnlich früh nach Hause … Auf keinen Fall! „Äh, nein. Keine so gute Idee. Macht es dir was aus, wenn ich wieder zu dir komme?“
„Überhaupt nicht. Komm vorbei, wann immer du willst.“ Er lächelte und stand mit mir auf. „Aber irgendwann demnächst musst du mir auch mal dein Zimmer zeigen.“
Vielleicht würde ich das sogar. Aber zuerst einmal gab es wichtigere Dinge zu klären. „Gut, dann sehen wir uns später.“
Wir trennten uns an der Schwingtür und ich ging zu meinem Unterricht.
Kapitel 11
ETHANS HAUS HATTE nie so beängstigend gewirkt wie an diesem Nachmittag, als ich davor stand und mich fragte, ob ich klingeln oder lieber die Flucht ergreifen sollte. Konnte ich nicht einfach so tun, als sei mir der Gedanke, er könnte kein Interesse an Mädchen haben, nie gekommen? Aber nein – ich holte tief Luft – da musste ich jetzt durch.
Auf dem Weg hatte ich mir eine Rede im Kopf zusammengeschustert, die ungefähr so ging: Ethan, in den vergangenen Tagen bist du mir ein richtig guter Freund geworden. Ich hänge gern mit dir ab und vor allem finde ich es klasse, dich bei FIFA zu schlagen. Nichts könnte daran je etwas ändern – mit Betonung auf diesem speziellen Satz. Also, falls es da etwas gibt, das du mir vielleicht gern sagen möchtest – etwas, das zwischen uns stehen könnte – dann kannst du das jederzeit tun.
Hoffentlich klang das nicht allzu dramatisch, aber er musste wissen, dass ich mit allem umgehen konnte. Es wäre zwar traurig, wenn ich durch seine Antwort jegliche Chance verlieren würde, dass er sich jemals in mich verliebte, aber mittlerweile war mir die Wahrheit lieber als eine ständige Ungewissheit. Meine Rede würde ich mit der Frage beenden: Ist es möglich, dass du kein Interesse an mir hast, weil ich ein Mädchen bin?
Ja, das sollte subtil genug sein. Und falls ich mich irrte, könnte er mir das sagen und mich küssen, um mir zu zeigen, dass er es ernst mit mir meinte, und mir dabei helfen, Namen für unsere zukünftigen Kinder auszusuchen. Mit entschlossenem Nicken nahm ich all meinen Mut zusammen, drückte auf die Klingel und lauschte der Melodie von Ode an die Freude.
„Es ist offen!“, schrie einer der Jungs von innen.
Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, rief ich „Ethan?“
„Im Wohnzimmer!“
Auf dem Weg dorthin ging ich meine Rede noch einmal durch, aber der Anblick der Zwillinge, die sich auf der Couch gegenübersaßen, ein Schachbrett vor sich auf dem Tisch, brachte mich aus dem Konzept. Einer der Jungs trug ein weißes Poloshirt, der andere dasselbe Shirt in Schwarz und keiner der beiden sah auf, als ich hereinkam, weshalb ich ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Ergo wusste ich auch nicht, wer wer war.
„Hey, äh … Jungs?“, stammelte ich.
Der Zwilling mit dem schwarzen Shirt griff sich in den Nacken und fischte zwei Silberketten unter seinem Kragen heraus, die er für mich hochhielt. Ja, danke, Chris!
Ethan machte einen Zug, hob den Kopf und lächelte mich an. „Hallo, Susan.“
Ich winkte ihm zu und ging zu ihnen hinüber, um einen Blick auf das Brett zu werfen, auf dem Glasfiguren standen – eine Seite mit Frostglas, die andere klar. Soweit ich erkennen konnte, hatte Ethan die Frostglasfiguren. Die durchsichtige Dame hatte den Frostglaskönig Schach gesetzt. Wenn Chris nun seinen Turm ans andere Ende des Brettes ziehen würde, könnte er Ethan damit schachmatt setzen. Aber er starrte nur grübelnd aufs Spiel, das Kinn in die Hand gestützt, und übersah offensichtlich diese Möglichkeit.
Ich beugte mich hinunter, griff mir den klaren Turm und zog ihn rüber. „Schachmatt.“
„Ha!“ Chris warf die Hände in einer Siegerpose nach oben. Dann packte er mich am Handgelenk, zog mich auf seinen Schoß und umarmte mich begeistert. „Das ist mein Mädchen!“
Zu überrascht, um mich zu befreien, quietschte und lachte ich, während ich einen Arm um seinen Nacken schlang, um nicht auf den Boden zu purzeln. Jetzt sah ich auch sein verletztes Gesicht, das blaue Auge färbte sich bereits violett.
Ethan fand das Ganze jedoch nicht so großartig wie sein Bruder. Seine Augen weiteten sich erstaunt. „Warum hast du das getan?“
Mein Verstand klärte sich schlagartig und ich sprang auf. „Weil ich mit dir reden muss. Und zwar jetzt gleich und nicht erst in zwanzig Minuten.“ In Wahrheit befürchtete ich, dass ich einen Rückzieher machen würde, falls ich meine verdammte Rede nicht innerhalb der nächsten sechzig Sekunden loswerden konnte.
„Okay, gehen wir in meinem Zimmer?“
Ich nickte und marschierte ihm voraus. Während Ethan mir folgte, hörte ich ihn warnend zu Chris sagen: „Du hast nicht gewonnen! Wir wiederholen dieses Spiel, wenn du allein auf dich gestellt bist. Kein Mogeln!“
In seiner Stimme schwang eine leise Wut mit und ich fragte mich unwillkürlich, ob es bei diesem Spiel um mehr gegangen war als nur um den Spaß. Vielleicht hatten sie gewettet? Ach, wie auch immer. Ich durfte mich davon nicht ablenken lassen. Ich war auf einer Mission und musste meine subtile Rede halten, bevor ich meine Meinung ändern konnte.
Ethan schloss die Tür zu seinem Zimmer und lehnte sich an seinen Schreibtisch. „In Ordnung, was ist los?“
Ich atmete tief ein, verschränkte die Arme vor der Brust und platzte heraus: „Bist du schwul, Charlie Brown?“
Seine Kinnlade fiel herunter und er starrte mich mit Augen so groß wie Untertassen an.
Ja … wirklich seeehr subtil, Susan.
Eine Vielzahl von Gedanken musste durch seinen Kopf rasen, denn ich sah das Wechselspiel in seiner Miene. Einer dieser Gedanken riet ihm sicherlich, mich aus dem Haus zu werfen. Aber dann passierte etwas höchst Unerwartetes. Ethan richtete sich auf und nahm eine abwehrende Pose ein, indem er wie ich die Arme verschränkte. Sein Gesicht versteinerte und seine Lippen zogen sich einen winzigen Moment zu einem schmalen Strich zusammen. „Und, was, wenn ich es wäre?“, meinte er barsch. „Würdest du dann schreiend aus dem Haus laufen?“
„Ich, äh … nein!“
„Wärst du angeekelt oder würdest dich lustig über mich machen?“
„Nein! Jetzt mach dich doch nicht lächerlich.“
„Dann was? Würdest du mich bemitleiden?“
„Ethan! Hör mit dem Scheiß auf!“ Ich löste die Arme und lehnte mich an die Tür, vielleicht um Halt zu suchen, weil die Wahrheit wie ein Stein in einem See in mir versank. Ich hatte recht gehabt. Es gab keine Chance auf ein uns. „Ich würde dich nicht bemitleiden. Und warum zum Teufel sollte ich angeekelt sein? Falls überhaupt, dann wäre ich … ich wäre …“ Nervös fuhr ich mir mit den Händen durchs Haar. Das lief überhaupt nicht so wie geplant und das war alles meine Schuld. Warum konnte ich mich auch nicht an meine ursprüngliche Rede halten, verdammt?
„Du wärst was?“, giftete er.
„Ich wäre … traurig.“
„Traurig?“ Er stieß ein verbittertes Lachen aus. „Das ist dasselbe wie Mitleid.“
„Nein, du dämlicher Idiot!“, fauchte ich. „Ich wäre nicht traurig um deinetwillen, sondern um meinetwillen!“ Ups. Vielleicht war das wieder nicht die beste Wortwahl gewesen. Was aber sollte ich sonst machen? Er stand ja total auf dem Schlauch.
Ethan entspannte sich immer noch nicht, sondern kniff die Augen zusammen, in einer Art, die mich vermuten ließ, dass er neugierig war, wie ich das wohl erklären würde.
Mit geschlossenen Augen atmete ich tief durch und ließ mich an der Tür nach unten gleiten, bis ich mit angewinkelten Knien auf dem Boden saß. Ich schaute auf. Er verharrte reglos und nagelte mich mit seinem steinernen Blick fest. Der Keil, den meine unverblümte Anschuldigung zwischen uns getrieben hatte, würde nicht so leicht wieder zu beseitigen sein.
„Hör zu …“ Mehr brachte ich im Moment nicht raus. Wie konnte ich das nur in verständliche Worte fassen?
„Ich warte“, sagte er schroff.
Okay, okay, ich mach ja! „Das ist nicht leicht für mich, Ethan. Würdest du mir bitte einen Moment Zeit geben, damit ich meine Gedanken sortieren kann und nicht wieder mit dem erstbesten Satz herausplatze, der mir in den Sinn schießt?“ Ich massierte meine Schläfen und stellte fest, dass mir das Reden leichter fiel, wenn ich ihn nicht anschaute. Mit auf die Knie gerichteten Augen funktionierte es ganz gut. „Unsere erste Begegnung beim Fußballtraining war ziemlich seltsam. Ich hab dich auf Anhieb gemocht. Wir hatten so viel gemeinsam …“ Ich machte eine Pause, um meine nächsten Worte sorgfältig zu wählen. „Ich war nicht auf die Gefühle vorbereitet, die ich plötzlich für dich da waren. Du warst der erste Junge, der mich wirklich interessiert hat, und am Anfang dachte ich, du magst mich auch.“
„Das war auch so“, stellte er fest. Als ich daraufhin mit waidwundem Blick aufsah, fügte er in sanfterem Ton hinzu: „Das ist so.“
„Die ganze Zeit habe ich deswegen gehofft, dass du nur schüchtern bist und früher oder später mehr … ich weiß auch nicht … mehr Interesse zeigen würdest. Aber das ist nicht passiert und ich hab mich ständig gefragt habe, ob du jemals einen Schritt weiter gehen würdest.“
Ethan löste sich vom Tisch und kam zu mir rüber. Ich folgte seinen Bewegungen; einen halben Schritt vor mir blieb er stehen. Nach kurzem Zögern setzte er sich neben mich, die Knie gebeugt und die Arme darüber gelegt. Er sah nicht mich an, sondern seine Fingernägel. „Die Wahrheit ist, dass ich mich die ganze Zeit dasselbe gefragt habe“, murmelte er.
Ein deprimierendes Schweigen folgte, aber ich wusste, dass jetzt nicht der richtige Moment war, um etwas zu sagen. Schließlich schluckte er schwer und erklärte: „Ich habe geahnt, dass mit mir etwas anders ist, als alle meine Freunde anfingen diese hübschen Mädchen auszuführen und ich mich einfach nicht dazu bringen konnte, mich für eine von ihnen zu interessieren. Ich habe sie nicht gemieden, das nicht. Zwei meiner besten früheren Freunde waren Mädchen.“
Ich fragte mich unwillkürlich, ob sie wohl dasselbe für ihn gefühlt hatten wie ich und er auch ihre Gefühle nicht erwidern konnte. Ethan musste wohl meine Gedanken gelesen oder die unausgesprochene Frage in meinen Augen gelesen haben, denn er neigte den Kopf und zuckte verlegen mit den Schultern. „Wie es scheint, habe ich bei ihnen denselben Fehler begangen wie bei dir. Ich wusste, was sie wirklich wollten, aber ich habe ihre Gefühle ignoriert.“
„Mit Absicht?“ Die Frage konnte ich mir einfach nicht verkneifen.
„Nein. Zumindest nicht beim ersten Mal. Und bei dir auch nicht. Bei dir war es von Anfang an anders. Es ist so, wie du gesagt hast … wir hatten so viel gemeinsam und ich mag dich wirklich. Ich dachte, wenn ich nur hart genug daran arbeite, könnte ich mich in dich ebenso verlieben, wie du dich offensichtlich in mich verliebt hast.“ Er grinste. „Mir hat gefallen, was du mit deinen Haaren machst, wenn du versuchst, mit mir zu flirten. Du wickelst sie um den Finger …“ Er griff sich eine Strähne und wickelte sie um den Zeigefinger, um es mir zu zeigen. „Und nach diesem ersten Tag schien es wirklich zu funktionieren. Ich habe die ganze Nacht an dich gedacht und konnte es gar nicht erwarten, dich wiederzusehen.“
Wirklich? Ich schluckte schwer, denn das kam einer Liebeserklärung schon ziemlich nahe – übrigens die einzige, die ich bisher überhaupt erhalten hatte, auch wenn sie bedauerlicherweise nicht so eindeutig ausfiel, wie ich es gerne gehabt hätte. Ich schlang die Hände um die Knöchel. „Und was hat deine Meinung geändert?“
Ethan zögerte, ein spitzbübisches Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Er senkte den Blick. „Das war eigentlich deine Schuld.“
„Wie das?“
„Du hast mich versetzt.“
„Wow, das hat dich wohl wirklich auf die Palme gebracht, so wie du immer darauf herumreitest.“
Er lachte. Bei dem Geräusch plumpste mir ein ganzer Felsbrocken vom Herzen und gleichzeitig fiel die Anspannung von mir ab. Von Ethan auch, wie es schien. „Nein, das ist es nicht.“ Er gab mir einen Schubs mit der Schulter. „Aber wegen dir habe ich fast eine Stunde im Charlie’s gesessen. Allein. Ich saß an der Bar, den Blick auf die Tür gerichtet, und plötzlich stellt dieser Junge eine Flasche vor mich und sagt etwas wie: ‚Das Bier geht auf mich, wenn du mir verrätst, worauf du so verzweifelt wartest.’“
„Ein Junge? Wer?“ Als die Mädchen und ich an diesem Nachmittag bei Charlie gewesen waren, hatte ich niemand in Ethans Nähe gesehen. Niemand, außer … „Oh mein Gott, Ted?“
Seine Wangen färbten sich rot. „Der Barkeeper, ja.“
Es schmerzte mich etwas, dass er sein Interesse so rasch jemand anderem geschenkt hatte, und ich wollte ihm das auch sagen, hielt mich dann aber zurück. Ethan hatte mir gerade gestanden, dass er schwul war. Meine Bemerkung würde nichts daran ändern. Ich unterdrückte meine Gefühle und scherzte stattdessen: „Das heißt also, während du eigentlich auf mich warten solltest, hast du heimlich Ted angehimmelt? Wie unhöflich!“ Aber Junge, fühlte es sich gut an, darüber Witze zu reißen, denn andernfalls würde ich jetzt wahrscheinlich bekloppt im Kreis laufen oder mich vor den Fünfuhrzug werfen, der durch Grover Beach fährt.
„Ich habe ihn nicht angehimmelt“, protestierte Ethan mit verlegenem Stöhnen. „Aber als er sich vorstellte und wir uns die Hände geschüttelt haben, hat mir das irgendwie gefallen.“
„Was?“
„Wie sich seine Hand in meiner angefühlt hat“, gab er leise zu und zog eine Grimasse. „Ist das seltsam?“
„Himmel, Ethan, ich habe die ganze Woche davon geträumt, dass du mich berührst, und war völlig von den Socken, als ich mich bei dir unterhaken durfte. Also nein, das ist definitiv nicht seltsam.“ Schade für mich? Ja. Aber das war mein Problem, nicht seins. Ich seufzte. „Also war es für dich wohl Liebe auf den ersten Blick, wie?“
„Gott, Susan!“ Er verschränkte die Arme auf den Knien und vergrub sein Gesicht in der Kuhle. Ganz offensichtlich war ihm das alles ein wenig peinlich. „Ich hab vorher noch mit keinem über diese Dinge geredet. Verstehst du? Noch nie! Also zwing mich bitte nicht dazu, Dinge wie Liebe laut auszusprechen.“
Oh, der arme Schatz. Ich lachte trotzdem über ihn. Wie es aussah, kam ich mit diesem Thema weitaus besser zurecht als er. Das war dann doch eine ziemliche Überraschung.
„Okay, wie wäre es, wenn wir es Anziehung nennen?“
„Können wir nicht einfach sagen, dass ich ihn cool finde?“
„Wenn du dich dadurch besser fühlst.“
Er drehte den Kopf zu mir und spähte mich mit einem Auge an. „Das würde ich.“
„Okay. Ich werd’s mir merken. Wenn du mir das nächste Mal erzählst, dass du jemanden cool findest, weiß ich, dass du total auf ihn stehst.“
„Hörst du jetzt wohl auf damit!“ Ethan stupste mich spielerisch gegen die Schulter, aber der Stoß war fest genug, dass ich zur Seite kippte. Er packte mich am Arm, zog mich wieder hoch und ich lehnte den Kopf an seine Schulter.
„Weiß deine Familie Bescheid?“, fragte ich nach einer Weile.
„Nein, ich glaube nicht. Na ja, Chris ahnt es wahrscheinlich, aber Mom hat keinen Schimmer.“
„Ich denke, du hast recht, was Chris angeht“, sagte ich und machte ein verlegenes Gesicht. „Ich habe dir ja gesagt, dass er ein wenig zu interessiert daran war, was du und ich letzte Woche in deinem Zimmer gemacht haben. Er hat ein paar Andeutungen fallen lassen, von wegen ich sei nicht dein Typ. Zum Kuckuck, ich wusste nicht, dass er das damit meinte.“
Ethan ließ die Knie zum Schneidersitz auseinanderfallen, ergriff meine Hand und zog sie auf seinen Schoß. Während er mit dem Finger meine Lebenslinie nachfuhr, zuckte ich leicht, weil es kitzelte. „Glaub mir, wenn ich auf Mädchen stehen würde, wärst du meine erste Wahl. Du bist klug und hübsch. Und ein Ass bei FIFA.“ Er grinste, als ob ich mich durch dieses Kompliment irgendwie besser fühlen würde. „Aber es fühlt sich einfach nicht richtig an.“
„Ja, das ist schade“, seufzte ich. „Zwei Jahre habe ich darauf gewartet, dass die hier –“ Ich zog meine Hand aus seinem Schoß und umfasste meinen netten Vorbau. „… wachsen und jetzt sagst du mir, dass ausgerechnet sie der Grund sind, warum ich dir nicht gefalle.“
Völlig baff starrte er mich an … gleich darauf brachen wir beide in eine befreiende Lachsalve aus. Oh Mann, er war tatsächlich meine Zwillingsseele, nur eben nicht auf romantische Weise.
„Du weißt, dass mein Bruder nichts gegen die einzuwenden hätte.“ Sein Blick senkte sich erneut auf meine Brust. „Und wenn du bloß hinter meinem guten Aussehen her warst …“
„Ach, halt die Klappe, du!“ Ich schlug ihm auf den Oberarm, was er vermutlich nicht einmal merkte, aber er tat mir den Gefallen und zog ein Autsch-Gesicht. „Chris ist ein Blödmann. Sein Ego ist viel zu groß, als dass einer allein damit klarkommt.“
„Lass ihn das bloß nicht hören, sonst ist er schneller hinter dir her, als du ‚Platz’ rufen kannst. Er liebt die Herausforderung.“
Ich krauste die Nase. „Ich fürchte, dafür ist es zu spät.“
„Was meinst du?“
Meine Wangen wurden heiß und ich warf Ethan einen schuldbewussten Blick zu. „Er ist irgendwie schon die ganze Woche hinter mir her.“
„Ist er das? Warum hast du mir nichts davon gesagt?“
„Warum sollte ich? Du hattest dein dunkles Geheimnis“, neckte ich, „und Chris war vielleicht meines.“ Ich streckte ihm die Zunge raus.
„Also läuft da was zwischen euch beiden?“ Er klang überhaupt nicht sauer oder gekränkt, was wahrscheinlich daran lag, dass er wirklich keine romantischen Gefühle für mich hegte.
„Nein. Jedenfalls nicht, was mich angeht. Ihm zu sagen, dass ich kein Interesse habe, nutzt allerdings nicht viel.“
Ethan lachte laut. „Nein, das war schon immer so. Ich nehme an, er kann sich einfach nicht vorstellen, dass es tatsächlich ein Mädchen gibt, das nicht auf ihn steht.“ Er hielt grübelnd inne und runzelte die Stirn. „Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich bisher auch noch kein Mädchen getroffen habe, das seinem Charme widerstehen konnte, sobald er sich auf sie eingeschossen hatte.“
Vor Fassungslosigkeit stand mir der Mund offen. „Was? Du glaubst, ich kann ihm nicht widerstehen?“
„Na ja.“ Er grinste verschmitzt. „Wie ich schon sagte, dank unserem guten Aussehen und –“
„Ja, ja. Wir sind wohl heute ein bisschen eingebildet, was?“
„Nein, nur neugierig“, meinte er. „Weißt du was? Ich glaube, das könnte sogar ganz unterhaltsam werden. Ich werde ein Auge drauf haben, wie sich die Dinge zwischen euch beiden entwickeln.“ Als mir die Kinnlade runterfiel und sich meine Augen weiteten, lachte er. „Was denn?“
„Chris hat etwas ganz Ähnliches gesagt, als ich zum ersten Mal hierhergekommen bin.“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Hat er das?“
Ich nickte bedächtig. „Ihr beiden seid unheimlich.“ Außerdem wollte ich nicht mit Ethan über Chris reden, also stand ich auf, ging zur Wii und streckte ihm einen Controller hin. „Lust auf ein Rennen?“
„Mario Kart?“, fragte er überrascht.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, ich werde immer besser.“
Ethan sprang auf. Nachdem er das Spiel eingelegt hatte, machte er es sich neben mir auf dem Bett gemütlich. Schweigend spielten wir eine Weile, aber irgendwann konnte ich meine Zunge nicht länger im Zaum halten. „Also, hat Ted eigentlich auch was für Jungs übrig? Glaubst du er … findet dich cool?“
Ethan schaute verwegen. „Keine Ahnung. Er war wirklich nett und wir haben uns gut unterhalten, aber ich war auch eine ganze Weile der einzige Gast und er war vermutlich nur froh über die Ablenkung.“
„Wir müssen noch mal hin und das rausfinden, das weißt du.“
„Ja, genau … Erwachen in dir gerade die Kupplergene, oder wie?“
„Vielleicht?“ Ich stieß mit dem Knie gegen seins. „Wenn ich dich schon nicht haben kann, worin liegt dann der Sinn, dass du Single bleibst?“
Er lachte und obwohl ich mich erstaunlich schnell mit der neuen Situation abgefunden hatte, weckte sein Lachen in mir immer noch das Verlangen, ihn zu küssen. Ethan bemerkte meinen intensiven Blick. Er schwieg und seufzte. „Ich hätte nie gedacht, dass es sich so gut anfühlt, wenn du die Wahrheit weißt.“
„Ich weiß, was du meinst. Ich bin auch froh, dass ich dir eingestehen konnte, dass ich total verschossen in dich war. Aber vermutlich hast du das auch selbst herausgefunden.“
Er verdrehte süß die Augen. „Das war kaum zu übersehen.“
„Hey, Moment mal, so offensichtlich kann es doch wohl nicht gewesen sein!“
Er zog vielsagend eine Augenbraue hoch.
„Na schön. Und wann hast du es zum ersten Mal gemerkt?“, verlangte ich zu wissen.
„Lass mich nachdenken …“ Er kniff die Lippen zusammen und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger übers Kinn. „Ungefähr zwischen Minute drei und siebzehn bei unserer ersten Begegnung.“
„Niemals!“ Wie vom Donner gerührt ließ ich meinen Controller fallen, worauf Daisy mit ihrem Dreirad in einen Baum krachte und vergeblich versuchte, durch den Stamm zu fahren.
„Doch, ich schwöre.“ Ethan lachte so heftig über meinen entgeisterten Gesichtsausdruck, dass sein Mario über eine Brücke hinausschoss und in den Tod stürzte. „Als ich dich beim Starren erwischt habe, sind deine Wangen unverkennbar rosa angelaufen. Du hättest nicht mehr Aufmerksamkeit erregen können, wenn du dir eine leuchtend rote Papiertüte über den Kopf gestülpt hättest.“ Er kniff mich in die Wange und zwinkerte mir zu. „So wie jetzt.“
OMG, das war einfach zu viel. Ich kletterte über seine Füße und vom Bett runter.
„Wo willst du hin?“, fragte er immer noch kichernd, während er mir nachlief.
„Nach Hause“, motzte ich in gespieltem Ärger. In Wahrheit warteten bergeweise Hausaufgaben auf mich.
„Nein! Komm her!“ Er packte mich am Handgelenk und wirbelte mich herum, sodass ich gegen seine Brust knallte und er mich stützten musste. „Tut mir leid, aber du wolltest es ja wissen.“
„Du hättest auch etwas erfinden können, um mich wenigstens einen Hauch von Würde behalten zu lassen.“
„Aber du willst doch nicht, dass ich dich wieder anlüge“, sagte er. Und damit hatte er recht.
Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf und ich atmete tief durch. Da nichts wieder so wie früher sein würde, fragte ich mich, ob ich es wagen konnte, ihn zu umarmen. Einfach nur so zum Spaß und um zu sehen, wie es hätte sein können, wenn …
„Macht es dir was aus, wenn ich –“ Ich hob die Arme, um anzudeuten, was ich vorhatte.
Einen Moment zögerte Ethan, dann legte er die Arme um mich und zog mich an sich. „Überhaupt nicht.“
Wahnsinn, er fühlte sich so warm und stark an und er roch wirklich gut. Vielleicht weckte diese intime Umarmung ähnliche Gefühle bei ihm? Ich legte den Kopf in den Nacken, sah ihn forschend an und fragte mit einem Zahnpastalächeln: „Tut sich was?“
Er presste die Lippen zusammen, zog einen Mundwinkel hoch und wackelte wie ein Häschen mit der Nase. „Nein.“
„Na ja, einen Versuch war es wert.“ Ein Kichern entwich mir, als er mich auf die Stirn küsste. „Ruf an, wenn du Lust hast, diese Woche was zu machen.“
„Das werde ich“, versprach er und ich hatte das Gefühl, dass ich schon morgen wieder herkommen würde. Ich ging zur Tür, doch er hielt mich noch einmal auf. „Susan?“
„Hm?“ Ich drehte mich um und sein eindringlicher Blick zog mich in seinen Bann.
„Das ist mein letztes Jahr auf der Highschool. Es wäre mir wirklich lieber, wenn …“ Er brach ab, aber er musste den Satz auch nicht beenden.
„Keine Sorge, Ethan. Ich werde es niemandem verraten.“
„Danke.“ Er formte das Wort stumm mit dem Mund.
Lächelnd nickte ich und verließ das Zimmer.
Kapitel 12
DIE WAHRHEIT ÜBER Ethan schockierte mich nicht so sehr, wie ich befürchtet hatte. Ehrlich gesagt machte es die Sache sogar einfacher, nachdem die Katze endlich aus dem Sack war. Ich war in ihn verknallt, aber er nicht in mich. Er wollte nur mit mir befreundet sein. So was passierte immer wieder. Wir würden schon dafür sorgen, dass unsere Freundschaft funktionierte. Es war nicht das Ende der Welt …
Genau das sagte ich mir selbst, als ich mein Englischbuch zuschlug. Nachdem die Hausaufgaben endlich erledigt waren, duschte ich und wollte mich gerade aufs Ohr legen, aber irgendwie fehlte mir etwas, obwohl ich nicht genau benennen konnte, was. Bis mein Handy mit einer Nachricht piepste.
Ich wusste nicht, warum ich unwillkürlich lächeln musste, als ich danach griff.
Hattest du Spaß mit meinem Bruder heute? Er verließ sein Zimmer als glücklicherer Mann. Wurde auch Zeit, seine beschissene Laune seit Sonntag war kaum noch zu ertragen.
Wir hatten das beste Date aller Zeiten simste ich Chris zurück. Und weißt du was, wir haben Videogames gespielt. 😛
Seine nächste Nachricht fing mit einem Smiley an, der sich den Kopf kratzte. Allmählich glaube ich, dass man dich nur mit Mario Kart verführen kann. Das habe ich noch nie mit einem Mädchen gespielt.
Oh, das solltest du mal ausprobieren. Du wärst überrascht. Und weil ich so gute Laune an diesem Abend hatte, fügte ich hinzu: Träum was Hübsches, Sonnenschein.
Du hast mir meinen Text geklaut. J Ich seh dich morgen.
Tja, das würde sich wohl nicht vermeiden lassen …
*
Ethans Unterricht fand wohl komplett am anderen Ende des Gebäudes statt, denn wie jeden Tag sah ich ihn erst in der Mittagspause. Bis dahin hatte ich mir eine völlig plausible Erklärung für die Mädels parat gelegt, warum Ethan und ich nie mehr als Freunde sein würden. Ich erzählte ihnen, dass ich die Unsicherheit nicht länger ausgehalten hatte und gestern mit ihm über meine Gefühle gesprochen hätte.
Simone schnappte nach Luft und Liza schlug sich vor Schreck die Hand vor den Mund.
„Keine Sorge“, beschwichtigte ich. „Es ist alles gut. Er sagt, dass er mich mag. Dass er mich wirklich gern hat und weiterhin mit mir rumhängen will, aber er ist halt im Moment einfach nicht bereit für eine Beziehung. Ihr wisst schon, er geht bald aufs College und zieht dann vielleicht von Grover Beach weg und so.“
Allie und Liza machten traurige Gesichter. Simone gab jedoch nicht so schnell auf. „Warte, bis er wirklich weg ist. Dann wird er feststellen, dass er nicht ohne dich leben kann und dich anbetteln, dass du dasselbe College besuchst wie er, noch bevor wir den Abschluss haben.“
Ich lächelte über ihre Zuversicht. „Ja, vermutlich.“ Nicht. Das war nichts, was Entfernung ändern könnte. Aber vielleicht würde er ja wirklich wollen, dass wir aufs selbe College gingen, der Freundschaft wegen. Bei dem Gedanken grinste ich, setzte mich neben Ethan und stellte mein Tablett vor mir ab.
„Hey“, grüßte er. „Du hast ja gute Laune heute. Was ist los?“
„Ach, ich habe nur grade übers College nachgedacht und so“, schwindelte ich und wechselte rasch das Thema. „Wie war dein Tag?“
Er erzählte mir von seiner Geschichtshausaufgabe und dass er wohl die meiste Zeit in den nächsten Tagen damit beschäftigt sein würde. Aber offensichtlich hatte er immer genug Zeit für ein Videospiel mit mir zwischendrin. „Wir haben das Rennen gestern nicht beendet. Kommst du später vorbei?“
„Klar.“
Ich fing Hunters Blick auf, der nachdenklich auf mir ruhte, und zögerte einen Moment, dann schenkte ich ihm ein vielsagendes Lächeln. Als er nickte und mein Lächeln erwiderte, wusste ich, dass es keiner weiteren Erklärungen bedurfte.
An diesem Nachmittag erledigte ich die Hausaufgaben gleich nach der Schule, damit ich mich nicht hetzen musste und solange wie möglich bei Ethan bleiben konnte. Auf dem Weg nach draußen sagte ich meiner Mom Bescheid und beschloss, sie nicht um ihr Auto zu bitten, sondern stattdessen zu laufen. Es war Anfang Dezember, und wir hatten immer noch über zwanzig Grad hier an der Westküste. In meinem flauschigen pinken Kapuzenpulli fing ich beinahe an zu schwitzen. Die Sonne wärmte mein Haar und meinen Rücken und tauchte die Nachbarschaft in ein fröhliches Licht.
Mein Weg führte am Fußballplatz vorbei. Die Jungs hatten heute kein Training, aber der leere Platz rief nach mir. Wieder einmal träumte ich von den Tagen, als ich mit ihnen gespielt hatte. Am Eingang blieb ich stehen und lehnte mich an den Zaunpfahl. Ein paar Bälle lagen auf dem Rasen, offenbar hatte man sie nach dem Training gestern vergessen. Einer lag direkt vor mir und bettelte förmlich darum, von mir gekickt zu werden.
Kein Sport für zehn Wochen und knapp drei waren erst vorüber. Hoffentlich hatte Dr. Trooper ein paar schlaflose Nächte wegen dieser Anordnung! Ein leichter Kick konnte doch aber nicht schaden, oder? Ich könnte einfach mit kurzen Pässen zum Tor laufen und schießen. Das musste der Doc ja nicht erfahren.
„Führst du stille Gespräche mit dem Ball?“
Als ich Ethans Stimme hörte, schrak ich hoch und fuhr herum. Dann aber erkannte ich das ramponierte Gesicht des Jungen, der mich angesprochen hatte, und wusste, dass mir meine Sinne einen Streich gespielt hatten. In seiner schwarzen Lederjacke lehnte Chris am anderen Zaunpfosten, die Hände in die Jeanstaschen gesteckt und die Füße überkreuz.
„Was machst du hier?“, fragte ich. Womöglich hätte ich freundlicher geklungen, wenn es tatsächlich Ethan gewesen wäre.
„Dienstags habe ich Basketballtraining. Ich war gerade auf dem Heimweg und hab dich hier stehen sehen. Was die Gegenfrage aufwirft: Was machst du hier?“ Seine Mundwinkel hoben sich zu einem warmherzigen Lächeln, das seinem üblichen frechen Grinsen so gar nicht ähnelte. „Ich meine, außer zu versuchen, den Ball mittels Telepathie ins Tor zu schießen.“
Ich hob eine Schulter und seufzte. „Eigentlich weiß ich das selber nicht so genau. Vielleicht fehlt mir einfach das Fußballspielen.“
„Und du kannst nicht spielen, weil du dir dein Knie verletzt hast, richtig?“
Daran erinnerte er sich? Und ich hatte gedacht, dass mich der Kerl sicher nicht mehr überraschen könnte.
Mein Stirnrunzeln musste mich verraten haben, denn Chris fügte hinzu: „Ja, manchmal höre ich tatsächlich zu, weißt du.“ Er stieß sich vom Zaunpfahl ab und kam ein paar Schritte auf mich zu, lief dann jedoch zu dem Ball auf dem Rasen. „Hey, willst du spielen?“ Er hob ihn hoch und versuchte, ihn wie einen Basketball in der Turnhalle prellen zu lassen. „So ein Mist“, beschwerte er sich, als das Gras den Schwung des Balles bremste, und ließ ihn stattdessen auf seinem Finger kreisen. „Welches Bein hast du dir verletzt? Du könntest mit dem anderen schießen. Und ich stehe im Tor.“
„Ich schieße mit rechts, und rechts ist auch mein Knie verletzt. Das wäre also ziemlich unfair“, wand ich ein.
„Ach, nicht so schüchtern.“ Er klemmte sich den Ball unter einen Arm, schlang den anderen um meine Taille und zog mich mit sich. „Ich habe noch nie Fußball gespielt, also sollten die Chancen ausgeglichen sein.“
„Soweit ich weiß, hast du Hausarrest.“ Ich zog die Augenbrauen hoch. „Bedeutet das nicht, dass du direkt nach dem Training nach Hause gehen solltest?“
„Das hier ist Training“, erwiderte er. „Wenn ich später dafür Ärger bekomme, schiebe ich die Schuld auf deinen traurigen Dackelblick, an dem ich nicht vorbeigehen konnte.“
Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich traurig geblickt hatte, aber mit diesem Bild brachte er mich zum Schmunzeln. Da er entschlossen schien, mir keine Wahl zu lassen, holte ich ein Gummiband aus meiner Tasche und band mir einen Pferdeschwanz. „Also gut. Lass uns spielen.“
Chris warf mir den Ball zu, schlüpfte aus der Jacke und warf sie ins Gras. Darunter trug er ein weißes Muskelshirt. Er stellte sich ins Tor und inspizierte es aufmerksam, wobei sein Gesicht ein wenig blasser wurde. „Wow, wer verteidigt das? Ein Elefantenbaby und seine Mama?“
Ein amüsiertes Schnauben entschlüpfte mir. „Nick Frederickson ist unser Torwart und er macht seine Sache verdammt gut.“
Chris rieb sich die Hände und klatschte sie dann auf die Knie. Halb gebückt ging er in Wartestellung, die Augen auf mich fixiert. „Okay, dann los, Sonnenschein.“
Ich war mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee war. Trotzdem legte ich den Ball auf die Strafstoßlinie. Die Entfernung schien zu weit für einen Schuss mit links, also stieß ich den Ball mit der Fußspitze ein paar Meter näher ans Tor.
Das Gesicht zerknautscht richtete sich Chris auf. „Liegt er da auch richtig?“
„Absolut“, versicherte ich und kicherte in mich hinein.
Mein erster Schuss prallte von der Latte ab. Chris musste sich gar nicht bewegen, außer den Kopf heben, um die Flugbahn zu verfolgen. Beim zweiten Schuss versuchte ich besser zu zielen. Ich nahm die linke obere Ecke ins Visier und kickte etwas kräftiger. Chris hechtete seitwärts nach dem Ball, aber er verfehlte ihn meilenweit.
„Anfängerglück!“, rief er, als ich einen kleinen Siegestanz aufführte.
„Warum? Du bist doch der Anfänger“, gab ich zurück.
Er kickte den Ball zu mir rüber. Ich fing ihn auf und legte ihn vor mir auf den Boden. Dieses Mal täuschte ich nach links an, schoss dann aber in die gegenüberliegende Ecke und erzielte ein weiteres Tor.
Chris schenkte mir ein spöttisches Grinsen. „Den hab ich für dich durchgelassen.“
„Ja, klar, träum weiter.“ Lachend schoss ich ein viertes Mal, weil erstens, mir mein Knie überhaupt keinen Ärger bereitete, und es zweitens wirklich Spaß machte.
Er sprang nach oben und verfehlte den Ball erneut – aber der Sprung gab mir einen hübschen Blick auf seinen flachen Bauch, weil sein Shirt dabei hochrutschte. Er hob den Ball auf und kam nach vorn, wobei er irgendetwas über Elefantentore und Trampolins murmelte.
„Gibst du auf?“, neckte ich.
„Das hättest du wohl gern.“ Er ließ den Ball ein paar Mal auf dem Knie springen, ehe er ihn auf den Boden warf. „Wir spielen jetzt gegeneinander.“
„Keine gute Idee.“ Ich hob mein Bein. „Verletztes Knie, weißt du noch? Ich kann nicht rennen.“
„Aber du kannst joggen. Langsam. Oder? Und ich verschränke die Hände hinter dem Rücken.“
„Fußball spielt man ohne Hände, Schlaumeier.“
„Gut. Dann mache ich das und laufe noch dazu rückwärts. Besser?“
Er hatte die Hände bereits in die Gesäßtaschen seiner Jeans geschoben und lief auf den Ball zu. Ich war näher dran und manövrierte ihn spielend aus seiner Reichweite, obwohl mich seine geänderten Regeln immer noch nicht überzeugten. Da er mich jedoch in einen Kampf um den Ball verwickelte, blieb mir nichts anderes übrig. Ich nahm ihm den Ball ein paar Mal ab und dribbelte damit auf das Tor zu.
Erstaunlicherweise war Chris auch im Rückwärtslaufen ziemlich schnell und wendig. Er schnitt mir den Weg ab, stahl mir den Ball und kickte ihn mit dem Absatz weg, während er versuchte, einen Blick über die Schulter zu werfen. Direkt vor dem Tor rangelten wir erneut um den Ball. Es machte mehr Spaß, als ich ihm gegenüber zugeben würde, aber mein Grinsen verriet mich vermutlich sowieso.
Weil Chris hinten keine Augen hatte, konnte er nicht sehen, wie nahe wir dem linken Torpfosten gekommen waren. „Pass auf!“, warnte ich noch, aber es war schon zu spät. Als er versuchte, mit dem Ball abzuhauen, krachte er gegen den Pfosten. Er stöhnte auf und ließ sich theatralisch auf den Boden fallen.
Ein Lachen explodierte aus mir heraus und ich bog mich förmlich unter meinem Gekicher, bis mir der Bauch wehtat. Jap, später würde ich ganz bestimmt Muskelkater haben, aber das war es wert.
Chris lag regungslos auf dem Boden. Ich hielt mir immer noch den Bauch, als ich zu ihm rüber schlenderte. „Was ist los? Ist dir die Puste ausgegangen?“
Er antwortete nicht. Mit der Fußspitze stieß ich leicht gegen seine Rippen, wobei mein Lachen sich zum Kichern dämpfte. „Komm schon, ich bin mir sicher, dieser kleine Stoß hat nicht halb so weh getan wie Wills Schlag in dein Gesicht.“
Chris grinste nicht und bewegte sich auch nicht. Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Ich runzelte die Stirn. „Ist alles in Ordnung?“ Als er immer noch keine Antwort gab, bückte ich mich besorgt über ihn. „Chris?“
Seine Hand schoss so schnell nach oben, dass ich keine Chance zur Flucht hatte. Ich schrie auf, als er meinen Nacken umschlang und mich zu sich herunterzog, bis unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Kornblumenblaue Augen bohrten sich mit ihrem Blick in meine. „Du hast mich ausgelacht“, grollte er.
Vor Schreck hechelte ich wie ein Hund nach einem Sprint, worauf sich ein Schmunzeln in seinem Gesicht ausbreitete.
„Das wirst du mir büßen“, versprach er.
Plötzlich wurde ich mir deutlich bewusst, dass meine Hände auf seinen nackten Oberarmen lagen und sein Atem nach Minzkaugummi roch. Seine Haut fühlte glatt und warm unter meinen Fingern an, die Muskeln hart unter meinen Handflächen.
Ich versuchte, mich in der Gegenwart zu verankern und den Traum zu vertreiben, in dem ich über einem Jungen gefangen war, der ebenso atemberaubend aussah wie Ethan. „Lass mich raten. Du willst ein Date?“, krächzte ich.
„Klingt nach einer guten Idee.“
Mit genervtem Ton in der Stimme, den ich mehr vortäuschen musste, als mir lieb war, antwortete ich: „Ernsthaft, wann gibst du endlich auf?“
Ein entschlossenes Funkeln wärmte seine Augen, als er meinen Blick mit seinem fesselte. „Wenn ich bekommen habe, was ich will, Sonnenschein. Oder um es in deinen Worten auszudrücken“, meinte er spöttisch, „wenn die Hölle zufriert.“
„Das wird nicht passieren, Freundchen.“
Im nächsten Augenblick rollte er so schnell mit mir herum, dass ich erschrak, als ich mich plötzlich unter ihm befand. Sein Gewicht lastete viel zu schwer auf mir und nahm mir den Atem. Ich schnappte nach Luft und lachte dabei – aus Überraschung, wie ich mir sagte, nicht etwa, weil ich es lustig fand. „Runter von mir, Chris! Du zerquetschst mich!“ Ich wand meine Arme unter ihm frei und gab ihm einen Fingerschnips an die Stirn.
Er erstarrte. „Oh, das hättest du nicht tun sollen, Sonnenschein.“ Schneller als ich blinzeln konnte, schnappte er meine Handgelenke und pinnte sie über meinem Kopf mit seinem Griff fest. Seine Stimme und sein Blick nahmen einen düsteren Ton an. „Weißt du noch, was ich dir versprochen habe, wenn du das noch mal machst?“
Mir fiel die Kinnlade runter. Ein Knutschfleck so groß wie Ohio hallte es mir in den Ohren. „Nein, das wagst du nicht –!“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Wetten doch?“
Ich lachte, kreischte und wand mich gleichzeitig unter ihm, aber das hielt ihn nicht davon ab, den Kopf zu senken und seine Lippen auf meinen Hals zu drücken. „Lass das! – Lass – Nein! – Halt! – Geh weg!“ Meine Worte kamen abgehakt heraus, unterbrochen durch Schluckauf und Kichern. „Wag es ja nicht, an mir rumzusaugen!“
Chris öffnete die Lippen und ließ langsam seine Zunge über meiner Haut kreisen. Schauer der Aufregung, so stark, wie ich sie nie zuvor verspürt hatte, durchströmten mich. Mein ganzer Körper spannte sich an und kribbelte. Irgendwas in meiner Magengrube spielte verrückt. War wohl ein amoklaufenden Schmetterling.
„Argh! Nimm deinen sabbernden Mund von mir!“ Ich wollte sehr viel wütender klingen, aber durch mein hysterisches Gelächter verfehlte mein Befehl irgendwie seine Wirkung.
Er ließ die Lippen über meinen Hals nach oben streifen, bis seine Nase die Stelle unter meinem Ohr berührte. „Wieso, das ist nur das Vorspiel, Sue“, raunte er. Dann folgte ein kurzer, scharfer Schmerz. Er saugte nur einen Atemzug lang, aber das war garantiert lang genug, um mich mit einem hässlichen Fleck zu verunstalten.
„Iiih! Du hast mich gebrandmarkt“, jammerte ich.
Chris lachte mir ins Ohr. „Und du solltest es voller Stolz vorzeigen.“ Er schob sich von mir runter und zog mich auf die Füße.
Hektisch wischte ich mir seinen Sabber vom Hals und rümpfte die Nase. „Das war so …“ Weil mir kein passendes Wort dafür einfiel, verzog ich nur das Gesicht und sagte: „… Wäh!“
„Ja, und deshalb hast du vermutlich auch so laut gelacht, stimmt’s?“
Mein Gesicht wurde so heiß, dass ich den Kopf zur Abkühlung am liebsten in eine Regentonne gesteckt hätte.
Chris hob seine Lederjacke auf und schlüpfte hinein. Nach einem Blick auf seine Uhr verzog er das Gesicht. „Tut mir leid, ich würde gern noch weiter mit dir herumalbern, aber ich habe immer noch Hausarrest und muss jetzt los.“ Er machte ein paar Schritte, dann drehte er sich um und wartete auf mich. „Wohin wolltest du eigentlich?“, fragte er, als ich mich ihm widerstrebend anschloss. „Soll ich dich wohin mitnehmen?“
Hätte ich ein anderes Ziel als sein Haus gehabt, hätte ich abgelehnt. Aber in diesem Fall wäre das wohl ziemlich albern gewesen. „Tja, um ehrlich zu sein, könntest du mich mit zu dir mitnehmen.“
Er warf mir einen verschmitzten Blick gekoppelt mit einem schiefen Grinsen zu. „Oh, Sonnenschein, du weißt ja nicht, wie sehr ich darauf gewartet habe, das von dir zu hören.“
Ich stöhnte frustriert auf. Wann würde ich es endlich lernen? Ich rieb mir über die Nasenwurzel und seufzte. „Lass mich das umformulieren: Du kannst mich zu dir nach Hause mitnehmen, wo sich unsere Wege hinter der Haustür trennen und ich einen schönen Nachmittag mit deinem Bruder verbringen werde. Wie klingt das? Besser?“
„Lahm.“ Er verdrehte die Augen und ergriff meine Hand – ergriff sie wirklich, so als wären wir ein Pärchen auf einem Spaziergang – und zog mich mit sich zum Parkplatz. Seine Finger fühlten sich angenehm warm an, aber das war bei meinen kalten Händen ja auch kein Wunder.
Auch Chris fiel das auf. „Whoa, wer bist du denn? Frosty, der Schneemann?“ Er drückte etwas fester zu und bereits nach wenigen Sekunden wärmte sich meine Hand in seinem Griff auf.
Auf dem Weg über den Rasen vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Ich zog es heraus, um nachzusehen, wer mir geschrieben hatte.
„Wer ist Charlie Brown?“, fragte Chris, der sich über meine Schulter gebeugt hatte, und betonte dabei jedes Wort extra.
„Dein Bruder“, verkündete ich schmunzelnd. Mehr musste er nicht wissen.
Chris schüttelte den Kopf mit gerunzelter Stirn. „Ihr beiden seid seltsam.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Hast du mir auch einen Spitznamen gegeben?“
Oha, das wollte ich ihm nun wirklich nicht verraten. Mein Zögern war ihm aber Antwort genug. Seine Augen weiteten sich interessiert. „Du hast? Wie lautet er?“
„Unwichtig.“ Ich wandte mich ab und las die Nachricht. Ethan wollte wissen, wo ich steckte. Wir waren schon vor einer Weile verabredet gewesen, aber Chris hatte dafür gesorgt, dass ich die Zeit vergaß und nun unpünktlich war.
Auf dem Weg simste ich zurück und wollte das Handy wieder in die Tasche stecken, doch Chris schnappte es sich.
„Hey! Gib das her!“ Ich versuchte, es mir wiederzuholen, aber Chris war zu schnell und hielt es außer Reichweite.
„Woll’n wir doch mal sehen“, sagte er gedehnt und hielt mein Handy mit einer Hand in die Luft, während er mich mit der anderen abwehrte. Ich konnte sehen, dass er durch das Mailarchiv wischte und schnell seine Nachrichten gefunden hatte, weil es so viele waren. Oh-oh …
Chris ließ die Hand sinken und starrte mich verblüfft an. „Arroganter Schnösel? Das kann nicht dein Ernst sein.“ Seiner Stimme nach zu urteilen, hatte ich zwar seinen Stolz verletzt, aber nicht so sehr, dass er deswegen sauer wäre. Um die Wahrheit zu sagen, blickte er sogar immer noch amüsiert drein.
Ich zuckte abwehrend mit den Schultern. „Was soll ich sagen? So habe ich dich kennengelernt.“
Er schenkte mir einen ernsten, aber immer noch neckenden Blick und streckte mir das Handy entgegen. „Du wirst das jetzt ändern. Auf der Stelle.“
„Keine Chance. Es ist, was es ist.“
„Schön, dann erledige ich das eben für dich.“ Er drehte mir den Rücken zu und tippte auf meinem Handy herum. Ich versuchte, um ihn herum zu schlüpfen, aber er wirbelte immer in die andere Richtung herum, sobald ich einen Angriff startete. Schließlich war er fertig und reichte mir das Handy mit zufriedenem Grinsen zurück. Schnaubend steckte ich es weg, ohne nachzusehen, ob er den Arroganten Schnösel tatsächlich durch seinen Namen ersetzt hatte. Ich wollte endlich zum Parkplatz.
Insgeheim darauf vorbereitet, während der fünfminütigen Fahrt Hohn und Spott zu kassieren, setzte ich mich auf den Beifahrersitz und schnallte mich an. Doch Chris’ Schweigen überraschte mich. Es machte mich sogar richtig unruhig, denn ich konnte mich bald nur noch auf seinen betörenden Duft konzentrieren, der das Wageninnere einnahm.
Nach einer Weile fing ich an, unsichtbare Fusseln von meiner Jeans zu zupfen, um mich abzulenken.
„Mach ich dich nervös?“
Mein Kopf ruckte nach oben. Er beobachtete mich aus dem Augenwinkel. So merkwürdig es auch war, aber mit dem frechen Chris konnte ich leichter umgehen als mit dem schweigenden Chris. Ich bedachte ihn mit sarkastischem Grinsen. „Du gibst wohl nie auf, was?“
„Nicht, solange der Hauch einer Chance besteht.“ Er bedeutete den Hauch mit Daumen und Zeigefinger. Dann trommelte er mit den Fingern aufs Lenkrad und sein Grinsen verblasste. „Kann ich dir mal eine ernste Frage stellen?“
Ich nagte an meiner Unterlippe und blinzelte überrascht. „Ich bin mir fast sicher, dass du das nicht kannst. Aber bitte, versuch es und gib dein Bestes.“
„Sehr witzig.“ Er lächelte, obwohl er vorgab, gekränkt zu sein. „Also, verrate mir … Warum würdest du mit meinem Bruder ausgehen, der absolut genauso aussieht wie ich und der dir gestern gesagt hat, dass eine Beziehung für euch beide nicht in den Sternen steht, aber nicht mit mir?“
Also hatte Ethan mit ihm über uns gesprochen. Das hätte ich mir eigentlich denken können. Sie waren immerhin Brüder und manchmal erweckte Chris den Eindruck, dass er sich, wenn auch um sonst nichts, wirklich Sorgen um Ethan machte. Ich betrachtete ihn eine lange Weile, in der sein Blick nervös zwischen mir und der Straße hin und herflog.
„Du glaubst, es geht nur ums Aussehen?“
„Nein.“ Er klang wie ein schmollendes Kleinkind, als ob er eigentlich Ja sagen wollte. Im nächsten Moment malte sich ein freches Grinsen in sein Gesicht. „Ich glaube, ich kann auch ziemlich charmant sein.“
Ich erinnerte mich an die Kiwi mit Cremedip und musste ihm recht geben. Aber am anziehendsten hatte er in einem Moment auf mich gewirkt, in dem er nicht wusste, dass ich ihm zuhörte. Was er bei Burger King zu Ethan gesagt hatte – die Dinge hinter verschlossener Tür – die ließen mich glauben, dass es durchaus Seiten an Chris gab, die ihn mir sympathisch machen konnten.
„Ja, das kannst du. Wenn du willst“, gab ich zu. „Aber das reicht mir nicht, um mit dir ausgehen zu wollen. Du siehst vielleicht aus wie dein Bruder, aber davon abgesehen, habt ihr nichts gemeinsam. Ihr seid wie Tag und Nacht.“
„Du küsst also lieber einen Jungen, der schüchtern und unsicher ist.“
„Ich dachte, hier geht es ums Ausgehen, nicht ums Küssen?“, spottete ich.
Er wackelte mit den Augenbrauen. „Das geht Hand in Hand.“
„Okay, in dem Fall … Ich treffe und küsse lieber einen Jungen, der nicht jeden Tag ein anderes Mädchen abschleppt.“
Chris dachte ein paar Minuten darüber nach. Inzwischen hatte er schon vor der Tür seines Hauses geparkt. Er stellte den Motor ab, beugte sich vor und legte die Arme übers Lenkrad. Den Kopf seitlich auf seine Arme gelegt, schaute er mir tief in die Augen. „Gib mir einen Grund damit aufzuhören.“
Mein Herz schlug ein wenig schneller und mir wurde bewusst, dass es sein eindringlicher Blick war, der mir so unter die Haut ging. Ich musste meine Zunge von meinem Gaumen lösen, ehe ich ihm antworten konnte. „So rum läuft das nicht, Chris.“
Heiliger Strohsack, hatte ich ihm etwa gerade einen Anreiz gegeben, sich meinetwegen nicht mehr mit anderen Mädchen zu verabreden? Denn so sollte das ganz und gar nicht klingen.
Er zögerte einen Herzschlag lang, als würde er ernsthaft darüber nachdenken. Schließlich hob er einen Mundwinkel zu einem herausfordernden Lächeln. „In Ordnung“, sagte er mit ziemlich leiser Stimme. „Machen wir’s auf deine Art.“
Ich hatte kaum Zeit, um Luft zu holen, da war er auch schon ausgestiegen. Mit zittrigen Fingern löste ich den Gurt, hievte mich aus dem Sitz und knallte die Tür hinter mir zu. Chris war schon fast an der Haustür angekommen. Mit der Fernverriegelung schloss er das Auto ab.
„Warte!“, rief ich. Ich war so perplex, dass ich wie festgeklebt stehen blieb. „Das ist nicht … also … Nein!“
Er schloss die Tür auf, ehe er sich wartend zu mir umdrehte. Widerstrebend folgte ich ihm. Als ich vor ihm stand, glitt sein Blick über meinen Hals und ein Grinsen kroch über sein Gesicht. „Deine Regeln. Du hast sie gemacht, also halte dich auch besser dran.“
Ich schüttelte den Kopf.
Chris nickte entschlossen.
Er schnappte mich an der Hand und zog mich ins Haus.
„Chris? Bist du das?“, rief seine Mutter aus dem Wohnzimmer.
Er legte einen Finger auf seine Lippen, damit ich den Mund hielt, und antwortete: „Ja, Mom!“
Was um alles in der Welt hatte er vor? Meine Gedanken rasten immer noch wie wild, weshalb ich völlig vergaß zu protestieren, als er mich in sein Zimmer schleifte. Er schob die Tür zu, schloss sie aber nicht ganz. Vermutlich wollte er mich nicht lange hier behalten.
Als hätte ich Wurzeln in den Boden geschlagen, wartete ich, während er etwas aus einer Kommode holte. Ein dunkelrotes Halstuch. Stirnrunzelnd sah ich zu, wie er es ausschüttelte und zu einem Dreieck legte. Als er näherkam, machte ich argwöhnisch einen Schritt zurück.
Meine Schüchternheit erheiterte ihn. „Halt still“, wies er mich an und machte einen weiteren Schritt auf mich zu. Behutsam band er das Tuch um meinen Hals. Dann hakte er einen Finger in den Stoff und rieb mit dem Daumen über den Knutschfleck. „Weißt du“, sagte er dabei leise, „ich hätte das nicht gemacht, wenn ich auch nur eine Sekunde das Gefühl gehabt hätte, es hätte dir nicht gefallen.“
Mein Herz trommelte einen hektischen Rhythmus in meiner Brust. Vielleicht hätte ich etwas sagen sollen. Vielleicht hätte ich mir das Tuch vom Hals reißen und ihm ins Gesicht schleudern sollen. Aber all das tat ich nicht. Stattdessen machte ich auf dem Absatz kehrt und verließ sein Zimmer, wobei ich mir verzweifelt wünschte, ich könnte die letzte halbe Stunde mit ihm vergessen.
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Fortsetzung folgt … wenn ihr wollt. 😉