Stealing Three Kisses (VM 1)

Stealing Three Kisses

Vernasch Mich, 1

Kapitel 1

Jace

„Du hast meinen One-Nighter geklaut, du Penner! Mit Sicherheit bist du der Letzte, den ich als Tristan auf die Bühne lasse.“

„Ach, jetzt komm schon!“ Ich täusche ein gequältes Gesicht vor, kann mir ein Grinsen aber trotzdem nicht verkneifen, als ich vom Kühlschrank in der angrenzenden Küche zurückkomme und Lawrence eine Dose Dr. Pepper zuwerfe, ehe ich mich wieder auf den Sitzsack ihm gegenüber fallen lasse. „Das war ein Versehen. Ich hatte doch keine Ahnung, dass du gerade versucht hast, die Kleine klarzumachen.“

Zugegeben, das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Natürlich habe ich, wie jeder andere im Raum auch, gemerkt, wie er auf meiner Geburtstagsparty vor zwei Wochen Caroline Hughs angebaggert hat. Sie hätte sich aber wohl lieber vor einen fahrenden Bus gestürzt, als ihn an sich kleben zu haben. Da war es doch meine absolute Pflicht, die arme Jungfrau in Nöten zu retten, oder?

Tja, und vielleicht war es auch ein kleines Geburtstagsgeschenk an mich selbst.

Er legt die Beine auf dem niedrigen Couchtisch zwischen uns übereinander und öffnet seine Dose, wirft mir dabei aber einen vernichtenden Blick durch die roten Haarsträhnen zu, die seine Augen verschleiern. „Und jetzt bietest du mir auch noch dieses Kindergesöff an? Ernsthaft? Kriegen deine Freunde plötzlich kein Bier mehr oder was?“

Vincent und Cedric haben je ein Budweiser bekommen. „Ich würde dir sogar eine ganze Brauerei anbieten, im Austausch für die Rolle als Tristan.“ Mein Grinsen ist so breit wie der Broadway, als ich ihm und den Jungs mit meiner Flasche zuproste. Vinnie und Rick trinken lachend mit mir. Lawrence hingegen … Ich schwöre, der Ire spinnt sich gerade meinen Tod in seinem genialen Drehbuchschreiber-Hirn zusammen.

„Och, warum machst du denn jetzt so ein finsteres Gesicht, Renzi?“, ziehe ich ihn mit einer Singsangstimme auf, weil ich genau weiß, wie sehr er den Spitznamen verabscheut. Er hasst es nur noch mehr, wenn wir seinen Nachnamen abkürzen, der im Übrigen Dickson lautet.

„Nenn mich noch einmal so und die einzige Rolle, die du im Stück kriegst, ist ein Baum.“

Äh… So wie er gerade grimmig die Augenbrauen zusammenzieht, sollte ich seine Warnung wohl lieber ernst nehmen. Es ist schon schlimm genug, nicht die Hauptrolle in Tristan und Isolde zu bekommen, wenn einer meiner besten Freunde im Theaterkomitee sitzt und für das Casting verantwortlich ist. Aber nicht die kleinste Chance zu haben, mitzuspielen, obwohl diesmal eine sehr wichtige Person im Publikum sitzen wird, ist dann doch ein Schlag unter die Gürtellinie.

Es geht das Gerücht um, dass sich ein Talentscout die Aufführung ansehen wird, und jeder an der San Francisco Art Academy weiß, wie solche Besuche die Türen zu den wirklich coolen Jobs in der Filmindustrie öffnen. Anders als Lawrence, der bereits in die Abschlussklasse geht, haben Vinnie, Rick und ich zwar erst vorige Woche unser zweites Studienjahr an der Akademie gestartet, aber man kann nie früh genug damit anfangen, an einer ernsthaften Schauspielkarriere zu arbeiten.

An warmen Septembertagen wie heute wird es in meinem Apartment, hier oben im vierten Stock, immer ziemlich heiß. Daher schiebe ich mir die Ärmel meines schwarzen Kapuzenpullis bis zu den Ellbogen hoch und nehme noch einen Schluck von meinem Bier. „Wirfst du es mir wirklich vor, dass die Mädels auf mich fliegen?“

Lawrence verzieht das Gesicht. „Sie liegen dir nur deshalb alle zu Füßen, weil du Bastard immer genau die richtigen Worte findest, um sie einzuwickeln.“

„Was soll ich sagen?“ Ich zucke mit den Schultern, denn er hat absolut recht. Mit dem zarten Geschlecht zu reden, fiel mir immer schon leicht. Lawrence leider nicht so sehr. Seit ich vor knapp einem Jahr auf dem Campus in ihn hineingestolpert bin, habe ich beobachtet, wie er sich krampfhaft abmüht, Mädchen zu Dates einzuladen. Wenn er erst einmal in einer Beziehung steckt, ist er da – Gott sei Dank! – etwas entspannter. Seit letztem Winter hatte er auch eine Freundin, aber die Kleine hat ihn vor zwei Monaten für einen Älteren sitzen lassen. Erschien mir allerdings nur fair, denn sie selbst war ja auch sieben Jahre älter als Lawrence.

„Aber du machst doch nächsten Frühling deinen Master als Drehbuchautor“, entgegne ich mit mehr Ernst in der Stimme. „Du bist ein genialer Schriftsteller. Von uns allen sollten Worte eigentlich deine Stärke sein.“

„Das möchte man meinen.“ Er macht ein grimmiges und ziemlich enttäuschtes Gesicht. „Nur leider gehen die Worte immer auf dem Weg von hier“, er tippt sich mit der Dose erst an die rechte Schläfe und hält sie dann gegen seinen Mund, wobei er weiter in die kleine Öffnung spricht, „nach da verloren, wenn ich einem hübschen Mädchen in die Augen sehe.“

„Na, vielleicht schreibst du ihnen in Zukunft lieber erst mal eine WhatsApp, ehe du mit ihnen redest?“, scherzt Vinnie und rempelt ihn schmunzelnd mit dem Ellbogen an.

Lawrence wirft ihm einen vernichtenden Seitenblick zu. „Geh zurück nach Kanada und erzähl doch den Leuten dort deine blöden Witze“, brummt er, woraufhin Vinnie sich dramatisch ans Herz fasst und abermals in schallendes Gelächter ausbricht.

„Oder scheiß komplett auf Worte und lass lieber Taten sprechen“, füge ich grinsend hinzu.

„Als ob du jemals ein Mädchen rumkriegen würdest, wenn du sie nicht mit deinem schnulzigen Gelaber einwickeln könntest“, kommt ihm nun Rick zu Hilfe und streckt dabei die Hand mit seiner Bierflasche aus, den Zeigefinger auf mich gerichtet. Dann lehnt er sich nach vorn und stützt die Unterarme auf die Knie. „Du wärst in der Welt der Frauen doch total verloren, Alter.“

„Ha! Das denkst auch nur du!“ Herausgefordert spiegle ich seine Haltung und schiele kurz zu Lawrence, der ganz genau weiß, dass das hier nichts weiter als dummes Donnerstagnachmittags-Geplänkel unter Freunden ist, weil uns nichts Besseres einfällt. „Ich wette, ich könnte schneller ein Mädchen abschleppen, ohne meine Klappe aufzumachen, als Law es mit tausend Worten kann.“

„Ja, das mag schon stimmen“, pflichtet mir Lawrence bei und hat dabei ein hämisches Glitzern in den Augen. „Ist das Schicksal da nicht eine fiese Bitch, wenn es zulässt, dass Versager wie ich gleichzeitig auch die Arschlöcher im Theaterkomitee sind und darüber entscheiden, wer auf die Bühne darf und wer nicht? Und du, mein Freund, wirst ganz bestimmt keiner der Glücklichen sein.“

„Hey, warte! Jetzt komm schon!“ Mein Protest hallt in der Flasche wider, die ich gerade an meinen Mund setze. „Vinnie, sag ihm, dass ich seine beste Besetzung bin!“

„Na, vielleicht bin ich eine viel bessere Wahl als du? Ich könnte ja selbst für die Rolle vorsprechen“, fällt mir unser kanadischer Freund schamlos in den Rücken und missachtet dabei komplett mein Dilemma. Na, wenn ihn das nicht zum Freund des Monats macht!

Ich setze eine sarkastische Miene auf. „Du wirst Regisseur. Was könntest du schon auf der Bühne tun?“

„Das Publikum mit meiner grandiosen Darbietung verzaubern?“

„Ja, tut mir leid, Bro, aber das ist mein Job.“ Ich hieve mich aus dem Sitzsack und mache das große Fenster in meinem Wohnzimmer auf, dann lehne ich mich weit hinaus und suche die Straße nach einem ganz bestimmten roten Auto ab. Killian ist schon lange überfällig. Er sollte Bier mitbringen. Meine Flasche ist beinahe leer und mir ist gerade nicht nach einem Dr. Pepper oder, schlimmer noch, nach einem Glas Milch, denn das ist alles, was mein Kühlschrank im Moment zu bieten hat. Ich drehe mich zu meinen Freunden um, stütze mich am Fensterbrett hinter mir ab, Knöchel über Kreuz und meinen hoffnungsvollen Blick auf Law gerichtet. „Du weißt genau, wie sehr ich die Rolle haben will. Also … wie kann ich das mit dem gestohlenen One-Nighter wieder gutmachen? Soll ich dir eine andere aufreißen?“

Lässig lehnt sich Lawrence zurück und legt die Hände hinter den Nacken. Seine Zungenspitze zieht dabei eine Linie über seine Unterlippe. Der Scherz ging wohl eine Spur zu weit. „Da du dir ja so sicher bist, was deine Verführungskünste betrifft“, meint er herablassend, „wie wäre es da mit einer kleinen Wette?“

„Eine Wette?“ Vor einer interessanten Herausforderung habe ich noch niemals gekniffen. Ich verschränke abwartend die Arme vor meiner Brust. „Schieß los.“

„Okay, hier ist der Deal: Wenn du ein Mädchen dazu kriegst, dass sie dir bis zum Casting im Oktober verfällt, bekommst du die Rolle.“

Während er seine Augenbrauen provokant hochzieht, kippen meine skeptisch nach unten. „Das klingt nicht allzu schwer.“ Eher viel zu einfach. Jeder in diesem Raum weiß, dass ich das mit links schaffe, und noch dazu lange vor dem Casting. Aber ich kenne Law. Er hat wohl noch ein Ass im Ärmel. Mit flacher Stimme fordere ich ihn auf: „Und die Bedingungen?“

„Du darfst nicht mit ihr reden.“ Eine Atempause für mehr Drama. „Kein einziges Wort.“

„Was?“, platze ich raus und Vinnie und Rick schütteln sich vor Lachen.

„Von jetzt an bis zum Tag des Castings wirst du absolut nichts zu ihr sagen. Weder persönlich, noch durch Dritte, und auch keine Briefe oder andere Nachrichten in geschriebener Form. Das Einzige, was du zur Kommunikation mit ihr verwenden kannst“, und jetzt grinst er hämisch, „ist dein Körper.“

Verfluchte Scheiße noch mal, diese Wette stellt sich gerade als unmöglich heraus! Ich fahre mir mit der Zunge über die Zähne, während ich abwäge, wie sehr ich diese Rolle wirklich haben will und ob sie all diesen Bullshit wert ist. Das Ergebnis ist leider eindeutig. „Kann ich zumindest nicken und den Kopf schütteln, wenn sie mich was fragt?“

„Nur, wenn es in ihrer Frage nicht um die Wette geht. Und wo wir schon dabei sind, wenn sie herausfindet, dass es sich bei dem Ganzen überhaupt um eine Wette handelt, ist der Deal geplatzt und du hast verloren.“

Mensch, ich hasse seinen klugscheißerischen Blick, wenn er denkt, er hat mich an den Eiern. Aber wenn das die einzige Möglichkeit ist, um an die Rolle des Tristan zu kommen, dann bin ich bereit. „Na gut. Was passiert, wenn ich scheitere?“

Bei dem düsteren Flackern in seinen Augen bereue ich meine Frage bereits jetzt.

„Wenn du versagst, Kumpel, wirst du Isolde spielen.“

„Nicht dein Ernst!“, grunze ich. „Das ruiniert meinen –“

„Nur ein kurzer Auftritt“, unterbricht mich Lawrence. Wieder grinst er dabei verschlagen. „In der Schlafzimmerszene. Und du wirst sie in sexy Damen-Reizwäsche spielen.“

Im Raum wird es schlagartig still wie auf einem Friedhof, bis auf Vinnies überraschtes Zischen durch seine Zähne.

„Das ist eine harte Strafe dafür, dass ich dir Caroline weggeschnappt habe“, sage ich leise.

Lawrence blinzelt zweimal mit absolut ernster Miene. „Alter! Sie hatte meilenlange, absolut perfekte Beine!“

Ein Schmunzeln entschlüpft mir bei dem Gedanken daran, wie sich eben diese perfekten Beine um meine Hüften geschlungen haben, als wir später allein in meiner Wohnung waren. „Ich weiß.“

Wie eine Lanze durchbohrt mich sein starrer Blick. „Entweder Isolde in Reizwäsche, oder gar nichts.“

Mit gesenktem Kopf beiße ich mir auf die Innenseite meiner Wange. Im Nachhinein betrachtet ist dieses Geburtstagstechtelmechtel mit Caroline wohl doch ein großer Fehler gewesen. „Okay …“ Ich hebe das Kinn und wage noch eine letzte Frage. „Kann ich das Mädchen dann wenigstens selbst aussuchen?“

„Vergiss es!“ Unverblümt lacht er mich aus. „Und es wird auch sicher kein Mädchen sein, mit dem du schon mal gesprochen hast. Jemand komplett Fremdes.“ Seine Mundwinkel schieben sich zu einem bösen Grinsen auseinander. „Meine Wette, meine Wahl.“

Ja, Scheiße. Ich habe schon befürchtet, dass er irgend so etwas sagen würde.

„Hey …“, zieht Rick unsere Aufmerksamkeit auf sich und kräuselt die Lippen, wobei er sich eine blonde Strähne aus der Stirn pustet und Lawrence mit einem prüfenden Blick festnagelt. „Du hast gesagt, es ist ein Dealbreaker, wenn die Kleine merkt, was gespielt wird. Aber ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie früher oder später sowieso rausfinden wird, dass es sich um eine Wette handelt? Ich meine, welches Mädel würde sich nicht wundern, wenn da plötzlich ein Kerl ständig versucht, sie anzubaggern, und nur mit ihr nicht spricht, mit allen anderen aber schon?“

„Gutes Argument.“ Mit dem rechten kleinen Finger kratzt sich Law am Bart in der Senke unterhalb seiner Lippe. „Dann sagen wir eben, sie darf die Bedingungen der Wette nicht herausfinden, oder was auf dem Spiel steht.“ Er dreht sich wieder zu mir. „Und da ich es dir ja schon extra leicht mache, sind hier die neuen Regeln: Drei Küsse. Alle müssen vor unseren Augen passieren, damit wir auch sicher sein können, dass du nicht schummelst. Und alle drei …“, wie ein verdammter Oberschullehrer hebt er den Zeigefinger, „… müssen von ihr begonnen werden.“

„Oh, bitte!“ Das ist doch vollkommen hirnrissig. „Du weißt genau, dass Mädchen niemals zuerst küssen!“ Meine Nägel drücken sich in den Marmor hinter mir, als ich mich mit beiden Händen am Fensterbrett festklammere. „Ein Kuss, der von ihr ausgeht.“

Grüblerisch legt er seinen Kopf etwas schief. „Zwei. Den dritten kannst du meinetwegen selbst starten. Und wenn sie dir danach eine knallt, bist du raus.“

Fiese Regeln, aber nicht unmöglich. „Einverstanden. Allerdings streichen wir den Teil, wo sie sich in mich verlieben muss.“

Er nimmt sich einen Moment, um das zu überdenken, als endlich die Sprechanlage an der Wand neben der Tür läutet. Ich gehe rüber und drücke den blauen Knopf, dann frage ich in meiner allerbesten Darth Vader-Imitation: „Wie lautet das Passwort?“

Killians WTF-Lachen dringt durch den Lautsprecher. „Ich hab das Bier, Schwachkopf. Jetzt mach schon auf.“

Okay, das lass ich mal gelten. Ich öffne ihm die Eingangstür, dann lehne ich die Wohnungstür an, damit er rein kann, und geselle mich wieder zu meinen Freunden auf der weißen Ledercouch. „Sind wir jetzt also fertig mit den Verhandlungen? Drei Küsse, keine Ohrfeige, nicht reden, nicht verlieben und alles vor dem 8. Oktober.“ Was mir etwas weniger als zwei Wochen Zeit gibt.

„Klingt wie der Rahmen für eine sehr interessante Wette“, meint Vinnie und hebt sein Bier, um den Vertrag zu besiegeln. Lawrence nickt und wir stoßen alle mit unseren Getränken über dem Couchtisch an, wobei er zum Anstoßen sein Dr. Pepper nimmt.

„Also, welches Mädchen schwebt dir für meine Aufgabe vor?“, frage ich.

„Es darf auf keinen Fall eine sein, die du bereits kennst“, erklärt Law. „Ich muss mir da was überlegen.“

Mist. Irgendwie ist das wie ein Tritt in die Eier, nur dass ich immer noch auf den Schmerz warte. „Na schön. Stell aber vorher sicher, dass sie Single ist. Ich werde ganz sicher nicht zum Beziehungskiller nur für eine Rolle in dem Stück.“

In dieser Sekunde geht die Tür auf und Killian kommt mit einem amüsierten Grinsen auf den Lippen herein. „Habt ihr schon die Kleine gesehen, die gerade drei Türen weiter einzieht?“ Er streift sich mit den Fingern durch die Haare, die genauso dunkel sind wie meine, nur dass seine ein paar Zentimeter kürzer und flach an seinen Kopf gedrückt sind. „Die ist ja vielleicht irre drauf.“

Jemand zieht in 403 ein? Das Apartment stand den ganzen Sommer über leer. Andererseits sollte es mich gar nicht so sehr überraschen. Immerhin hat das neue Semester gerade erst angefangen und die Akademie besitzt in diesem Block einige Wohnungen, die nur an die Studenten vermietet werden. 403 ist eine davon. Sie geht also auch zur Filmschule. Vielleicht ja ein Neuling?

„Wieso irre?“, stellt Rick die Frage, die uns sicher allen auf der Zunge liegt. Ich nehme Killian das Sixpack Bud-Light ab und mustere ihn dabei mit einem verschrobenen Blick wegen des Light-Biers.

„Das normale Zeug war aus“, bringt er zu seiner Verteidigung hervor und zuckt mit den Schultern, dann lässt er sich auf meinen Sitzsack fallen, während ich das Bier in den Kühlschrank stelle. „Und irre, weil …“, höre ich ihn Cedrics Frage beantworten, „na ja, stellt euch einfach vor, Hello Kitty trifft auf Abby Sciuto aus Navy CIS. Das wäre dann genau sie.“

Killians Beschreibung wirft ein paar bizarre Bilder in meinen Gedanken auf. Ich schüttle den Kopf, als ich wieder zu den Jungs ins Wohnzimmer stoße. Klingt nach dem Typ Mädchen, das nachts heimlich auf Friedhöfe schleicht – und dann dort ein kleines Picknick mit Milch und Keksen abhält.

Bevor ich diesen Gedanken überhaupt zu Ende spinnen kann, klatscht Lawrence in die Hände, springt auf und deutet begeistert zur Tür. „Das ist dein Mädel!“

„Oh nein, keine Chance!“ Ich hebe beide Hände, um seinen Enthusiasmus im Zaum zu halten. „Keinesfalls laufe ich blindlings in diese Wette!“ Sie könnte der totale Freak sein. Dann passe ich lieber und verzichte komplett auf die Rolle des Tristan. „Lass mich erst einen Blick auf sie werfen. Wenn sie halbwegs akzeptabel aussieht, sind wir im Geschäft. Wenn sie gruselig ist, kann meinetwegen Vinnie statt mir auf die Bühne.“

Der sadistische Ire hätte mich wohl nur zu gerne ohne einen blassen Schimmer in dieses Abenteuer geschickt, aber am Ende gibt mir sein zögerliches Nicken doch freie Bahn, um die Kleine erst einmal abzuchecken. Ich atme tief durch und spaziere raus in den Flur.

Apartment 403 ist nur ein paar Türen weiter den Flur runter und auf der anderen Seite des mit Teppich ausgelegten Ganges. Es ist nach Süden ausgerichtet, während ich in meinem einen Ausblick auf die Grant Avenue habe. Türmeweise Kartons umzingeln etwas Pinkes, das auf dem Boden hockt und nach Gott weiß was in einer der Kisten kramt.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das dort vorne auf dem Fußboden ist gar kein Mädchen, sondern ein Einhorn, denn alles, was ich sehen kann, ist ein himbeerfarbener Pferdeschwanz – nein, zwei – die schillernd über ihre Schultern hängen. Ich wage mich ein paar Schritte näher ran, gespannt, was sich sonst noch hinter dem Berg an Umzugskartons verbirgt.

„Hah!“, durchbricht ihr freudiger Ausruf die Stille im Gang, als sie plötzlich aufspringt, und ich stolpere rückwärts.

„Whoa!“ Reflexartig reiße ich beide Hände hoch, um abzuwehren, was auch immer mich attackieren will.

Zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie einen einzelnen silbernen Schlüssel hoch – wahrscheinlich der Grund dafür, warum sie überhaupt noch hier draußen vor ihrer Wohnung steht – und es dauert ein paar Sekunden, bis sie mich wahrnimmt. „Oh. Hi.“ Ihre Hand mit dem Schlüssel sinkt herab, aber ihre Mundwinkel wandern nach oben.

Ich starre sie einfach nur an, tatsächlich sprachlos und das nicht nur wegen der Wette.

Killians Beschreibung hat den Nagel auf den Kopf getroffen – abgesehen von dem Pippi-Langstrumpf-Aspekt, den er wohl vergessen hat zu erwähnen! Obwohl ihrem schwarzen Kleid noch gute zehn Zentimeter fehlen, damit man es als brav bezeichnen könnte, zeigt sie nur etwa zwei Fingerbreit nackte Haut, ehe ihre zweifellos sehr salonfähigen Beine in pink-schwarz-gestreiften Overknees verschwinden.

„Ähmm…“ Sie deutet mit dem Finger in meine Richtung, dreht sich dann zum Lift am anderen Ende des Ganges um, als würde sie nach jemandem Ausschau halten, und anschließend wieder zurück zu mir. „Wohnst du … da?“ Ihre regengrauen Augen funkeln zum Apartment hinter mir.

Breche ich bereits die Regeln, wenn ich jetzt mit Ja antworte? Ich kaue auf der Innenseite meiner Wange und entscheide mich dann für ein risikofreies Nicken.

„Oh cool! Dann musst du wohl Jace sein.“

Muss ich das? Ich ziehe beide Augenbrauen hoch.

„Das hat mir dein Freund vor zwei Minuten verraten.“ Sie lächelt. Es sieht bezaubernd aus, bis auf den kleinen Strassstein, der in einem Lippenbändchen-Piercing gegen ihre oberen Schneidezähne liegt. Das ist echt gruselig. Macht so ein bisschen den Eindruck, als hätte sie zu Mittag eine kleine Fee verspeist.

„Mein Name ist Brinna McNeal.“ Sie steigt über ein paar Kisten und kommt auf mich zu, wobei sie ihre Hand ausstreckt. „Meine Freundin und ich ziehen gerade hier ein. Also …“ Sie dreht sich halb im Kreis und blickt zu Tür 403, als wollte sie sichergehen, dass diese inzwischen nicht Beine bekommen hat und weggerannt ist. Dann zeigt sie mit dem Finger darauf. „Hier.“

Erst als ich ihre Hand ergreife, bekomme ich auch ihre volle Aufmerksamkeit zurück. Ihre Pferdeschwänze flattern bei dem überraschten Zucken ihres Kopfes über ihre Schulter. Sie ist zierlich. Oder vielleicht auch nicht, aber gegen meine eins-sechsundachtzig, ist sie tatsächlich ein Zwerg. Ich müsste sie schon in Highheels stecken, nur damit ihre Nasenspitze bis an meine Lippen reicht, was die Sache wiederum schwer macht, wenn sie mich zuerst küssen soll. Und dabei scheint sie nicht einmal der größte Fan dieser Schuhe zu sein, denn ein schwarzes Paar Pumps mit Schnallen schmollt verlassen drüben bei den Kartons, während sie hier komplett ohne vor mir steht.

„Gehst du denn auch auf die Filmschule? Ja sicher tust du das“, gibt sich Brinna McLangstrumpf selbst auch gleich die Antwort darauf und runzelt grübelnd die Stirn. „Immerhin hast du ja ein Apartment hier. Ich habe gehört, alle Wohnungen im vierten Stock gehören der Akademie. Bist du auch ein Erstklässler?“

Ich halte immer noch ihre Hand. Schweigend. Sie ist winzig und zart, mit Nägeln so pink wie ihr Haar.

„Nein, warte, du wohnst hier schon länger, oder? Zweites Studienjahr? Drittes? Oder gehst du etwa schon in die Abschlussklasse?“

Keine Ahnung wieso, aber ihr Geplapper bringt mich irgendwie zum Schmunzeln, während ich ihr noch einmal in die stürmisch grauen Augen blicke. Sie funkeln mit derselben Euphorie, die ich vor einem Jahr verspürte, als ich von Denver hierher gezogen bin. Obwohl sie sich doch sehr merkwürdig anzieht, scheint sie kein Großstadtmädchen zu sein. Möglicherweise von etwas außerhalb. Novato vielleicht.

„Hey, Cupcake?“, tönt Ricks Stimme aus meiner Wohnung und schneidet direkt zwischen uns. Die Tür steht immer noch offen. Natürlich konnten die Jungs da jedes einzelne Wort verstehen, das bisher aus Brinna herausgesprudelt kam.

Einen Moment lang starrt sie mir mit gekräuselten Lippen ins Gesicht. Offenbar versucht sie herauszufinden, ob die körperlose Stimme mit ihr redet oder mit mir. Ich neige meinen Kopf ein wenig. Das sollte ihr auf die Sprünge helfen.

„Ähmm… ja?“, ruft sie schließlich zurück und nimmt einen Punkt hinter mir ins Visier.

„Bist du Single?“

Oh Gott, bitte! Freunde können echt so peinlich sein. Ich verdrehe die Augen, aber neugierig auf ihre Antwort bin ich trotzdem ein wenig.

Sie blinzelt mir ein-, zwei-, drei-, vier-, fünfmal entgegen. Dann hebt sie ihr Kinn und ruft noch einmal: „Ja. Und du?“

„Nicht so ganz. Aber Jace dafür!“

Jap, darauf habe ich gewartet.

Langsam wandert ihr neugieriger Blick wieder zu mir. „Aha.“

Aus meinem Apartment hört man nur noch schallendes Gelächter, aber ich frage mich plötzlich, wie es wohl wäre, eine kleine, quirlige Elfe wie sie zu verführen? Ohne ein einziges Wort dabei zu verlieren …

Die Lippen aufeinander gepresst, lächle ich sie breit an und lasse ihre zierliche Hand los. Dann drehe ich mich um, gehe zurück in meine Wohnung und schmeiße die Tür hinter mir zu. Die Schwachsinnigen auf meiner Couch blicken hoch und sehen mich erwartungsvoll wie ein paar Kinder am Weihnachtsmorgen an. Diese Wette wird zweifellos ihre ganz persönliche Seifenoper.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und grinse verschmitzt. „Einverstanden.“

Kapitel 2

Brinna

Anscheinend nicht sehr gesprächig, der Bursche. Hilflos brumme ich und starre auf die Tür, die er mir vor der Nase zugeknallt hat. Meine Zehen krallen sich in den Boden. Eine davon ist verstaucht. Die kleine rechts außen. Ich besitze dieses enorme Talent, gelegentlich in die Einrichtung zu laufen. Da in den vergangenen beiden Tagen so viel davon im Weg stand, als meine Freundin Chloe und ich alles blitzschnell in unserem Apartment drei Blocks weiter zusammenpacken mussten, war es für mich nur natürlich, dass ich dabei ein paar Möbel mit den Zehen begrüßt habe.

Es ist gerade mal zwei Wochen her, dass wir nach San Francisco gezogen sind, und irgendwie lebe ich seither nach Murphys Gesetz. Ich habe meine Bücher für Dramaturgie in meinem Zimmer vergessen und musste gleich nach dem ersten Schultag den ganzen Weg nach Grover Beach und wieder zurück fahren. Ein platter Reifen auf der Landstraße war der Dank meines blauen Camaros für die stundenlange Tortur.

Am gleichen Tag eine Woche darauf musste ich schon wieder nach Hause fahren, da das Sekretariat meine Geburtsurkunde für einen Studentenausweis benötigte. Ich komme wieder zurück, will mich nur kurz auf der Couch ausruhen und – PENG – tropft mir als Nächstes Wasser von der Decke direkt ins Gesicht. Rohrbruch im Apartment über uns. In einer Woche eingezogen, in der nächsten wieder aus. Und jetzt haben wir es offenbar auch noch mit merkwürdigen Nachbarn zu tun.

Du lieber Himmel, man muss ja fast denken, ich habe einen Spiegel zerbrochen, während ich über eine dunkelschwarze Katze gestolpert bin, die meinen Weg unter einer Leiter hindurch gekreuzt hat. Ich kratze mich am Kopf. Da waren keine schwarzen Katzen, soweit ich mich erinnere. Also, was ist es dann? Hasst mich San Francisco?

Aber selbst wenn, würde mich das nicht wieder von hier vertreiben. Die letzten paar Nächte hatte ich zwar ein wenig Heimweh, doch ich bin fest entschlossen, dieser Stadt die Chance zu geben, die sie verdient. Darum verspreche ich mir selbst jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen, dass dies bestimmt ein ganz fabelhafter Tag wird. Und um ganz ehrlich zu sein, ich muss nur an die Filmhochschule denken und schon dreht mein Herz ein paar Pirouetten wie eine kleine Ballerina in meiner Brust.

Es war sehr interessant, nach all dem Schlamassel zu erfahren, dass die Uni Apartments günstig an ihre Studenten vermietet, also war das gebrochene Wasserrohr vielleicht ja sogar ein Wink des Schicksals. Zumindest kommt es mir so vor, denn auch wenn Chloes Eltern einen Großteil der Miete für unsere gemeinsame Wohnung bezahlen, sind ohne Job sogar mickrige zwanzig Prozent davon immer noch eine Menge Geld.

Ich hebe meine Schuhe auf, ziehe sie aber nicht an, da ich meiner schmerzenden Zehe noch ein paar Stunden Schonzeit gewähren will, und öffne die Tür. Es ist ein kleines, gemütliches Apartment, genau richtig für Chloe und mich. Jede von uns hat ihr eigenes Schlafzimmer und die übrigen Räume teilen wir uns. Ich bücke mich und schiebe die Kartons, die mit unseren Klamotten, Toilettensachen und anderem Zeug gefüllt sind, über die Schwelle in unser neues Zuhause. Chloe ist noch mit ein paar Möbelpackern unterwegs, die uns gleich die Couch bringen, die wir gekauft haben, als wir in diese Stadt gezogen sind, und den Fernseher, den meine Eltern zusammen mit der gesamten Küchenware gesponsert haben. Abgesehen von diesen Dingen hat der Vormieter sämtliche Einrichtung hier gelassen und alles, was wir noch tun müssen, um uns häuslich einzurichten, ist, die weißen Laken von den Möbeln zu nehmen. Ich greife mir das Ende des Stoffs zu meiner Rechten und ziehe mit Schwung.

Whoa! Hustend schlage ich wild mit den Armen um mich, als eine Staubwolke vor mir hochsteigt wie Asche aus einem Vulkan. Das nächste Laken ziehe ich lieber mit etwas mehr Vorsicht und viel weniger Enthusiasmus runter. Ich klopfe mein schwarzes Kleid ab und kratze mich an der juckenden Nase. Alle Fenster sind noch verschlossen. Die Luft hier drin ist abgestanden und nun auch noch staubig. Sobald ich zwei davon geöffnet habe, weht mir eine wunderbar frische, wenn auch leicht schwüle Brise ins Gesicht.

Drei Kisten warten immer noch draußen im Gang. Zum Glück ist die Größte nicht zugleich auch die Schwerste, doch als ich sie reintrage, bricht der Boden durch und fünfhundertzweiundziebzig Paar Schuhe poltern auf den Fußboden. Na, ganz große Klasse.

Ich selbst habe nur fünf Paar mit nach San Francisco gebracht. Schwarze Alice-im-Wunderland-Pumps, die großartig mit meinen gestreiften Lieblingsstrümpfen kombinierbar sind, kniehohe Raulederstiefel zum Ausgehen, kirschrote Doc Martens, pinke Nikes mit Glitter für den Tanzunterricht, und dann noch weiß-rosa Turnschuhe – ebenfalls mit Glitter – für jeden anderen Anlass. Normalerweise hätte ich diese auch heute für den Umzug angezogen, zusammen mit praktischen Jeans, aber ich konnte gestern Abend nur eine Garnitur Kleider für die Schule heute rauslegen. Und an Donnerstagen ist Jeremy Ward in meinem Kurs für Bewegung vor der Kamera. Ich musste gut aussehen.

Seit dem ersten Tag an der Akademie mit unserem ersten Augenkontakt habe ich subtil versucht, ihm zu vermitteln, dass ich einem Date nicht abgeneigt bin. Es ist bezaubernd, wie seine blauen Augen im Kontrast zu seinen chaotischen braunen Haaren stehen. Außerdem hat er die süßeste Stupsnase der Welt. Wir sind auch zusammen in Ausdruck und nach allem, was ich von seinem Stundenplan erspähen konnte, ebenfalls in Tanz. Zu schade, dass wir bisher noch keinen Tanzunterricht an der Uni hatten. Die Professorin kommt etwas verspätet von einer Europareise zurück.

Mit einem wunderschönen Tagtraum darüber, wie ich Jeremys süßes Näschen mit meiner anstupse, sinke ich in die Hocke und sammle Chloes Schuhe auf. Sie kommen zurück in den Karton, den ich anschließend über den Fußboden in ihr Zimmer schleife. Keine Ahnung, wo sie die alle hinstecken will.

Wieder draußen im Flur, um die nächste Kiste zu holen, landet mein Blick an der Tür ein paar Meter den Gang runter, wo vorhin der Typ mit den dunklen Haaren und dem schwarzen Sweatshirt aufgetaucht und wieder verschwunden ist. Die Messingzahlen 409 kleben oben auf dem Holz. „Jaaaace…“, murmle ich. Ein niedlicher Name. Ich habe vorher noch nie jemanden getroffen, der so heißt. Hmm. Ich kräusle die Lippen. Welcher Nachname gehört wohl dazu?

Wie ein neugieriges Kätzchen schleiche ich auf den Zehenspitzen rüber, weil ich genau weiß, dass ich heute Nacht nicht schlafen kann, wenn ich es nicht herausfinde. Unter der Klingel ist ein rechteckiges Schild befestigt, genauso wie vor jedem anderen Apartment in diesem Gebäude. Auf diesem steht Jason Rhode in markanter Jungenhandschrift. Nett. Da gibt’s außerdem einen Türspion. Einen sehr verlockenden Türspion. Zum ersten Mal in meinem Leben frage ich mich, ob diese Dinger eigentlich auch in die andere Richtung funktionieren. Eins einundsechzig ist die optimale Größe. Nur nicht für Türspione. Ich bin gezwungen, mich auf die Zehenspitzen zu stellen, um einen Blick durch das winzige Glas in Jason Rhodes Apartment zu erhaschen.

Okay, die gute Nachricht ist, dass diese Gucklöcher tatsächlich in zwei Richtungen funktionieren. Die schlechte, dass alles dahinter aussieht wie unter Wasser. Es ist schwer zu sagen, ob das da eine Person in der Mitte des Raumes ist oder nur ein Hutständer. Aber es bewegt sich, also tippe ich mal auf einen der Jungs.

Als nur einen Augenblick später alles noch viel mehr verschwimmt und Stimmen hinter der Tür lauter werden, mache ich einen panischen Sprung nach hinten an die Wand.

Genau, Brinna! Und was jetzt? Schaltest du auf Phantom-Modus und wirst unsichtbar? Mann!

Das kleine Klicken des Türknaufs aktiviert endlich meine Instinkte und ich flitze den Korridor runter. Ich springe über den Karton, der im Weg steht, bleibe mit meiner linken großen Zehe daran hängen und mache eine Bruchlandung direkt in meine Wohnung. Uff.

Schmerz und Luftmangel ausgeblendet, rapple ich mich in Lichtgeschwindigkeit wieder hoch, richte mein Kleid und stolziere nach draußen in den Gang, als hätte ich mir nicht gerade alle Rippen gebrochen. Dazu noch ein gehobenes Kinn und ein zuversichtliches Lächeln und die Illusion ist perfekt. Einer meiner Pferdeschwänze hängt quer über meinen Kopf in mein Gesicht und kitzelt mich an der Nase, doch mit einem flinken Wisch ist auch der verschwunden. Dann mache ich noch mal einen Satz in die Luft, als der Windzug zwischen Jaces Apartment und meinem die Tür laut scheppernd hinter mir zuschlägt.

Fünf Jungs schreiten im Gänsemarsch an mir vorbei, während ich mich um den letzten Karton auf dem Boden bücke.

„Hi, Brinna“, sagt der erste. Killian. Wir haben kurz geplaudert, als er vorhin hochkam.

„Hi, Brinna“, kommt in einem fremden Akzent von dem jungen Mann hinter ihm mit dickem karottenfarbenen Haar.

„Hey, Brinna“, trällert der Dritte, ein großer Blondschopf, und ich erkenne an seiner Stimme, dass er mich vorhin gefragt hat, ob ich Single bin.

„Na hoffentlich hast du den Schlüssel irgendwo in diesem Kleid versteckt“, kichert der Vierte, ein junger Liam-Hemsworth-Verschnitt, und wirft einen Blick auf die verschlossene Tür hinter mir. „Sonst hast du jetzt wohl ein Problem.“

Und der Fünfte in dieser gut aussehenden Gänseschar sagt … rein gar nichts.

Jace fängt lediglich meinen Blick mit einem Paar Haselnussaugen ein, die dunkel und verwegen im Licht der Decke funkeln. Ich kann nicht wegsehen, weil er es auch nicht tut, selbst wenn das bedeutet, dass seine Augen bis zum Anschlag seitwärts rollen, ohne dass er dabei seinen Kopf zu mir dreht. Als sich auch noch sein linker Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln hebt, löst das bei mir einen Schauer der drollig unbehaglichen Art aus.

Jap, merkwürdige Nachbarn. Toootal.

Zwei Wimpernschläge später sind alle fünf um die Ecke verschwunden und ihr Gequassel wird immer leiser, während sie die Treppen hinunterlaufen.

Endlich hole ich tief Luft, wobei mir ein fast unhörbares Ächzen entweicht und ich das Gesicht verziehe, denn der Sturz in meine Wohnung war doch ziemlich schmerzhaft. Ich drehe mich um, damit ich auch endlich das letzte Zeug hineintragen kann, nur rumse ich geradewegs gegen die Tür und der Karton rutscht mir aus den Händen. Er landet auf einer meiner noch nicht schmerzenden Zehen. Dem Himmel sei Dank handelt es sich hier nur um die Kiste mit meinem Kopfkissen und Stoff-Dumbo drin, somit ist nichts gebrochen, weder innen, noch außen.

Nur leider liegt der Schlüssel, den Liam Hemsworth vorhin erwähnt hat, drinnen auf einer noch abgedeckten Kommode und lacht sich vor Schadenfreude über mich bestimmt gerade den Bart ab. Winselnd schlage ich mit der Stirn gegen die verriegelte Tür von 403.

*

Um fünf vor Mitternacht steigen wir aus dem Fahrstuhl und Chloe lässt uns in unsere neue Wohnung. Lonny und Matt, die zwei Möbelpacker, haben darauf bestanden, uns nach der letzten Lieferung noch auf einen Drink in eine Bar einzuladen, was eigentlich ganz nett war, nur, dass wir nichts getrunken haben. Zumindest nichts Alkoholisches, denn Chloe ist während unseres Abschlussjahres auf der Highschool in klitzekleine Schwierigkeiten geraten, weil sie ihren Wagen um einen Baum gewickelt hat … betrunken. Jetzt ist sie auf Bewährung, darf das Land nicht verlassen, muss spontane Alkoholtests abgeben und hat vorübergehend ihre Fahrerlaubnis verloren. Für mich ist es ein Segen, dass sie in den Staaten festsitzt, denn sonst würde sie gerade ein Auslandsjahr in England absolvieren und ich wäre total einsam und verloren ganz allein hier in San Francisco. Aus Solidarität trinke ich auch nicht, um ihr Leid etwas zu schmälern, aber es macht mir bei weitem nicht so viel aus wie ihr, denn mein Lieblingsgetränk ist sowieso Erdbeermilch.

Chloe muss außerdem einmal im Monat zu einem Therapeuten. Um genau zu sein morgen, deswegen sind wir auch schon so früh von der Bar abgehauen. Gleich nach der Schule muss sie zum Zug und packen muss sie davor auch noch. Und um ehrlich zu sein, bin ich sowieso erschlagen nach dem zweiten Umzug in nur zwei Wochen. Im Moment freue ich mich einfach darauf, in mein neues Bett zu fallen, in meinem neuen Zimmer, in unserer neuen Wohnung in San Francisco, welcher der am weitesten von zu Hause entfernte Ort ist, an dem ich je war.

Ich muss sofort weggetreten sein, denn gefühlt nur wenige Sekunden später scheucht mich das Nebelhorn eines Dampfers fluchtartig aus dem gemütlichen Bett. Mit dem nächsten Herzschlag stehe ich Habt-Acht mitten in diesem fremden Zimmer. Schwer atmend und mit meinem Kissen bewaffnet ziehe ich mir schnell das Nacht-Shirt schützend über mein Höschen, während ich verzweifelt versuche, die Störquelle auszumachen. Es dauert einen Augenblick, bis ich weiß, wo ich bin und auf dem Nachttisch mein heulendes Handy entdecke, dessen Display heller strahlt als eine Atomexplosion.

„Briiiinnn!“, ertönt eine dumpfe Stimme durch die Wand von Chloes Schlafzimmer nebenan. „Dreh das ab!“

Das tue ich … eine halbe Minute später. Tatsächlich ist nämlich sie der Grund, warum ich den Wecker überhaupt erst so nervenerschütternd laut gestellt habe, und so halte ich das Handy vorher noch ein paar Sekunden lang direkt an die Wand, damit sie dem schönen Getöse lauschen kann. Erst dann schalte ich es mit einem Kichern aus.

Meine beste Freundin ist eine talentierte Schauspielerin, eine Wahnsinnsfußballspielerin und süchtig nach weißer Schokolade, aber sie ist definitiv kein Morgenmensch. Letzteres habe ich erst in den vergangenen Tagen herausgefunden, in denen wir auf engstem Raum zusammengelebt haben. Jeden Morgen an ihre Tür zu rumpeln und sie vor sieben eine Million Mal aufzuwecken, kann einem ganz schnell auf die Nerven gehen. Da funktioniert das hier schon viel besser. Und wer könnte es mir übel nehmen, dass ich es vielleicht auch ein kleines bisschen genieße, sie zu foltern?

Mir selbst macht das frühe Aufstehen nichts aus, so lange ich morgens meinen Joghurt mit Erdbeeren zum Frühstück bekomme – was heute leider nicht der Fall ist.

Der Kühlschrank hat nur gähnende Leere aufzuweisen. Verdammt. Aus Protest grummelt mein Magen, als würde er sich gerade selbst aufessen. „Steh auf, Schlafmütze. Wir haben kein Frühstück!“, rufe ich und versuche dabei mit den Fingern die Knoten aus meinen Haaren zu kämmen. „Wir müssen unterwegs noch im Coffee-Shop einkehren.“

Noch ein wenig orientierungslos in der neuen Wohnung schlurfe ich ins Badezimmer und nehme eine Dusche. Ein rosa Wasserfall schießt aus meinen Haaren, da die Farbe noch ganz frisch ist. Die meiste Zeit in der Highschool waren diese langen, schnurgeraden Zotteln erdbeerrot gefärbt. Mit dem Beginn dieses neuen Lebens jedoch habe ich zu meiner Lieblingsfarbe gewechselt. Pink.

Heilige Madam Mim, hätte ich auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt, wie geil das aussieht, hätte ich das schon vor Jahren gemacht.

Der einzige Nachteil ist das Strichmuster aus Pink, das nun die meisten unserer weißen Handtücher ziert. Ich föhne mir die Haare trocken und klettere anschließend in den gigantischen Kleiderschrank in meinem Zimmer, den meine Klamotten nicht einmal halb ausfüllen. Ein ausfächernder, lila Rock und ein engsitzendes graues T-Shirt mit Bambi drauf sind meine Beute an diesem Morgen. Wenn es nicht pink ist, dann muss es Disney sein.

Als ich aus dem Zimmer komme, sehe ich gerade noch den Grinch im Bad verschwinden. Fünfzehn Minuten später erscheint eine bezaubernde Belle, ihr dunkles Haar geglättet und wunderschön glänzend. Auf ihre dunklen Jeans abgestimmt, trägt sie einen langen Kaschmir-Pulli, unterteilt mit einem dünnen Gürtel. Nur ihr Lächeln strahlt noch mehr als das Sonnengelb des Stoffs.

Tja, das ist Chloe. Immer hübsch, immer perfekt gestylt. Tatsächlich hat sie mir damals mit zwölf auch beigebracht, wie man Make-up richtig aufträgt, obwohl rosa Lipgloss und manchmal ein bisschen lila Lidschatten schon das Meiste sind, was ich heute noch verwende. Ich habe aufgehört, Mascara und Eyeliner aufzutragen, als ich anfing auszugehen. Diese Dinge verschmieren nämlich ganz fürchterlich, wenn man im Kino weinen muss. Und im Kino weine ich ehrlich gesagt sehr oft, egal ob die Filme ein Happy End haben oder nicht. Allerdings liebe ich dafür Nagellack. Der verschmiert nicht, wenn man heult. Natürlich muss der auch pink sein. Am besten mit Schmetterlings-Tattoos auf den Ringfingern, so wie heute.

Gemeinsam verlassen wir das Apartment. Jedoch muss ich gleich, nachdem wir unten aus dem Lift gestiegen sind, noch mal hoch, da ich schon wieder meinen Schlüssel vergessen habe und Chloe nach der Schule nicht hier sein wird. Ich leihe mir ihren, um oben reinzukommen, und mache mich dann auf eine verzweifelte Suche durch alle Schubladen und Schränke, nur um mich Minuten später daran zu erinnern, dass ich meinen eigenen Schlüssel ja bereits gestern Abend in meine Schultasche gesteckt habe – damit ich ihn heute Morgen nicht vergesse! Hah, ich bin ja so schlau.

Weil der Aufzug gerade irgendwo zwischen dem ersten und zweiten Stock unterwegs ist, nehme ich die Treppe und fische inzwischen meinen Schmetterlings-Haarclip aus dem Rucksack. Am Fuße des fünfstöckigen Gebäudes ziehe ich die Tür auf, dann nehme ich die Spange kurz zwischen meine Zähne, damit ich meine Haare mit beiden Händen nach oben schlingen kann, und trete hinaus in die strahlende Sonne.

San Francisco am Morgen ist nicht mit Grover Beach zu vergleichen. Es ist laut, hektisch, und es stinkt. Es muss bereits eine Million Grad haben und die Temperatur verdoppelt sich nur noch mit den hohen Gebäuden rings um uns herum. Merkwürdig gekleidete Leute laufen vorbei. Eine davon sieht aus wie Anna aus Die Eiskönigin. Oh mein Gott, ich liebe sie! Gerade biegt eine Limousine um die Ecke und auf der anderen Straßenseite verkündet jemand lauthals, dass das Ende naht. Jap, wieder ein Tag, der die Chance bekommt, der beste überhaupt zu werden.

Auf der Suche nach Chloe, drehe ich mich auf der Stelle und finde sie neben dem Eingang bei einem Kerl mit einer Zigarette im Mundwinkel. Als mich seine blauen Augen entdecken, lächelt er. Und ich weiß auch ganz genau, wieso. Er ist ein Freund unseres Nachbarn. Genaugenommen ist er derjenige, der gleich mal gecheckt hat, ob ich in festen Händen bin. Rauch kommt aus seinem Mund, als er „Hi“ sagt.

„Hey“, ist alles, was ich gerade durch meine verbissenen Zähne rausbekomme, ohne die Haarspange fallen zu lassen, während ich mir immer noch die Frisur richte. Sobald sich das wirre Haarknäuel am Hinterkopf straff genug anfühlt, nehme ich den Clip aus meinem Mund und mache alles fest. Das erlaubt mir dann auch, sein Lächeln zu erwidern. „Wohnst du auch hier?“

„Nein. Einer der Jungs und ich teilen uns ein Mietshaus zwei Blocks weiter. Ich warte nur auf Jace.“ Er drückt sich von der Mauer weg und hebt den Kopf, als ob er erwarten würde, dass unser Nachbar irgendwo dort oben im Fenster hängt und uns zusieht. Ich überstrecke auch meinen Nacken, aber da oben ist niemand. Nachdem er die Kippe an seiner Schuhsohle ausgedrückt hat, wirft er sie in den Mülleimer am Straßenrand und bläst dabei noch die letzte Rauchsäule in die Luft. Dann wischt er sich die Hand an der Brust ab und streckt sie mir entgegen. „Ich bin übrigens Rick Anderson.“

Ich fasse sie kräftig, werde aber sogleich ein wenig von Chloes wildem Gefuchtel hinter seinem Rücken abgelenkt. Zum Glück bekommt Rick nicht mit, wie sie ihren Finger leckt und so tut, als würde sie ihn anfassen, nur um dann dieses heiße Zischgeräusch zu machen – na ja, nur tonlos eben. Sie deutet auf das Schlangentattoo, das sich unter dem Ärmel seines weißen T-Shirts herausschlängelt und um seinen Bizeps windet. Dabei überdreht sie die Augen, als würde sie gleich einem Ohnmachtsanfall erliegen, und schlägt sich schmachtend die Hände aufs Herz.

Du bist echt krank, Herzchen, will ich ihr an den verkorksten Schauspielerkopf werfen, aber ich schlucke meinen Kommentar runter und richte meine Aufmerksamkeit weiter auf Rick. „Klingt ja nett. Geht ihr alle auf die Akademie?“

Zweifellos weiß er, dass ich die Boygroup von gestern damit meine. „Mm-hm. Wir haben gerade das zweite Jahr angefangen. Außer Lawrence.“ Mit leicht geneigtem Kopf zieht er die Brauen etwas zusammen, als dränge er mich dazu, mich zu erinnern. „Großer Kerl, rote Haare?“

„Der mit dem Akzent?“

„Irisch, ja. Er ist bereits in der Abschlussklasse.“

Jetzt kommt auch Chloe um ihn herum und stellt sich neben mich. „Ist das nicht aufregend?“ Sie sieht zwischen ihm und mir hin und her. „Während du oben warst, habe ich Rick gerade erzählt, dass wir noch ganz neu an der Schule sind.“

„Und? Wie gefällt’s euch bisher?“, will er von uns beiden wissen, aber schon bald hängt sein interessierter Blick wieder an mir allein, während er seine Hände in die Jeanstaschen schiebt. Sieht aus, als würde ich heute Morgen etwas mehr Aufmerksamkeit bekommen, als ich brauche.

„Es ist noch zu früh, um etwas zu sagen“, flunkere ich und mache dabei einen auf cool, obwohl ich es tatsächlich schon gar nicht mehr erwarten kann, endlich wieder in die Schule zu kommen. Denn alles an der Filmschule ist einfach nur fantastisch. „Aber es scheint ganz nett zu sein.“

Für einen kurzen Moment starrt er mich unverfroren an. Dann bricht ein Lächeln aus ihm heraus und er nickt ganz langsam. „Geeeenau. Gib’s zu – du liebst es!“

Okay, er hat mich voll durchschaut. Meine Wangen schmerzen von meinem breiten Grinsen, als ich nun doch wild mit dem Kopf nicke, die Träger meines Rucksacks fest umschlinge und auf den Fußballen auf und ab wippe. „Ist die Filmschule nicht auch der beste Ort, an dem du in deinem Leben je gewesen bist?“

„Nicht der Beste, aber sie ist schon gigantisch cool, da hast du recht.“

„Hey, wenn du willst, können wir zusammen auf deinen Freund warten und dann gemeinsam zur Akademie laufen“, schlägt Chloe mit einem flirtenden Wimpernaufschlag vor, was er weder übersieht, noch ignoriert.

Lächelnd zuckt er mit den Schultern. „Klar, warum nicht? Jace wird begeistert sein.“ Und die Endnote seines Schmunzelns gebührt wieder mir.

Was genau kapier ich denn heute nicht?

Aus dem Augenwinkel heraus mustere ich ihn eindringlich. „Ah… ja. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, warum er das sein sollte, aber es tut mir leid, wir können leider nicht warten. Ich brauche meinen Joghurt.“ Mit einem entschuldigenden Blick schnappe ich mir eine Handvoll von Chloes Pulli und ziehe sie trotz störrischem Protest weiter. Rick rufe ich noch über meine Schulter zu: „Wir sehen uns ja bestimmt noch.“

„Darauf kannst du wetten!“ Er lacht und ich habe keinen Dunst wieso.

„Warum hast du das gemacht?“, faucht Chloe mich an, sobald wir außer Hörweite sind und sie Gott sei Dank endlich etwas an Geschwindigkeit aufnimmt.

„Ich will mein Frühstück und der Typ ist vergeben. Du brauchst also gar nicht erst zu versuchen, ihn zu verführen.“

„Woher willst du das wissen?“

Ihr vorwurfsvoller Blick und die bissige Stimme sind mir schnuppe. Ich schaue nach links und rechts, bevor wir die Straße überqueren und erkläre tonlos: „Weil er das gesagt hat.“ Das blaue Leuchtschild über dem Coffee-Shop am Ende des Blocks wirkt wie ein Signalfeuer auf mich und beschleunigt meinen Gang. „Er war einer der Jungs gestern. Ich hab dir gesagt, die sind alle merkwürdig.“

Chloe nagelt mir einen seitlichen Blick an die Schläfe. „Ich finde, er war eher süß als merkwürdig.“

„Ja, was auch immer.“ Im Moment habe ich weiß Gott andere Probleme, als mit ihr über mögliche – oder in Ricks Fall unmögliche – zukünftige Liebschaften zu diskutieren. Dafür ist es noch zu früh am Morgen und mein Magen noch zu leer.

Nahe am Verhungern ziehe ich sie in das hellerleuchtete Café mit den großen Fenstern und runden Metalltischen überall quer im Raum verteilt. Bis auf ein paar wenige Gäste ganz hinten ist niemand da, der heute ein Frühstück genießen will. Beim Klang der Glocke über der Tür heben sich kurz ein paar Köpfe, beachten uns dann aber nicht weiter. Wir steuern direkt auf den Typen mit zerzausten braunen Haaren und roter Schürze zu, der gerade die Theke abwischt. Er sieht älter aus als wir, aber nicht viel. „Einen Joghurt mit Erdbeeren, bitte“, bestelle ich und fische inzwischen mit gesenktem Kinn ein paar Münzen aus meinem Portemonnaie.

„To go?“ Seine Stimme klingt kratzig und gedehnt, so als ob er noch von seinem Kissen träumt.

Der Unterricht beginnt in zwanzig Minuten. Wir haben’s eilig. Ich hebe den Kopf und antworte ihm mit einem freundlichen Naserümpfen: „Nein, eher zum Laufen und Stolpern, denn das kann ich besonders gut.“

Er findet das nicht witzig und glotzt mich einfach weiter an.

Mein Lächeln versickert, als ich fünf Zentimeter schrumpfe. „Ähm, ja. Zum Mitnehmen, bitte.“

Im Austausch für zwei Dollar zwanzig händigt er mir einen Becher mit Deckel und weißem Plastiklöffel dazu aus. Ich werfe ihm noch fünfzig Cents extra und einen Erdbeerkaugummi auf die gläserne Theke. Vielleicht erhellt das ja seinen steifen San-Francisco-Humor.

Kapitel 3

Jace

„Verdammt! Was habe ich verpasst?“, fluche ich, als ich aus dem Gebäude komme und meine abgedrehte neue Nachbarin gemeinsam mit ihrer dunkelhaarigen Mitbewohnerin auf die Kreuzung zusteuern sehe.

„Eine halbe Minute früher, Kumpel, und du hättest sie zur Schule begleiten können“, antwortet Rick.

„Okay.“ Ich sehe auf die Uhr. Halb acht. Normalerweise breche ich morgens nie so früh auf, aber mein Motorrad ist gerade in der Werkstatt, weil die Kupplung ausgetauscht werden muss. Das bedeutet, dass ich zurzeit gut zwanzig Minuten zur Akademie brauche. „Am Montag bin ich pünktlich.“

Wir schlagen den gleichen Weg wie die Mädchen ein. Sie gehen ziemlich flott, als hätten sie Angst, es würde sie jemand verfolgen. Habt ihr was geklaut? bin ich versucht, ihnen nachzurufen. Nur dass meine Zunge ja leider eine tote Zone ist, sobald die Himbeere ins Spiel kommt.

Aus zwanzig Metern Entfernung beobachte ich, wie ihre Hüften sexy bei ihrem rasanten Schritt schwingen. Na ja, die der Rechten mehr als die von Brinna. Rick sagt, ihr Name ist Chloe. Von hinten sieht sie auch aus wie eine Chloe. Groß, schlank, lange dunkelbraune Haare, und ihr Hintern ist in so enge Jeans gepackt, dass man ohne Mühe erkennen kann, welche Art von Unterwäsche sie trägt. Nicht, dass ich viele Chloes kennen würde, aber genau so habe ich mir ein Mädchen mit diesem Namen immer vorgestellt.

Auf der anderen Seite habe ich mir noch nie jemanden namens Brinna vorgestellt. Der Name ist so selten wie ihre schreiende Haarfarbe. Obwohl die kniehohen Stiefel, die sie heute trägt, ja um Welten besser aussehen als die schwarz-pinke Zebrakatastrophe von gestern.

Sie biegen scharf links ab und verschwinden in Mosby’s Coffee ’n Cake. Das ist der Zeitpunkt, an dem wir sie überholen und die Führung übernehmen. „Willst du auf sie warten?“, fragt Rick und drosselt bereits das Tempo.

„Nein, das würde bloß seltsam aussehen.“ Ich habe nicht vor, schon am ersten Tag meine Chancen bei ihr in den Sand zu setzen, weil ich den Eindruck eines stummen Psychostalkers mache. „Sie gehen ja auf die gleiche Uni wie wir, oder? Da kann es nicht allzu schwer sein, sie später irgendwo auf dem Campus zu finden.“

Er zuckt mit den Schultern. „Stimmt.“

Aus der Tasche meiner schwarzen Jeans ziehe ich eine Packung Orangen Tic Tacs, schütte ein paar in meine offene Hand und werfe sie mir anschließend in den Mund. Abgesehen davon, mit meinem Bike durch die Rockies zu jagen, wann immer ich heim nach Denver komme, sind Tic Tacs meine einzige Sucht.

Was Rick angeht, den brauche ich mit seiner fürchterlichen Angewohnheit, zu rauchen, gar nicht erst zu fragen, ob er auch welche will. Ich halte ihm nur die Packung hin. Er kippt sie und greift einen kleinen weißen Minion mit Daumen und Zeigefinger, den er sich dann zwischen die Zähne schiebt. „Hast du einen Plan?“, will er wissen.

„Wofür? Es ist Freitag.“ An Freitagen machen wir immer das Gleiche. Schon ewig. „Ihr Jungs kommt am Nachmittag zu mir zum Zocken und später muss ich arbeiten.“ Über den Sommer habe ich eine Stelle als Cocktail-Mixer in einer eleganten Bar namens Code Red angenommen. Nach Schulbeginn waren vier Abende die Woche einfach zu viel für einen Nebenjob. Aber es gefällt mir dort, mein Boss ist cool und die vielen verschiedenen Gäste sind eine nette Abwechslung zu der Schauspieler-Community, in der wir uns die meiste Zeit aufhalten. Also habe ich meine Abendschicht von acht bis elf an Donnerstagen und Freitagen beibehalten.

„Ich weiß schon, dass PlayStation-Freitag ist.“ Das Tic Tac klackert beim Sprechen gegen seine Zähne. „Ich meinte wegen der Wette. Brinna. Hast du dir über Nacht eine Stragetie überlegt, wie du sie verführen willst?“

Nicht wirklich. Ich bin mehr der spontane Typ. „Für den Anfang muss ich wohl erst mal ihre Aufmerksamkeit erlangen, richtig?“ Ich zerbeiße mein Tic Tac und genieße den frisch-sauren Geschmack, dann ziehe ich eine Braue hoch und drehe den Kopf zu ihm. „Und das Wort heißt Strategie, Alter. Stra-te-gie.“

„Ja. Sicher.“ Ein Mundwinkel kommt hoch, als er mich mit der Schulter anrempelt. „Und niemand kann Klugscheißer leiden.“

Ich lache lauthals, als wir die letzte Straße vor der Akademie überqueren und dann hineingehen.

Rick sitzt in Schauspieltechnik neben mir und danach habe ich Improvisation mit Vinnie und Killian. Zwischendrin halte ich auf dem Gang und dem kleinen Campus zwischen den beiden Schulgebäuden der Uni gezielt Ausschau, aber die Himbeere kommt nirgends um die Ecke gerollt. Entweder geht sie mir aus dem Weg, oder unsere Kurse befinden sich dummerweise in total unterschiedlichen Richtungen.

In der Zehn-Uhr-Pause bin ich dran, vier Cappuccinos und einen Latte Macchiato zu kaufen – Lawrence muss sich immer ein wenig von uns niederem Fußvolk abheben. Jeder von uns muss an einem anderen Tag eine Runde Kaffee für uns alle springen lassen. Freitags bin ich an der Reihe. Ich lege zwanzig Dollar auf den Tresen. Der Rest ist Trinkgeld für das Mädchen im Kiosk.

Wie Wölfe, die bereits am Hungertuch nagen, warten die Jungs am großen, dunklen Holztisch bei der Betonmauer auf ihre tägliche Koffeinlieferung. Ich setze mich zu ihnen und schlürfe gut gelaunt mein Getränk, während sie alle nach ihren Bechern greifen. Vinnie und Rick schnappen sich die, die mit extra Zucker markiert wurden.

„Gibt’s schon was Neues im Hello-Kitty-Gewinnspiel?“ Lawrence lacht, als er sich den Zimtschaum von der Lippe wischt. Er trinkt niemals aus der Schnabelöffnung des weißen Plastikdeckels, sondern nimmt diesen jedes Mal vorher ab. Entweder hat er zu viele merkwürdige Trash-Filme geschaut, oder er hat tatsächlich eine paranoide Störung, denn immer wieder erzählt er uns, dass er nichts in den Mund nehmen will, das vielleicht von einem geisteskranken Verkäufer abgeleckt wurde. Dass dieser geisteskranke Verkäufer auch einfach in den Becher spucken könnte, erzähle ich ihm lieber nicht, sonst wird das Dilemma nur noch schlimmer. „Hast du dir den ersten Kuss schon geholt?“

„Wenn es so wäre, hättest du es gesehen“, scherze ich zurück. „Waren das nicht die Regeln? Vor deinen Augen einen Porno zu drehen?“

„Dreh so viele Pornos wie du willst in deinem Schlafzimmer. Mir reicht es, den Beweis für drei simple Küsse zu sehen.“

Vinnie wirft mir einen amüsierten Blick zu. „Was daran simpel sein soll, weiß ich nicht.“

„Ja.“ Nun lacht auch Killian und kratzt sich am Nacken. „Du musst wohl unter ihre Beine schlittern und sie damit umreißen, direkt auf dich drauf, damit ihr Mund dann ganz zufällig auf deinem landen kann.“

„Hey, keine Hilfestellungen, Jungs!“, plustert sich Lawrence auf und schnipst Killian ein zerknülltes Stück Papier an die Stirn. „Rhode soll die Aufgabe gefälligst alleine meistern.“

Ich überdrehe die Augen. „Als ob ich das wirklich tun würde.“ Oder … vielleicht sollte ich? Verdammt, was ist, wenn mir gar keine andere Wahl bleibt? Es wird wohl kaum reichen, mich hinzusetzen, die Lippen zu spitzen und darauf zu warten, dass mich ihr Kuss von ganz alleine trifft. Und wo zum Teufel steckt sie überhaupt? Wenn es das Wetter zulässt, sind zwischen der zweiten und dritten Stunde üblicherweise alle Schüler draußen, nur Brinna und ihre Freundin scheinen wohl etwas Besseres vorzuhaben. Na, wenn das nicht mein Glückstag ist …

Zurückgelehnt trinke ich meinen heißen Cappuccino und lasse meinen Blick über den Campus schweifen. Nein, kein pinker Haarschopf in Sicht. Sie macht es mir wirklich nicht leicht. Um sie zu finden, brauche ich wohl ein GPS.

Im nächsten Moment ersticke ich fast an meinem Kaffee, als mir eine grandiose Idee kommt. Keuchend richte ich mich auf und stelle den Becher weg.

„Alter, ist alles okay?“, gibt sich Rick besorgt.

„Ja, ja. Mir geht’s gut. Ich muss nur ganz dringend weg. Ich hab da was zu erledigen, das nicht warten kann.“ Genauer gesagt muss ich etwas besorgen. Ich springe von der Holzbank auf und schütte den restlichen Kaffee in einem Zug runter. Den Becher werfe ich in den Mülleimer in der Nähe.

Alle vier Jungs reißen die Augen auf und Vinnie fragt: „Wo willst du hin?“

„Keine Zeit für Erklärungen.“ Ich schaue kurz auf die Uhr. Fuck! Die Pause ist gleich vorbei. „Wir sehen uns später!“ Ich werfe mir den Rucksack über die Schultern und hetze los, quer über den Campus direkt zum Eingang des Schulgebäudes und rauf in den ersten Stock.

„Guten Morgen“, begrüßt mich die kleine, rundliche Sekretärin hinter dem Schalter der Direktion, als ich nach kurzem Klopfen praktisch durch die Tür falle.

„Hallo.“

Sie schiebt sich die Brille, die an einer dünnen Kette um ihren Hals befestigt ist, etwas weiter die Nase hoch und räuspert sich, während ich hier noch um Atem ringe. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Einen Arm auf dem Milchglastresen in Brusthöhe zwischen uns gelegt blicke ich zu ihr runter. Immer noch keuche ich wie eine Dampflok, aber das legt sich schnell. „Ich brauche bitte den Stundenplan für eine der Studentinnen. Ihr Name ist Brinna McNeal. Könnten Sie den vielleicht für mich ausdrucken?“

Angelica Delares – das steht auf dem Namensschild, mit dem ich gerade herumspiele – schiebt ein paar Zettel zu einem Stapel zusammen und mustert mich durch ihre rahmenlosen Brillengläser. „Stundenpläne, genauso wie jegliche andere Information über unsere Studenten, sind vertraulich, Mister …“

„McNeal“, beende ich rasch für sie. Dann lehne ich mich etwas weiter nach vorn und präsentiere ein herzliches Lächeln. „Sehen Sie, Brinna ist meine kleine Schwester. Sie hat gestern ihren Stundenplan verlegt und als Neuling an der Akademie ist sie nun etwas verzweifelt. Das arme Ding sitzt draußen und heult sich die Augen aus. Sie redet schon die ganze Zeit davon, wieder zurück nach Denver zu fliegen.“ Ich verziehe angsterfüllt das Gesicht. „Mom bringt mich um, wenn ich das zulasse.“

Offenbar schmilzt Angelicas Herz gerade unter meiner Lüge, denn ihr skeptischer Gesichtsausdruck verwandelt sich in pures Mitleid. „Na schön, dann werde ich mal eine Ausnahme machen.“ Den Stapel beiseitegelegt, dreht sie sich zu ihrem Computer und hackt etwas in die Tastatur. „Wann ist denn der Geburtstag Ihrer Schwester?“

Agh. Die Chancen stehen 365 zu eins, dass ich den errate. Ich schlucke und lache dann unbeholfen, als sie ihren Kopf hebt und mich anstarrt. „Oh Mann, erwarten Sie im Ernst, dass ich den Geburtstag meiner Schwester auswendig kenne? Ich weiß ja nicht mal den meiner Mutter.“ Aus der hinteren Hosentasche ziehe ich mein Handy hervor. „Aber ich kann sie schnell anrufen, wenn Sie ihn unbedingt brauchen.“ Schon dabei, meine Kontaktliste zu öffnen, bete ich insgeheim, dass sie mir meine Scharade abkauft und mich hier bald vom Haken lässt. Keine Ahnung, wen ich anrufen würde, wenn sie es nicht tut.

Die Sekretärin seufzt zwar, konzentriert sich aber wieder auf den Computer, wobei ihr Blick zwischen Bildschirm und Tastatur hin und her schießt. „Schon gut, ich finde sie auch so.“

Ja leck mich, wo ist mein Oscar für diesen grandiosen Auftritt?

„McNeal, sagten Sie. Mit E-I oder E-A?“

„E A“, erkläre ich rasch und gebe mir in Gedanken selber ein High-Five dafür, dass ich den Namen gestern auf dem Schild von Apartment 403 gelesen habe. Kurz darauf erwacht der Drucker in der hinteren Ecke mit sanftem Rattern zum Leben. Die Frau steht auf und nimmt ihre Brille ab. Zehn Sekunden später händigt sie mir Brinnas Stundenplan über den Tresen aus und ich verabschiede mich mit einem dankbaren Lächeln.

Sobald die Tür hinter mir zugefallen ist, gehe ich draußen vor dem Büro leicht in die Knie und schlage siegreich die Fäuste in die Luft. „Yessss!“

Die neugierigen Blicke von vorbeilaufenden Studenten kratzen mich dabei wenig. Sie haben ja keine Ahnung, welch großartige Errungenschaft ich hier in meiner Hand halte. Mein suchender Blick fliegt über die Spalten auf dem Papier, damit ich endlich herausfinde, wann das kleine pinke Kätzchen wo in diesem Haus zu finden ist. Und ja, ganz wie ich vermutet hatte. Wenn man unsere Stundenpläne vergleicht, könnten wir genauso gut auf zwei verschiedenen Planeten studieren. Die meiste Zeit befinden wir uns an komplett anderen Enden, auf komplett anderen Stockwerken und oft nicht einmal im selben Gebäude. Außer montags, wenn sie Ausdruck gleich neben meiner Schriftstellerklasse hat, und am Mittwoch und Freitag von zwei bis halb vier, wenn sie tanzt und mein Unterricht bereits vorbei ist.

Neben Tanz ist ein Sternchen mit Fußnote. Anscheinend beginnt der Unterricht erst heute, auf Grund der verspäteten Ankunft einer Lehrerin. Es handelt sich dabei um ein Freifach, das ich schon im letzten Jahr gewählt hatte. Diesen Herbst musste ich es für Kampfchoreographie sausen lassen, was im Übrigen als Nächstes bei mir ansteht und – verflucht! – wozu ich todsicher zu spät komme, wenn ich mich nicht sofort in Bewegung setze. Die kostbare Information sicher in meiner Hosentasche verstaut, rase ich durchs Treppenhaus und beschließe unterwegs, vielleicht nach Schulschluss noch kurz einen Blick in die neue Tanzklasse zu werfen. Könnte sich lohnen.

Killian wartet bereits vorm Eingang zur Turnhalle auf mich. „Was in aller Welt hat dich denn vorhin gebissen? Du bist ja losgerauscht wie ein Irrer.“ Schmunzelnd schlägt er mir leicht auf die Schulter, als wir beide hineingehen. „Hast du deine Tage zu früh bekommen, Prinzessin?“

„Ja, fick dich doch selbst, du Penner!“ Lachend lasse ich meinen Rucksack in der Ecke auf den Boden fallen und verstaue dann Brinnas Stundenplan darin. Aber nicht, ohne Mister Ach-So-Witzig vorher noch einen Blick darauf zu gewähren. „Ich musste was aus dem Sekretariat holen.“ Meine Mundwinkel wandern in einem glorreichen Grinsen noch weiter nach oben. „Und jetzt weiß ich immer, wo sie ist.“

Die Augen respektvoll hochgezogen, nickt Killian. „Smart, Rhode!“

„Es gibt nur ein Problem. An den meisten Tagen ist es so, als ob wir uns an zwei Enden des Landes befinden. Wir haben nicht einmal zur gleichen Zeit Mittagspause.“

„Das ist bitter.“ Er wartet, bis ich aufgestanden bin, damit wir uns gemeinsam einen Platz auf den Bänken suchen können. „Aber ihr seid ja Nachbarn. Wie schwer kann es schon sein, sie mal zu Hause zu erwischen?“

Das bleibt abzuwarten. Ich verziehe die Miene. „Das ist nicht genug. Ich will mich nicht nur auf mein Glück verlassen, um ihr zu begegnen.“ Die Uhr tickt und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo ich mit dem Mädchen beginnen soll. Während ich den Kopf hängen lasse und mir die Schläfen massiere, denke ich angestrengt nach. „Ich brauche unbedingt mehr Zeit mit ihr allein, verstehst du? Einen guten Ort, um ein bisschen auf Tuchfühlung mit ihr zu gehen.“

Und dann kommt mir aus heiterem Himmel eine Idee. Mann, warum habe ich daran denn nicht schon früher gedacht? Mein Kopf schnellt hoch zu Killian, der aussieht, als wäre ihm gerade in diesem Moment derselbe Gedanke gekommen. „Vinnie!“, platzen wir beide mit der offensichtlichen Lösung heraus.

Er und Rick mieten gemeinsam ein Haus nur ein paar Blocks entfernt und während Rick seine Wochenenden am liebsten bei seiner Freundin verbringt, ist Vinnie der Partyking. Es war auch ihr Haus, in dem ich Lawrence die Aussicht auf ein Abenteuer mit Caroline ruiniert habe und überhaupt erst in diesen gottverdammten Schlamassel geraten bin. Mein Kumpel kennt genug partygeile Leute, dass es sicher kein Problem darstellt, für morgen Abend was auf die Beine zu stellen. Unnnnd … er kann heute Nachmittag rüber zu Brinna gehen und sie ebenfalls einladen.

Wenn sie kommt, hole ich mir den ersten Kuss.

In Kampf-Choreo habe ich leider nicht viel Zeit, um mir einen Plan dafür zu überlegen, weil ich damit beschäftigt bin, Killians Fakehiebe abzuwehren. Eine Kampfszene darzustellen ist gar nicht so leicht, wie es in Filmen immer aussieht. Erst als wir endlich fertig und auf dem Weg zur nächsten Unterrichtsstunde sind, ziehe ich mein Handy heraus und rufe Vinnie an.

„Hey, Mann!“, sage ich, sobald er abnimmt. „Kannst du für Samstagnacht eine Party organisieren?“

Morgen Samstagnacht?“, fragt er überrascht nach.

„Jap.“

Seine Stimme kühlt wieder runter. „Schätze schon. Warte mal.“ Dem Klang nach hält er sich das Telefon gerade an die Brust, während er mit jemandem spricht. „Jace will morgen eine Party bei uns. Bist du einverstanden?“ Drei Sekunden später habe ich ihn wieder in der Leitung. „Rick sagt, Liana ist nicht in der Stadt und eine Party kommt nicht in Frage. Er will ein ruhiges Wochenende.“ Ich kann sein Augenrollen dabei schon fast hören.

Leise vor mich hin fluchend ziehe ich die Brust ein und zwänge mich zwischen zwei Studentinnen hindurch, die auf Kollisionskurs mit mir sind. Dann schnauze ich Vinnie an, „Lass mich mit ihm reden!“

„Er hat selber ein Handy. Ruf ihn an.“

Dämlicher Sack. Gerade ist nicht die richtige Zeit für Prinzessinnenspielchen. „Alter, gib ihm das verdammte Telefon!“

Vinnie lacht zwar, aber einen Moment später geht Rick ran. „Hey, Loser.“

„Komm schon, Kumpel. Ich brauche eine Party!“, dränge ich und winke dabei Killian zu, der nach rechts zu seiner nächsten Klasse abbiegt, während ich weiter geradeaus muss. „Das ist ein Notfall!“

„Wieso? Sind deine Finger schon wund von zu viel Handarbeit?“ Er kichert über seinen bescheuerten Witz. „Schaff dir eine Freundin an. Problem gelöst.“

Meine Stimme wird zu einem tiefen Grollen. „Ich muss niemanden flachlegen. Ich brauche nur ein wenig Zeit mit Brinna.“

„In meinem Haus?“

Himmel, diesen Lachanfall am anderen Ende der Leitung habe ich nun wirklich nicht kommen sehen. „Weißt du was?“, murre ich. „Wir reden dann in der Mittagspause, wenn du dich hoffentlich wieder eingekriegt hast.“ Frustriert lege ich auf, aber die ganze Zeit in Richtiges Vorstellen denke ich nur darüber nach, wie ich ihn am besten dazu überreden kann, mir zu helfen. Wie kommt es, dass die besten Freunde immer zu fiesen Ratten werden, sobald sie die Chance wittern, auf deine gedemütigten Kosten etwas zu lachen zu haben?

Nach der vierten Stunde stoße ich zu den Jungs in der Cafeteria. Killian ist der Einzige, der nicht mit uns gemeinsam Mittagspause hat, aber Rick und Lawrence warten schon mit einem dämlichen Grinsen auf mich, als sie anfangen zu essen. Ich setze mich und wickle meinen Snack aus, den ich mir am Kiosk gekauft habe, dann rutsche ich einen Sitz nach rechts, um für Vinnie Platz zu machen.

„Hey, Rhode! Wir haben doch gesagt, keine Hilfe bei der Wette“, murmelt Law um einen Bissen Käsepizza herum. Natürlich musste ihm Rick sofort von unserem Telefonat erzählen.

„Es ist nur eine Party, Mann. Ich bitte euch ja nicht darum, das Mädchen an einen Stuhl zu fesseln, damit ich mit ihr knutschen kann.“

Rick öffnet eine Dose Cola und schlürft die paar übergelaufenen Tropfen vom Rand. „Wenn du dir nicht bald etwas einfallen lässt, ist das wohl deine einzige Chance, um die Wette überhaupt noch zu gewinnen.“

Ehe ich von meinem Schinkensandwich abbeiße, ziehe ich eine Braue hoch. „Bist du sicher, dass dich deine Eltern wirklich Cedric und nicht Brutus genannt haben?“

„Tut mir leid, Kumpel.“ Schmunzelnd setzt er die Cola ab. „Aber die Aussicht, dich Isolde spielen zu sehen, unterzieht unsere Freundschaft schon einem harten Test.“

„Na, jetzt kommt schon, Jungs.“ Ohne uns anzusehen, versucht Vinnie verzweifelt den Anfang der Frischhaltefolie um sein Sandwich zu finden und dreht das Ding dabei hundertmal im Kreis. „Eine Wette ist eine Wette, aber wir müssen es ihm ja nicht noch extra schwer machen. Er wird die nächsten zwei Wochen als Stummer noch genug zu kämpfen haben, um Brinna die Küsse abzujagen.“

„Jaaa. Danke!“ Zumindest einer dieser Gauner versteht mein Dilemma.

„Na schön. Dann bekommst du deine Party.“ Mit einem bösen Grinsen schiebt sich Lawrence das letzte Stück Pizzarand in den Mund. „Wenn du einen Weg findest, sie einzuladen … ohne mit ihr zu reden oder ihr eine Nachricht überbringen zu lassen.“

Nach einem zutiefst erleichterten Seufzen lehne ich mich zurück und kann endlich mein Mittagessen genießen. „Technisch gesehen muss ich das gar nicht. Es ist Vinnies und Ricks Party. Die beiden können sie einladen und ich breche keinerlei Regeln damit.“

„Cleveres Argument.“ Und obwohl ich genau weiß, dass er mich nur zu gerne scheitern sehen würde, nickt Law und toastet mir mit seiner Spriteflasche zu.

„Na gut, wir schmeißen eine Party und laden deine Kleine ein. Aber jetzt habe ich eine Bedingung“, stellt Rick fest, wobei seine Augen irgendwie unheimlich funkeln. Verdammt! „Du wirst auf der Party Barkeeper spielen.“

Skepsis verschrumpelt mein Gesicht zu einer Rosine. „Ich soll Cocktails mixen?“

„Für die Gäste, ja. Und –“ Er hebt einen Finger. „Du wirst dabei die Sachen aus dem Club tragen, damit du auch professionell aussiehst.“

Die schwarzen Jeans mit dem weißen Hemd und die graue Weste zu tragen, ist in dieser Angelegenheit nicht mein Hauptproblem. Sondern, dass ich die meiste Zeit beschäftigt sein werde. „Wenn ich den ganzen Abend hinter der Bar eingespannt bin, wie soll ich sie denn dann bitte besser kennenlernen?“

„Dieses Problem musst du schon selbst lösen.“

„Alter, du solltest lieber beten, dass du in Zukunft niemals einen Gefallen von mir brauchst.“ Ich lache und nicke gleichzeitig. „Deal.“

Und jetzt frage ich mich, ob das Sozialleben aller Einundzwanzigjährigen so hart ist wie meins.

„Cool.“ Vinnies Gesicht erstrahlt in völlig neuem Glanz, als er endlich das richtige Ende der durchsichtigen Folie erwischt und sein Mittagessen auspacken kann. „Ich schicke dann gleich mal die Einladungen raus.“

*

Nach meiner letzten Stunde gehe ich nicht gleich nach Hause, sondern spaziere vorher noch in den zweiten Stock, wo sich das Tanzstudio befindet. Ihrem Stundenplan nach müsste Brinna gerade ihre erste Tanzstunde haben.

Die Pause zwischen der sechsten und siebten Unterrichtseinheit ist kurz, daher ist es nicht ungewöhnlich, dass sich der Gang schnell lichtet. Links und rechts von mir schließen sich Klassenzimmer und bald schon schlendere ich ganz alleine den stillen Flur entlang. Vor dem Studio warte ich sicherheitshalber noch ein paar Minuten, bis die Stimmen hinter der schweren Holztür verstummt sind. Die Jungs und Mädchen müssen inzwischen in den Saal gegangen sein, also schleiche ich mich leise in den Umkleideraum.

Hier haben die Schüler die Möglichkeit, ihre Klamotten und Taschen in kleinen Spinden wegzuschließen. Einige ungenutzte Kästchen stehen noch offen, andere sind verschlossen und der Chipschlüssel wurde abgezogen. Um die Ecke, wo es zum Saal geht, hallt die Stimme von Miss Millburn, die gerade ihre Willkommensrede hält. Ich hatte sie letztes Jahr ebenfalls in Tanz und fand sie im Grunde ganz nett. Sie ist hart aber fair und treibt einen immer dazu an, ein paar Gramm mehr zu geben, als man zu schaffen glaubt. Und in den meisten Fällen hatte sie tatsächlich recht.

Vorsichtig spähe ich um die Ecke. Da dieses Fach nicht an Jahrgänge gebunden ist, wundert es mich nicht, dass auf dem Boden in einem Halbkreis vor ihr Anfänger genauso wie Abschlussklässler sitzen, die aufmerksam zuhören, während ihre neue Professorin die Regeln darlegt und erklärt, was in diesem Jahr alles auf sie zukommen wird.

Etwas Hip-Hop und Street Dance, Ballett und – da Tanz ja auch oft in romantischen Filmen vorkommt – zusätzlich noch einiges an Partnerdingen. Das übliche Blabla halt. Hab ich schon im letzten Jahr gehört. Street Dance war ziemlich cool. Ballett nicht so sehr. Aber wenn ich so über die Partnertänze nachdenke, hätte es meinem Zweck wohl viel mehr gedient, wenn ich diesen Kurs für mein zweites Studienjahr aufgespart hätte. Mit dem richtigen Mädchen zu tanzen, kann schon mal ein ordentliches Feuer entfachen. Knistern. Das habe ich letzte Weihnachten aus erster Hand mit Melanie Foster erfahren. Mit Brinna zu tanzen wäre zumindest ein guter Anfang.

Andererseits, wenn alles gut geht, kommt sie morgen auf die Party. Und wer sagt denn, dass ich dort nicht auch mit ihr tanzen kann?

Kapitel 4

Brinna

Ich bin schon total hibbelig wegen Tanz. Chloe wollte den Kurs nicht mit mir belegen. Mit den vielen Problemen, die sie ohnehin schon an der Backe hat, ist ein dummer Tanzkurs das Letzte, woran sie jetzt denkt, meinte sie in den vergangenen Wochen immer und immer wieder. Da half auch das ganze Flehen nichts, dass sie es sich doch noch anders überlegen sollte. Aber sie ist auch nicht wirklich eine Tänzerin. Ich hingegen habe meine Ballettstunden als Kind geliebt und kann es nun schon gar nicht mehr abwarten, bis der Unterricht hier endlich beginnt.

„Wir sehen uns dann in zwei Tagen“, sagt Chloe in mein Ohr, als wir uns zum Abschied noch einmal vor dem Schulgebäude umarmen. Sie fährt gleich los nach Grover Beach und nimmt am Sonntagmorgen den Acht-Uhr-Zug zurück. Mist. Das wird ein ganz schön langes und langweiliges Wochenende ohne sie. Dumbo und ich werden uns ein paar Filme seiner Freunde reinziehen und ich muss mich dabei wohl ganz alleine mit einer Familienpackung Erdbeereiscreme trösten.

Außer ich bekomme Jeremy noch dazu, mich um ein Date zu bitten. Ein kleines Lächeln stiehlt sich dabei in mein Gesicht, denn in fünf Minuten sehe ich ihn im Unterricht. Mit einer ganz anderen Art von aufregendem Kribbeln im Bauch sause ich die Stufen hoch.

Das Tanzstudio liegt am hintersten Ende des Gangs und ist eigentlich nichts weiter als ein Turnsaal mit Umkleideräumen davor. Mädchen links, Jungs rechts. Ich sinke auf eine der niedrigen Bänke und hole meine pinken Turnschuhe aus der Sporttasche, die ich in meinem Spind verstaut hatte. Die graue Dreiviertel-Leggings und das weiße Tank-Top wären wohl genug gewesen, um mit den Schuhen zu kombinieren, doch ich konnte nicht wiederstehen, auch das hauchdünne rosa Schleierröckchen einzupacken, das ich vor einiger Zeit gekauft habe. Wann immer du eine Prinzessin sein kannst, sei eine Prinzessin. Hab ich recht?

Mit federleichten Schritten husche ich um die Ecke in den Turnsaal. Eine etwas ältere Professorin mit knallrot gefärbten Haaren und einem grünen Schal um den Hals geschlungen, der perfekt zu ihrem langen schwarzen Kleid passt, wartet bereits auf uns. Zusammen mit den anderen fünfzehn Schülern oder so setze ich mich auf den Fußboden und lausche ihrer Begrüßung, wobei sie vor uns auf und ab spaziert. Obwohl sie uns mit vollster Leidenschaft erzählt, was wir in diesem Semester lernen werden, ist sie sichtlich viel zu rund und völlig falsch gekleidet, um bei dieser Art von Tänzen selbst mitzumachen. Kein Turnanzug, Strumpfhosen oder sonst was. Und diese eleganten schwarzen Stöckelschuhe sind ganz bestimmt nicht für Hip-Hop geeignet.

Ich höre ihr die ganze Zeit zwar aufmerksam zu, aber meine Augen entwickeln da gerade so etwas wie einen eigenen Willen und driften immer wieder nach rechts. Dorthin, wo Jeremy Ward sitzt, um genau zu sein. Er wird von zwei Mädchen gesandwicht, die ich als Jennifer und Flo aus meinem Schriftstellerkurs kenne. Sie sind beide sehr niedlich, mit langen Haaren, die eine blond, die andere braun. Alle drei sehen genauso vertieft in den Vortrag der Professorin aus wie ich, aber immer wieder mal flüstert Flo etwas in Jeremys Ohr, und das nervt.

Als uns Miss Millburn verrät, dass wir uns für die meisten Tänze in Paare zusammenfinden und auch gemeinsam eine Prüfung am Jahresende ablegen müssen, lehnt sich Flo vorne um Jeremy herum, um total aufgeregt den Arm ihrer Freundin zu packen. In diesem Moment gleitet Jeremys Blick ganz kurz in meine Richtung. Und er lächelt.

Keine Ahnung, ob es deswegen ist, weil ich ihn gerade angestarrt habe und er das witzig findet, oder vielleicht, hoffentlich, weil er gerade darüber nachdenkt, für ein paar dieser Tänze ein Team mit mir zu bilden. Aber mir steigt trotzdem gerade eine leichte Hitze in die Wangen und ich kann mich kaum davon abhalten, zurück zu grinsen. Als er wieder wegschaut, mache ich das auch und sehe dann aus dem Augenwinkel, wie sich drüben an der Tür etwas bewegt. Ich drehe mich zu dem Schatten um, aber wer auch immer gerade noch dort gestanden hat, ist verschwunden. Oder war es doch nur Einbildung?

Am Ende ihres Monologs schickt uns Miss Millburn zum Aufwärmen. Bevor wir beginnen, teilt sie uns mit, dass wir ein paar einfache Schritte einer Choreo, die sie uns auf dem Flachbildschirm an der Wand gezeigt hat, nachtanzen sollen. Nichts allzu Schweres für den Anfang, meint sie und geht dann durch die Reihen, um uns ein paar Verbesserungsvorschläge zu geben. „Halte deinen Rücken gerader, wenn du dich runterbeugst, Liebes“, fordert sie mich auf, wobei sie ihre Hand in mein Kreuz legt und sanft nach unten drückt. Ich gebe mein Besser-als-vorher, womit sie sehr zufrieden ist. „Hübsche Schuhe“, fügt sie noch leise hinzu.

„Danke. Ich mag Ihre auch.“

Mit leisem Lachen geht sie weiter und korrigiert die Haltung des Jungen neben mir.

Schon nach der ersten Viertelstunde steht für mich fest, dass dies hier mein absolutes Lieblingsfach sein wird. Hauptsächlich, weil ich mich gerne bewege und laute Musik sowieso meine Leidenschaft ist. Dieser Kurs verknüpft beides. Und Jeremy? Ein fantastischer Bonus!

Leider sind die neunzig Minuten nach einem gefühlten Wimpernschlag um und wir werden alle raus zum Umziehen geschickt. Aber vorher verspricht uns Miss Millburn noch, dass wir bereits in der nächsten Stunde die Tanzteams bilden werden. Ah, das wird ja so toll!

Ich gehe duschen, erspare es mir jedoch, die Haare zu waschen, denn es würde ewig dauern, sie mit einem der mickrigen Föhns hier zu trocknen. Und mir alle drei auf einmal zu krallen, könnte unter Umständen etwas seltsam aussehen. Meine pinke Mähne zu einem chaotischen Haarknoten am Hinterkopf festgesteckt, winke ich den anderen Tänzerinnen zu und wünsche ihnen ein schönes Wochenende. Jeremy ist bereits gegangen, als ich aus dem Umkleideraum komme, denn ich kann ihn noch von hinten mit zwei anderen Jungs um die Ecke am Ende des Gangs biegen sehen.

Auf dem Heimweg kaufe ich mir eine Kugel Eiscreme in einer Waffel vom Italiener an der Ecke. Ich muss super-schnell schlecken, damit das Eis in der sengenden Sonne nicht auf meinen Bambi tropft.

Vor der Eingangstür des Wohnblocks stopfe ich mir die letzte Spitze der Waffel in den Mund und lecke mir die Finger sauber, ehe ich aufschließe.

„Kannst du bitte offen lassen?“, erschreckt mich eine Stimme von hinten.

Ich wirble herum und blicke in fünf bekannte Gesichter. „Hi“, begrüße ich das Kollektiv, während Rick, Jace, Killian und Liam Hemsworth an mir vorbei ins Gebäude gehen.

„Danke schön“, sagt dabei der Fünfte, dessen Name wohl Lawrence sein muss, weil er der rothaarige Ire ist. Er und Rick tragen beide Einkaufstüten gefüllt mit Chips und Brezeln, soweit ich das erkennen kann, und Killian hält ein Sixpack Bier. Der Hemsworth-Doppelgänger und Jace kommen nur mit einem Lächeln an.

Wie ein dämlicher Butler stehe ich hier und halte ihnen die Tür auf. Jace geht als Letzter rein und als er seinen entkleidenden Blick hemmungslos über meinen Körper zieht, von der Nasenspitze bis zu den Zehen, prickelt es gewaltig in meinem Nacken. Ich reibe das Gefühl schnell weg, nachdem alle drinnen sind.

Mit einer Hand vor dem Türsensor, wartet Rick, bis auch ich in den Lift geschlüpft bin, dann nimmt er seinen Arm zurück. Die Türen fahren zusammen und wir bewegen uns langsam aufwärts. Das Gebäude ist schon sehr alt und in all den Jahren wurde der Aufzug wohl nicht ein einziges Mal saniert. Es ist, als würden wir uns in Zeitlupe bewegen. Die Treppe zu nehmen, dauert bestimmt auch nicht länger, nur hängt einem auf diesem Weg am Ende nicht die Zunge raus.

Wir sechs stehen alle im Kreis in der Kabine mit Blick zueinander. Jace und ich lehnen dabei an gegenüberliegenden Wänden. Killian, Liam Hemsworth und Rick sind in eine komplizierte Unterhaltung über Performancekunst vertieft, in die ich mich nicht einmischen will, daher konzentriere ich mich auf das einzelne Wort Adrenalin auf Jaces Brust. Die weißen Buchstaben springen einen regelrecht aus dem dunkelblauen Hintergrund an. Der Saum des T-Shirts ist nach oben gerafft, wo er seine Finger in die Hosentasche gesteckt hat.

Sogar von hier aus lässt sich erkennen, dass seine blauen Jeans keinen Reißverschluss, sondern nur Knöpfe haben. Ist etwa einer davon offen? Mit schmalen Augen starre ich etwas genauer hin. Nein, sah nur so aus. Und dann fällt mir mit einem Schrecken ein, dass es doch sehr unhöflich ist, jemandem im Fahrstuhl auf den Schritt zu glotzen, und meine Augen schnellen nach oben.

Sein Blick, der an meinem Gesicht festgenagelt scheint, ist ziemlich intensiv. Dadurch werden meine warmen Wangen noch heißer. Ich versuche, überall hinzusehen, nur nicht mehr zu ihm, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, geht dadurch auch nicht weg. Ist da vielleicht noch Eis auf meinem Kinn? Mein Atem wird etwas schneller, denn das wäre schon ein bisschen peinlich. Super-unauffällig wische ich mir mit der Hand über den Mund, aber da fühlt sich nichts klebrig an.

Das ist mit Abstand die unangenehmste Liftfahrt meines Lebens – und dabei sind wir gerade erst losgefahren. Etwas Ablenkung wäre gut, aber was tut man in einem zweimal zwei Meter großen Metallkäfig? Vielleicht ist es an der Zeit, die Unterhaltung der Jungs zu unterbrechen? Als wir mit dreifacher Lichtgeschwindigkeit am zweiten Stock vorbeirasen, nicke ich lächelnd auf die vielen Snacks und das Bier, das sie mitgebracht haben. „Wollt ihr Jungs euch für den Winter eindecken?“

Der Ire schmunzelt. „Es ist Freitag. Und Freitag ist Zockernachmittag. Wir können nicht ohne genügend Proviant in die Schlacht ziehen.“

So wie er das sagt, spielen sie wahrscheinlich langweilige Videospiele bis Mitternacht. Immer noch mehr, als ich an meinem einsamen Wochenende vorhabe.

„Chloe hat heute Morgen gesagt, dass ihr beide neu in San Francisco seid“, mischt sich nun auch Rick in unser Gespräch. „Habt ihr Mädels was Cooles für eure freien Tage geplant? Ein bisschen Sightseeing?“

„Nein. Sie ist heim nach Grover Beach gefahren.“ Für eine Millisekunde schweift mein Blick zurück zu Jace. Er starrt mich immer noch so eindringlich an, dass ich davon fast magnetisch angezogen werde. Gott weiß warum, aber er macht mich dadurch nur noch nervöser. „Die Stadtbesichtigung müssen wir dann wohl nächstes Wochenende nachholen“, sage ich schnell und wende mich wieder zu Rick.

„Oh, das müsst ihr unbedingt. Es gibt hier soo viel zu sehen.“ Er grinst, aber es wirkt, als hätte es eine eigene Geschichte, weil es ein bisschen allzu freundlich ist. „Man sagt, der Japanische Teegarten soll bezaubernd sein.“

Wir passieren gerade den dritten Stock, da räuspert sich Jace. Ich bin mir fast sicher, dass es nicht wegen eines trockenen Halses ist, sondern, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Meine? Deren? Ich schiele noch einmal zu ihm und sein Blick hängt immer noch an mir fest. Da taucht plötzlich etwas in seinem Mundwinkel auf. Oder vielleicht war es auch schon die ganze Zeit da, nur ist es mir vorher nicht aufgefallen, weil ich so von seinen Augen gefesselt war. Es ist nicht wirklich ein Lächeln, eher so etwas wie ein kleines Geheimnis, das still an seinen Lippen hängt. Eines, das er nicht mit mir teilen will, das seine Freunde aber ganz gewiss kennen, weil nämlich gerade zwei davon unverblümt zu lachen anfangen.

„Was ist los, Jace? Willst du was sagen?“, fragt Killian mit einem selbstgefälligen Grinsen in seine Richtung.

Ja. Sag endlich mal was! Meine Zunge klebt gespannt an meinem Gaumen, während ich auf seine Antwort warte. Aber entweder frustriert er mich gerne, oder er hat sich irgendwann mal die Zunge abgebissen, denn es kommt kein Mucks aus seinem Mund. Und dann, unsere Blicke immer noch verflochten, schüttelt er langsam den Kopf.

Der Augenkontakt mit ihm verursacht mir eine Gänsehaut Level zehn. Das ist gleichermaßen gruselig wie auch fesselnd.

Ich ziehe meine Brauen tiefer. „Kannst du nicht reden?“ Die forschen Worte schlüpfen mir von der Zunge, bevor ich überhaupt nachdenken kann. Sofort explodiert im Lift ein Gelächter, das mich sehr an die Hyänen aus König der Löwen erinnert.

Wir landen im vierten Stockwerk und die Türen fahren auseinander. Die johlenden Jungs steigen zuerst aus, einer nach dem anderen, bis nur noch Jace und ich in der Kabine stehen. Als wären unsere Augen mit einem unsichtbaren Seil verknüpft, beobachten wir uns gegenseitig für einen stillen Moment. Plötzlich strahlt sein Gesicht mit einem wirklich niedlichen Lächeln. Er blinzelt einmal, dann folgt er seinen Freunden.

Ich verlasse als Letzte den Aufzug. Mir ist ganz schwindlig, aber bestimmt nicht, weil der Lift so unglaublich schnell nach oben geschossen ist.

Immer noch lachend umzingeln die Jungs Jace und warten, bis er die Tür aufgeschlossen hat. Er schmunzelt selbst ein wenig, behält aber den Schlüssel im Auge, anstatt sich zu seinen Freunden zu drehen, als er ganz überraschend meint: „Ihr seid so bescheuert.“

Ich weiß nicht, weshalb mir in diesem Moment wirklich die Kinnlade runterfällt. Weil der Klang seiner Stimme so fesselnd ist, auch wenn gerade leicht amüsierte Frustration darin schwingt, oder wegen der Tatsache, dass er doch nicht stumm ist.

„Nein, wir lieben dich.“ Killian klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter und lacht nun lauter denn zuvor, während er voraus in die Wohnung geht, dicht gefolgt von allen anderen.

Ich schlüpfe aus einem der Träger und muss fast in meinen Rucksack hineinkriechen, um meinen eigenen Schlüssel zu finden. Langsam kommt es mir so vor, als würde sich das blöde Ding absichtlich vor mir verstecken. Die Tür zu 409 fällt ins Schloss, doch zehn Sekunden später geht sie noch einmal auf und Liam Hemsworth ruft nach mir. „Hey, Brin?“

„Hm?“ Ich hebe den Kopf und drehe mich um, den Schlüssel endlich siegreich in meiner Hand.

Er und Jace sind beide noch mal in den Gang rausgekommen und während Liam anfängt, mit mir zu plaudern, beschließt Jace mal wieder, mich lieber still zu beobachten und lehnt sich dabei an den Türrahmen, die Hände in die Taschen geschoben. Das kleine Geheimnis versteckt sich dabei immer noch in seinem Mundwinkel.

„Rick und ich schmeißen morgen eine Party. Hast du Lust zu kommen?“

„Ähmmm…“ Wie sagt man einem Kerl, der aussieht wie ein weltbekannter Filmstar, dass man eigentlich vorhat, sich am Samstagabend mit Eiscreme vollzustopfen und einen Disney-Marathon zu machen? Genau, am besten gar nicht. Aber meine einzige Freundin in San Francisco hat heute die Stadt verlassen und ich war noch nie der Typ, der ganz alleine auf Partys auftaucht. „Danke, aber ich glaube eher nicht.“

Bei dem abrupten Wechsel von Neugier zu einem enttäuschten Stirnrunzeln in Jaces Gesicht, fühle ich mich dann doch genötigt, die Sache genauer zu erklären. „Ich kenne ja niemanden auf eurer Party. Und ganz allein komme ich mir ein wenig komisch vor.“

„Ah, mach dir darüber mal keine Sorgen. Du wirst sicher nicht allein sein.“ Liam kommt auf mich zu und zieht dabei etwas aus dem Rucksack, den er immer noch über einer Schulter trägt. Einen kleinen Notizblock und einen Stift. Neben mir bleibt er stehen und hält den Block an die Wand, während er etwas aufschreibt und mir dabei erklärt: „Es kommen jede Menge Leute aus der Akademie. Auch Erstklässler. Bestimmt kennst du einige aus deinen Kursen.“ Er schiebt den Stift in seine Tasche und reißt dann den obersten Zettel vom Block, um ihn mir zu geben. „Hier hast du meine Adresse. Es ist nur zwei Blocks von hier. Wenn du nicht hinfindest, ruf mich an und ich hole dich persönlich ab.“ Sein Lächeln ist wirklich einladend. „Meine Nummer steht auch drauf.“

Ich werfe kurz einen Blick auf den Zettel und lese mir die Wegbeschreibung durch. Seine Telefonnummer hat er tatsächlich dazugeschrieben. Darüber steht der Name Vinnie. „Okay, danke. Ich werd’s mir überlegen.“

Vinnie nickt und meint: „Wir sehen uns“, ehe er zurück in das Apartment geht.

Jace steht noch einen Moment länger auf der Schwelle. Kurz hebt er die Augenbrauen, was seine warmen braunen Augen spitzbübisch zum Funkeln bringt. Dann lässt auch er mich alleine im Gang zurück und nimmt sein kleines Geheimnis mit sich.

Nicht wundern, sage ich zu mir selbst, als auch ich endlich meine Tür aufschließe. Ich muss ja nicht alles verstehen.

*

Es ist neunzehn Uhr und ich starre wie gebannt auf das Startmenü von Cinderella auf dem Fernsehschirm. Die kurze, süße Melodie läuft seit über einer Viertelstunde in der Dauerschleife, aber ich kann mich immer noch nicht dazu aufrappeln, quer über das Sofa zu greifen und die Fernbedienung vom Couchtisch zu holen, um die DVD auszuschalten. Ich bin deprimiert. Ja, das muss es sein. Ich habe gehört, Leute verlieren all ihre Antriebskraft, wenn sie erst einmal dem Sog der Depression erlegen sind. Und ich habe jedes Recht darauf, an Depressionen zu leiden, denn es ist Samstagabend und ich bin einsam.

Als sechs Minuten später die Melodie immer noch läuft, sammle ich alle Kraft in mir und strecke mich nach der Fernbedienung. Doch auf halbem Weg kommt mein Enthusiasmus zum Erliegen, daher erwische ich nur mein Handy. Was soll’s? Vielleicht ist es sowieso das Beste, wenn ich Chloe kurz mal anrufe. Bibbidi-babbidi-bu kann dabei ja im Hintergrund weiter laufen.

Ich drücke auf ihren Namen. Sie lässt mich nicht lange warten, bis sie abnimmt, und ihr fröhliches „Hey, Großstädterin“ hebt meine Laune sofort.

„Hey, Süße! Wie ist Grover Beach zu dieser Jahreszeit?“

„Genauso wie letztes Jahr und alle siebzehn Jahre davor.“ Sie macht eine kurze Atempause. „Irre ich mich, oder war da gerade eine leichte Note von Heimweh in deiner Stimme zu hören?“

„Mir ist langweilig. Außerdem bin ich traurig und inzwischen bestimmt auch depressiv …“, gestehe ich.

„Ohmeingott! Was für ein Schock!“ Ihr quietschendes Lachen dringt durch die Leitung. „Ist das überhaupt möglich? Brinna, die kleine Fee der Fröhlichkeit?“

„Ja, ja. Mach dich ruhig über mich lustig.“ Mir entweicht ein kleines Seufzen. „Aber daran bist nur du schuld, damit du es weißt.“

„Ich? Was zum Geier hab ich denn angestellt?“

„Ich habe mich daran gewöhnt, mit dir zusammenzuleben, das ist das Problem. Und jetzt kann ich nicht mehr alleine sein.“ Mein Kopf kippt nach hinten auf die Couchlehne und ich weine an die Decke: „Ich muss sterben.“

Chloe lacht erst mal herzhaft, ehe sie mich schimpft: „Bitte, stopp den Dramamodus. Du wirst nicht sterben. Jetzt raff dich endlich von der Couch auf“ – woher um alles in der Welt weiß sie, wo ich bin? – „schalte Cinderella ab“ – häh? – „und tu irgendwas.“

„Ich tu ja was. DVD schauen zählt. Und wieso weißt du –“

„Herzchen, ich kann diesen bescheuerten Song aus dem Fernseher hören. Und in unserem Apartment zu vergammeln zählt nicht als etwas tun. Ich wette, du steckst sogar schon in deinem pinken Lilo & Stitch Pyjama um – warte, lass mich nachsehen – sieben Uhr abends.“

„Ganz sicher nicht!“ Ich sehe runter auf meine Disney-Pyjamahose und zucke zusammen. „Agh.“

„Siehst du?“ Chloe klingt wie die böse Königin, wenn sie lacht. Oder vielleicht klingt sie auch wie Schneewittchen, aber das ist mir egal. Wie kann mich diese Frau nur so gut kennen? „Steh auf, geh duschen und dann klopf bei diesem Nachbartypen an und sag ihm, er soll dich zum Dinner ausführen.“

„Hast du sie noch alle? Der ist merkwürdig. Er spricht nicht … zumindest nicht mit mir.“ Mit einem plötzlichen Anflug von Energie, stehe ich endlich von der Couch auf und gehe zum Fenster, um auf die Straße runter zu schauen. „Und es ist mir unheimlich, wenn er mich dauernd so komisch anstarrt.“

„Für mich klingt das sehr nach einem schüchternen Jungen, der dich vielleicht einfach interessant findet.“

„Nur, weil du ihn noch nicht getroffen hast.“

„Muss ich auch nicht. Mir geht’s ja gut hier in Grover Beach, wo ich gleich mit meiner Cousine ausgehen werde“, reibt sie tatsächlich Salz in meine klaffenden Wunden. „Du bist der Langweiler, der Gesellschaft braucht. Also geh rüber, sei nett und rede mit ihm.“

„Nein.“

„Briiiiinnnaaaa …“

„Was? Ich könnte nicht mal, selbst wenn ich wollte. Er ist nämlich heute Nacht nicht zu Hause.“

„Hat er dir das gesagt, oder hast du den ganzen Nachmittag hinter dem Türspion gestanden und beobachtet, wann unsere Nachbarn ein und aus gehen?“

Ich verdrehe die Augen. „Weder noch. Gestern nach der Schule hat mich einer seiner Freunde zu dieser Party eingeladen. Eine Party, zu der sicher auch Jace hingehen wird.“

„Und du hast Nein gesagt.“ Ihr Ton ist flach, ihre Worte eine Feststellung, keine Frage.

„Ja. Irgendwie.“ Ich ziehe eine Grimasse. „Ich habe gesagt, ich werde darüber nachdenken.“

„Warum zum Teufel denkst du dann nicht darüber nach?“

„Hab ich ja eh schon.“ Ungefähr drei Minuten lang, als ich heute Nachmittag mal auf dem Klo war. „Aber ich kenne dort niemanden und du bist auch nicht hier, um mitzukommen. Ich wäre nur das seltsame Mädchen, dass niemanden zum Reden hat.“ Ich gehe in die Küche und hole mir einen Orangensaft aus dem Kühlschrank. „Und wir sind hier auch nicht mehr in Grover Beach. Das ist San Francisco. Diese Stadt ist irre. Und die Menschen darin auch. Nimm nur mal unseren eigenartigen Nachbarn. Du findest hier gruselige Leute an jeder Straßenecke. Was ist also, wenn ich zwar in das Haus hinein komme, aber nie wieder heraus?“

Mit dem Telefon zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, schraube ich die Plastikflasche auf und nehme einen Schluck, während ich mir weiter Chloes Vortrag anhöre.

„Eine Party ist doch keine Drachenhöhle. Niemand wird dich da drinnen fressen oder bei lebendigem Leib verbrennen. Geh hin, schau kurz rein, such ein paar Freunde von der Uni und wenn du keine findest, dann kannst du wieder heimgehen.“ Sie grummelt, weil sie bestimmt gleich die Geduld mit mir verliert. „Alles ist besser als dieser Bibbidi-babbidi-Scheiß.“

Nachdem ich die Flasche wieder in den Kühlschrank gestellt habe, knalle ich die Tür zu. „Denkst du wirklich, niemand wird mich für seltsam halten, wenn ich die Party schon nach fünf Minuten wieder verlasse?“

„Hummelstrümpfe und rosa Pferdeschwänze mit neunzehn. Wann hast du dich denn bitte jemals darum geschert, was andere über dich denken?“

„Dir gefallen meine Pferdeschwänze nicht?“ Ich versuche gekränkt zu klingen und lenke das Gespräch damit hoffentlich in eine andere Richtung, weg von einer Party, auf der ich mich mit Sicherheit nur sehr einsam fühlen würde.

Aber Chloe springt nicht auf den Zug auf. „Tu mir bitte einen Gefallen und geh hin“, jammert sie.

„Aber –“

„Geh einfach! „

„Und was ist, wenn –“

„Geh zu dieser verdammten Party, Brinna!“

„Okay. OKAY! Ich geh ja!“ Mit einem missmutigen Grollen lasse ich mich wieder auf die Couch fallen. „Denkst du, ich sollte vielleicht vorher lieber noch nach einem Begleitservice in San Francisco googeln?“

„Agh“, kommt ihr frustriertes Murren durch die Leitung, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag.

Ich verziehe schmerzvoll das Gesicht. „Hast du gerade mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen?“

Drei Sekunden lang kann ich nur ihre langsamen, tiefen Atemzüge hören. Dann warnt sie mich in bitterernstem Tonfall: „Ich rufe dich in einer Stunde noch mal an. Und wenn du dann immer noch zu Hause hockst, gebe ich der Polizei einen Tipp, dass du in unserer Wohnung Meth braust. Mit dem SWAT-Team, das daraufhin in unser Apartment stürmt, wird dir bestimmt nicht mehr langweilig sein.“

„Gute Nacht, Chloe. Ich werde das Gespräch jetzt beenden, weil du ganz offensichtlich den Verstand verloren hast. Genieße den Abend mit deiner Cousine.“

„Und dir viel Spaß auf der Party.“

Ich schicke ihr einen Kuss durch die Leitung, lege auf und lasse mein Handy neben mein Bein auf die Couch fallen. Mit verschränkten Armen starre ich ein Loch in den Fernseher, aus dem immer noch fröhlich bibbidi-babbidi erklingt, und kräusle die Lippen. Geh zu der Party, hat sie gesagt. Geh zu der Party!

Na gut. Dann geh ich halt zu der dämlichen Party. Aber wenn mich dort ein Drache entführt und in einen einsamen Turm sperrt, ist es ganz allein ihre Schuld.

Kapitel 5

Brinna

Die Absätze meiner Stiefel stöckeln auf dem Asphalt, während ich von einem Lichtkreis in den nächsten springe und dabei extra Acht gebe, um keine anderen Fußgänger umzurennen. Ohne auch nur einmal in den Schatten zu steigen, zähle ich die Straßenlaternen auf dem Weg zur Party. Als Kind war das immer eines meiner liebsten Spiele und weil ich es hasse, nachts im Dunkeln ganz allein durch die Stadt zu laufen, ist es gerade die perfekte Ablenkung. Es waren siebzehneinhalb. Die letzte Laterne kann man nicht als ganze zählen, weil sie nämlich schon nach Vinnies Haus steht und ich ein paar Meter zurücklaufen musste.

Es ist ein kleines Backsteinhaus, von außen ganz niedlich, mit Erdgeschoss und erstem Stockwerk, wie es scheint. Durch den dumpfen Bass von drinnen tönt eine Melodie aus acht Noten, als ich mit meinem pink-lackierten Finger auf die Klingel drücke. Dann kämme ich noch rasch mit beiden Händen durch meine zwei Pferdeschwänze und streife sie mir hinter die Schultern. Wie Tigger hierher zu hüpfen, hat sie ganz durcheinander gewirbelt.

Die Tür geht auf und die poppige Musik wird gleich mal um ein paar hundert Dezibel lauter. Schnell hole ich noch einmal tief Luft, um Vinnie mit einem Ich-wette-damit-hast-du-nicht-gerechnet Grinsen zu begrüßen. Aber es ist Rick, der mir aufmacht. Das orange Shirt und die schwarze Skaterhose stehen dem Blondschopf richtig gut.

„Ah, schön, dass du da bist. Los, komm rein!“ Er greift nach meiner Hand und sein strahlendes Lächeln macht es mir leicht, mich herzlich willkommen zu fühlen.

Er zieht mich über die Türschwelle direkt ins Wohnzimmer, das mich heute Abend sehr an Chloes Partykeller erinnert. Rechts befindet sich eine geschwungene Bar, an der schon eine ganze Meute Schlange steht. Einige Leute tanzen auch vor der Couch in der Mitte des Zimmers zur Musik. Es wuselt hier drinnen zu sehr, um alle Gäste zu zählen, aber es müssen bestimmt über vierzig sein und es kommen immer wieder welche aus dem Raum hinter dem Wohnzimmer.

Ich klappe schnell meinen Mund zu, um mein Staunen zu verstecken, und Rick hilft mir indessen aus meiner Jacke. Während er sie auf den Kleiderständer hängt, peppe ich noch einmal rasch meine Stirnfransen mit den Fingern auf und streife die Vorderseite meines engen, weißen Disney-T-Shirts glatt. Sobald er zurückkommt, bleibt sein Blick an der Minnie Maus hängen, die sich darauf befindet, und er hebt beide Augenbrauen an. „Nett.“

„Danke.“ Lächelnd stecke ich die Hände in die Taschen meiner blauen Stretchjeans und fange an, total verloren auf den Fußballen auf und ab zu wippen.

„Willst du eine Führung?“, bietet er an.

„Klar. Wenn es dir nichts ausmacht.“ Ich bin eine vollkommen Fremde und er will mir das ganze Haus zeigen? Das ist … mutig. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich einem Fremden eine Tour durch mein Schloss geben würde.“

Rick lacht nur. Dann nimmt er meine Hand und zieht mich hinter sich her, wobei er über seine Schulter mit mir redet. „Na ja, manchmal ist es ganz praktisch, wenn deine Gäste wissen, wo sich die Klos befinden.“

Jetzt habe ich diese fürchterliche Vorstellung von kotzenden Leuten und dementsprechenden Pfützen in meinem Kopf. Weil es etwas von meiner Aufregung stiehlt, antworte ich nur flach: „Reizend.“

Die Führung dauert etwa fünfundzwanzig Minuten, aber auch nur, weil Rick alle paar Meter stehen bleibt und mich irgendwelchen Leuten vorstellt. Vinnie hat ihm wohl von meiner Befürchtung, ganz allein hier rumzuhängen, erzählt. Einige dieser Kids scheinen echt nett und wir unterhalten uns kurz über die Akademie. Und dann stößt auch noch Flo aus meinem Schriftsteller- und Tanzkurs zu uns. Die lange, dunkle Mähne, die sie in der Schule üblicherweise hochgebunden hat, fließt nun glänzend über den Rücken ihres atemberaubenden schwarzen Minikleids, und ihre Wangen haben einen niedlichen rosigen Teint.

Ihre Augen weiten sich vor offenbarer Freude, als sie mich erkennt. Doch alles, woran ich denken kann, während sie mir von diesen epischen Studentenpartys und einem Spiel vorschwärmt, das ich später unbedingt mit ihr und ihren Freunden spielen soll, ist, ob sie wohl mit Jeremy Ward gekommen ist.

„Klar. Hört sich spannend an“, antworte ich Flo, suche dabei jedoch unauffällig den Raum nach jemandem mit chaotischen braunen Haaren ab. „Ich bin dabei.“

„Großartig! Je mehr, desto spaßiger!“ Händeklatschend schwebt sie davon. Schamlos elegant. Auf zehn Zentimeter hohen Bleistiftabsätzen. Sie muss ein Model sein.

„Siehst du? Und schon hast du eine Freundin gefunden“, höre ich Vinnies Stimme hinter mir und drehe mich um.

„Ja, sieht wohl ganz so aus“, begrüße ich ihn mit einem Lächeln. Aber ob Flo tatsächlich eine Freundin oder eher eine Rivalin ist, bleibt vorerst offen. „Danke für die Einladung. Ihr habt wirklich ein wunderschönes Haus.“

„Freut mich, dass du es dir doch noch überlegt hast.“ Er zwinkert mir erst zu, greift dann nach meiner Hand und zieht mich mit sich, so wie Rick vorhin. Diese Jungs sind echt ungeniert. „Komm! Es wird Zeit, dass wir dir etwas zu trinken besorgen.“

Ich lasse mich durchs Wohnzimmer führen und spüre Rick dabei dicht hinter mir. Vinnie setzt sich an die Bar. Er bietet mir den Hocker rechts neben sich an, auf den ich dann unbeholfen raufklettern muss, weil meine Beine viel weniger lang sind als seine. Rick steht auf seiner anderen Seite, einen Arm lässig auf die Theke gelegt, und beobachtet meine Kletterkünste. Vorsichtig stelle ich meine Füße auf der Metallstange ab, die weiter unten an der Bar befestigt ist, und falte die Hände in meinem Schoß. So, das wäre geschafft.

Alles in diesem Haus ist höchst exquisit. Sie haben hier sogar einen Barkeeper. Weil die Jungs mich mit Fragen darüber bombardieren, wo ich herkomme und wie es mir in San Francisco gefällt, bemerke ich ihn jedoch nur aus dem Augenwinkel. Er trägt eines dieser smarten Outfits – eine graue ärmellose Weste über einem weißen Hemd – das ich schon an Tony Stark extrem heiß fand, wenn er gerade mal nicht in seinem Iron-Man-Anzug steckte.

„Du bist also ein Minnie-Maus-Fan?“, quetscht Killian die Frage ein, als er und Lawrence sich auf der anderen Seite der Bar zu uns gesellen. „Das ist niedlich.“

„Ja, das haben sich heute schon einige Jungs hier gedacht.“ Bei der Erinnerung daran, wie sie mir alle Komplimente über mein Shirt gemacht haben, senke ich das Kinn und versuche, selbst einen Blick auf das Bild zu werfen. Das Top spannt ziemlich über meiner Brust. „Entweder das“, stelle ich fest, „oder sie fanden einfach nur meinen Busen so hübsch.“

Vinnie und Lawrence schmunzeln, doch Rick reibt sich den Nacken. Killians Wangen färben sich gerade intensivrot.

Unnnnd, da hab ich meine Antwort. „Oh. Okay …“ Schüchtern senke ich meine Schultern ein wenig, damit ich nicht mehr mit so extrem durchgestreckten Rücken vor ihnen sitze. Glücklicherweise rettet mich der Barkeeper vor weiteren Peinlichkeiten, als er mit den Bestellungen am anderen Ende fertig ist und zu uns rüber kommt.

Die Jungs bestellen ein Bier, außer Lawrence, der will einen Tequila Sunrise. Ich drehe mich ebenfalls zu dem Kerl hinter der Bar und dann brät mein Kinn Minnie Maus eins über die Rübe. „Whoa! Jace … Hi! Du …“

Heiliger Shrek der Dritte, was in aller Welt hat mich denn gerade so aus der Bahn geworfen? Oh halt, ich weiß es. Ich nagle Rick und Vinnie mit einem fragenden Blick fest. „Ihr lasst eure Freunde auf euren Partys arbeiten?“

„Nur ihn.“ Über Ricks Gesicht zieht ein schlitzohriges Grinsen. „Das mussten wir. Zu deiner Sicherheit.“

„Für meine Sicherheit?“ Das klingt nicht nur total lächerlich, es ist auch bestimmt wieder einer dieser Insider-Witze, für die ich einfach zu wenig VIP bin.

„Jap. Weißt du, wenn ein Mann wie Jace an einem Ort wie diesem frei herumlaufen darf …“ Er zuckt mit den Schultern und neigt den Kopf ein wenig mit einem weiteren breiten Kichern. „Tja, dann wärst du hier wirklich in großer Gefahr.“

Sofort bekommt er dafür von Jace das Geschirrtuch scharf über den Oberarm gezogen. Das schnalzt ganz schön. Ich springe vor Schreck fast von meinem Hocker, doch Rick lacht nur und Jace setzt wieder dieses geheime Lächeln von gestern auf.

Zwei Minuten später stellt er drei Flaschen Budweiser und einen rot-orangen Cocktail auf die Theke. Lawrence schnappt sich den hübschen Drink und wirft dann noch zwei Extraeiswürfel aus dem kleinen Eimer hinter der Bar hinein. Hier drinnen ist es etwas warm, also greife ich mir auch einen Würfel und schiebe ihn in den Mund. Das Knirschen, als das Eis zwischen meinen Backenzähnen splittert, hallt durch meinen ganzen Schädel.

Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die das malmende Geräusch hören konnte, denn alle fünf Jungs starren mich daraufhin an, als wäre ich ein seltenes Objekt, das man katalogisieren muss. Mit weiten Augen platzt Vinnie heraus: „Hast du gerade den Eiswürfel geschrotet?“

Ähmm…

„Nööö?“, quieke ich durch einen sehr schmalen Spalt in meinen Lippen und halte dabei die kleinen Eissplitter auf meiner Zunge ganz still. Aber die sind kalt. Ich verziehe das Gesicht und kaue ganz vorsichtig weiter, wobei ich versuche, so gut wie kein Geräusch zu machen. Klappt super. Es klingt, als würde ich Gebeine zermahlen.

„Die Kleine hat wohl ein paar gesunde Beißerchen“, scherzt Rick und prostet mir mit seinem Bier zu. „Nur nicht so schüchtern, Cupcake. Genieße deinen Eiswürfel.“

Ich esse diesen zwar fertig, hole mir aber dann lieber keinen zweiten mehr.

Bei der leichten Berührung an meinem Arm, die nichts weiter ist, als Fingerknöchel, die sanft über meine Haut streichen, drehe ich mich zu Jace. Die Hände auf die Ablage gestützt, sieht er mich an und ich warte … und warte … mindestens ein paar Sekunden lang. Aber er bleibt stumm.

„Jaaa?“, dränge ich irgendwann.

Seine dunklen Augenbrauen, die diesen hübschen, natürlichen Knick haben, wandern nach oben.

Meine ebenfalls, was uns aber in dieser Unterhaltung leider nicht viel weiterbringt. Ist ihm wohl auch schon aufgefallen, denn als Nächstes neigt er den Kopf und beißt sich auf die Unterlippe.

Ich kaue auch auf meiner, nur das Kopfneigen lasse ich weg. Stattdessen fixiere ich ihn mit ganz schmalen Augen und raune: „Verdammt, Jace! Ich spreche kein Taubstumm. Kannst du bitte einfach sagen, was du von mir willst?“

Als ob das das geheime Zeichen wäre, um die Hyänen wieder loszulassen, brechen die Jungs neben mir vor Lachen zusammen. Sie kugeln regelrecht am Boden, nur Vinnie nimmt meine Hand und fleht mit Tränen in den Augen: „Bitte, Brinna, du musst meine Freundin sein.“

Ah ja … Das ist zwar sehr schmeichelhaft von ihm, doch ich denke, sein Angebot war genauso wenig ernst gemeint, wie ich es annehmen würde. Daher kontere ich: „Das würdest du bestimmt nicht sagen, wenn du wüsstest, dass ich noch Jungfrau bin.“

Sofort erstirbt das Lachen um mich, fünf Augenpaare starren mich geschockt an und Jace, der hinter der Bar gerade einen Schluck von seinem Bier genommen hat, spuckt den Inhalt direkt in Lawrences Gesicht. Na lecker.

Ich weiß nicht, wer gerade fassungsloser ist. Die Jungs wegen dem, was ich gesagt habe, oder ich wegen ihrer übertriebenen Reaktion auf einen Scherz.

„Ah, Mann!“, bockt Lawrence, aber ich glaube, es ist, weil ihn Jace angespuckt hat und nicht wegen meines Sex-Status. Mit dem Ärmel seines Sweatshirts wischt er sich übers Gesicht und verschwindet dann um die Ecke in Richtung Badezimmer.

„Das war ein Witz“, erkläre ich mit Extrabetonung auf jedem einzelnen Wort und blicke mit weiten, aufrichtigen Augen von einem zum andern. „Und du, Mister“ – ich richte einen Finger auf Jace und muss dabei schon fast lachen – „sollst andere Leute nicht anspucken. So was tut man nicht.“

Er kämpft immer noch um die Kontrolle über seinen schockierten Gesichtsausdruck, während er sich das Bier von den Lippen wischt, nur um mich als Nächstes verwundert anzusehen. Das kleine Lächeln ist so gut wie verschwunden und auf seiner Stirn ziehen Falten auf. Oh Mann, glaubt er mir jetzt etwa nicht, dass ich schon mal was mit einem Jungen hatte? Nach fünf endlosen Sekunden des intensivsten Blickduells meines Lebens – in dem ich angestrengt versuche, ihn endlich zu durchschauen, und er ganz bestimmt auch mich – seufzt er nur abschließend und wendet sich dann der farbenprächtigen Auswahl an Spirituosen hinter ihm zu. Gedankenverloren knetet er seine Unterlippe mit Daumen und Zeigefinger und betrachtet dabei die Flaschen.

Meinen scharfen Blick immer noch gezielt auf ihn gerichtet, lehne ich mich weiter nach links und flüstere Vinnie zu: „Was hat er für ein Problem?“

„Das solltest du ihn selbst fragen“, kommt seine belustigte und nicht allzu feinsinnige Antwort. „Ich weiß, er brennt darauf, es dir zu erzählen.“

Sehr witzig. Jace muss man bestimmt auf eine Folterbank binden, damit er endlich mal etwas sagt.

„Aber im Moment“, fügt Vinnie hinzu, „ist sein dringendstes Problem wohl, dass er deinen Geschmack nicht kennt.“

„Meinen Geschmack?“ Ich runzle die Stirn, aber dann geht das Handy in meiner Tasche mit „Let It Go“ ab und reißt mich aus meinem Gedankengang. Auf dem Display steht Chloe. „Tut mir leid, aber ich muss da unbedingt rangehen“, entschuldige ich mich bei den Jungs und wische mit dem Daumen über den Bildschirm. „Hi, Süße. Du kannst das SWAT-Team wieder abbestellen. Ich bin auf der Party.“

„Guuuut.“ Ihr erleichtertes Seufzen kriecht in mein Ohr. „Und ich glaube dir nur, weil das Nickelback und kein Disney-Song im Hintergrund ist. Also, wie findest du’s? Ist alles okay?“

Einen Ellbogen auf die Bar gelegt, beobachte ich Jace abwesend, wie er ein paar Flaschen aus dem Regal nimmt und hinten auf der Theke abstellt. „Ja. Alles gut hier. Hab noch keine Drachenhaufen im Haus entdeckt.“

Chloe lacht, doch Jace hebt eine interessierte Augenbraue, ohne dabei den Kopf zu mir zu drehen. Hah! Diesmal kann er lange auf eine Erklärung warten. Von mir bekommt er nur ein verschwiegenes Grinsen. Dieses Spiel kann man nämlich auch zu zweit spielen, Mister. „Tatsächlich befinde ich mich hier in sehr netter Gesellschaft.“

„Siehst du? Ich hab’s dir ja gesagt. Jetzt genieße den Abend und erzähl mir morgen alles.“

„Okay. Mach’s gut.“ Ich schicke ihr einen Kuss nach Grover Beach und lege auf. Hinterher drehe ich mich zu den mehr als neugierig dreinschauenden Männern neben mir. „Tut mir leid, Jungs. Das war wichtig.“

„Weil ein SWAT-Team auf dem Weg zu uns ist?“, fragt Rick mit nur einem minimalen Hauch von Scherz in der Stimme.

Ich muss kichern. „Nicht zu euch, sondern zu mir.“ Ihren Gesichtern nach zu urteilen, kann ich sie wohl kaum noch mehr schockieren. Sogar Jace lässt einen Eiswürfel fallen, als er ein paar davon in einen Mörser füllt. Er bückt sich darum und wirft ihn in die Spüle, doch sein neugieriger Blick haftet die ganze Zeit auf mir, als er anfängt, den Rest zu zerstoßen. „Fragt lieber nicht“, warne ich sie alle. „Das wollt ihr gar nicht wissen.“

Ich stecke das Handy zurück in meine Hosentasche und wechsle das Thema. „Also, wo waren wir stehen geblieben?“

„Bei deinem Geschmack“, stellt Killian fest. „Was möchtest du denn gerne trinken? Eine Margarita? Oder vielleicht lieber einen Long Island Ice Tea? Jace ist voll der Profi. Er kann dir alles machen.“

Ich werfe noch einmal einen Blick hinter die Bar, wo Jace inzwischen aufgehört hat, das Eis zu Püree zu zerstoßen. Wofür braucht er das denn? Er füllt den Eissplitterbrei in einen Becher aus rostfreiem Stahl und schüttet ein bisschen Himbeersirup drüber. Dazu kommen noch ein Spritzer Granatapfelsaft und eine ausgepresste Zitrone. Sein lässiger Umgang mit dem ganzen Zeug ist höchst beeindruckend. Jeder Handgriff sitzt und sieht so einfach aus, als hätte er die letzten zehn Jahre nichts anderes gemacht. Als Nächstes greift er nach einer Flasche Kokosnussrum und schraubt den Deckel ab. Abwesend murmle ich dabei auf Killians Frage: „Nein, danke. Ich trinke keinen Alkohol.“

Irgendwas hat Jace gerade aus der Fassung gebracht, denn seine Hand zuckt in diesem Moment zurück und anstatt den Rum in den Becher zu füllen, schüttet er einen Spritzer davon quer über die Bar.

„Niemals?“, erkundigt sich Killian.

Kurz sehe ich zu ihm. „Meine Freundin muss dieses Jahr abstinent bleiben und ich habe auf die Bibel-App geschworen, dass ich auch nichts trinke. Girls united, ihr wisst schon.“

„Das ist wirklich nett von dir.“

Ja, ich bin einfach zu gut für diese Welt.

„Was möchtest du denn sonst trinken?“, fragt mich Vinnie. „Eine Cola oder Sprite vielleicht? Ich glaube, wir haben beides im Kühlschrank.“

„Mineralwasser würde schon reichen“, antworte ich und schaue Jace aus dem Augenwinkel zu, wie er mit einem Geschirrtuch die Theke abwischt und anschließend eine weitere Flasche von hinten holt, die er noch zu dem Cocktail hinzufügt. Kokos-Sahne. „Oder einfach nur Leitungswasser geht auch, danke.“

In dem Moment, als Jace einen zweiten Becher über den ersten stülpt und beginnt, mit intensivem Blick auf mich den Drink ordentlich zu schütteln, kann ich nicht mehr wegsehen, auch wenn ich es gerne möchte. Nur für eine Sekunde bricht er den Augenkontakt, weil er den Inhalt in ein langstieliges Martiniglas gießt. Zusammen mit einem Strohhalm quer über das Glas gelegt, schiebt er den bildhübschen zuckerwatte-rosa Smoothie auf einer kleinen weißen Serviette zu mir rüber. Dann füllt er noch ein Glas mit Wasser aus dem Hahn und stellt es daneben.

Die Cocktail-Kreation verschlägt mir die Sprache. Der Mann hört nicht nur zu, er beobachtet. Den Smoothie hat er mir wohl gebastelt, weil ich gecrushtes Eis mag? Er hat auch meine Lieblingsfarbe eingebaut. Unnnd er hat den Rum sonst wohin geschüttet, nur nicht in meinen Drink. Ich schaffe es kaum, ein hörbares „Danke“ zu quietschen, aber es war wohl laut genug, denn seine Mundwinkel heben sich als Antwort.

Schweigend blicken die anderen Jungs zwischen uns hin und her wie bei einem Ping-Pong-Match. Sie sind wohl auch gerade ein wenig beeindruckt. Obwohl ich das leise Gefühl habe, dass es vielleicht aus einem ganz anderen Grund ist.

In diesem stillen Moment nehme ich den Strohhalm, stecke ihn in den Smoothie und sauge einmal kräftig. Süß, sauer, kalt und pink. Er ist perfekt!

Viel mehr bekomme ich aber gerade nicht zu trinken, denn Flo taucht plötzlich in meinem Augenwinkel auf und packt mich am Arm. „Komm mit! Wir fangen gleich mit dem Spiel an!“, ruft sie begeistert in mein Ohr und zieht mich vom Hocker. Schnell greife ich noch zurück nach meinem Drink, weil ich so etwas Leckeres ganz bestimmt nicht einfach hier stehen lasse. Das Wasser kann Jace allerdings behalten.

Flo zerrt inzwischen auch an Vinnies dunkelbraunem T-Shirt. „Wir spielen College Party. Los jetzt, du und Cedric, ihr müsst auch mitmachen.“

„Nah-ah!“ Rick hebt die Hände. „Liana würde mich umbringen. Ich bin raus.“

Sie zieht einen Schmollmund. „Warum musst du immer die Freundinnen-Karte ausspielen?“

„Weil es die einzige Karte ist, die ich habe“, lacht er.

„Na schön.“ Sie verdreht die Augen. „Aber dann muss Killian mit.“ Sie schnappt ihn am Arm, so wie mich vorher, und zieht beide Jungs mit uns in die Mitte des Wohnzimmers, wo schon einige andere auf dem Sofa oder am Boden um den Couchtisch herum Platz genommen haben. Darauf liegt ein Brettspiel mit bunten Spielfiguren ausgebreitet. Der Schriftzug College Party steht in fetten Buchstaben quer darüber.

Ich knie mich an das Kopfende des Tischchens, wo ich auch meinen Drink abstelle, und Vinnie besetzt den freien Platz auf der Couch links neben mir. Killian quetscht sich mir gegenüber zwischen zwei dunkelhaarige Zwillingsmädchen, die ihn nur allzu gern in ihrer Mitte aufnehmen.

Eine vertraute Stimme raunt mir ins Ohr: „Hallo, hübsches Mädchen. Ist der Platz hier schon besetzt?“

Und mein Herz macht ratta-ta-ta-taa.

Ein klein wenig schneller atmend hebe ich den Kopf und blinzle in Jeremys Aquamarinaugen. Er ist hier! Oh mein Gott, wie lange denn schon? Konnten mich der stumme Barkeeper und seine Boyband wirklich so sehr ablenken, dass ich ihn total übersehen habe? Und, heilige Maleficent, er hat mich hübsch genannt! Ich muss das später, wenn ich heim komme, sofort in mein Tagebuch schreiben. Halt mal, ich habe ja gar keins. Ah, was soll’s, dann fange ich eben eines an. Aber im Moment klopfe ich erst mal mit der flachen Hand auf den Boden und antworte: „Ja. Jetzt schon.“

Jeremy macht es sich neben mir gemütlich und wirft mir seitlich noch einen kurzen Blick zu. Dann zieht ein thailändisches Mädchen mit langen dunklen Haaren und einem kurzen Stricksweater über schwarzen Jeans unsere Aufmerksamkeit auf sich, indem sie einen roten Cocktailstab gegen ihr Glas schlägt. Sie ist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe. „Also, für die Neuen, die das Spiel noch nicht kennen …“, beginnt sie, „alle kommen reihum im Uhrzeigersinn dran und jeder muss erst einmal würfeln. Ihr zieht die gewürfelte Anzahl an Feldern vor. Wenn ihr dabei auf einem roten Feld landet, müsst ihr trinken.“ Sie dreht den Kopf über ihre Schulter und ruft zur Bar: „Jacie-Baby, würdest du uns wohl bitte ein paar Shots herrichten?“

Shots? Ach du Scheiße!

Er nickt nur und reiht zehn Schnapsgläser vor ihm auf der Bar auf. Während ich ihm dabei zusehe, wie er sie alle hintereinander in einer schwungvollen Bewegung von rechts nach links füllt, erklärt das Mädchen die Regeln weiter. „Wenn ihr auf einem grünen Feld zum Stehen kommt, zieht ihr eine Abenteuerkarte.“ Sie hebt den Stapel, damit ihn jeder sehen kann, und stellt ihn dann zurück in die Mitte des Brettspiels.

Wow. Das sind aber viele grüne Felder. Doch Grün ist gut … schätze ich. Auf jeden Fall besser als Rot. Ich will heute Abend wirklich nichts trinken. Ist es schon zu spät, um jetzt noch auszusteigen?

Unbeirrt von meinem Horror, spricht das Thai-Mädchen weiter: „Wenn ihr auf einem Bild mit einem Kaugummi stehen bleibt, klebt ihr fest und müsst eine Runde aussetzen. Auf Weiß könnt ihr euch entspannen, es passiert gar nichts.“

Na toll. Ich muss also lediglich versuchen, nur auf den weißen Spielfeldern stehenzubleiben, und mir passiert nichts. Technisch gesehen, sollte das möglich sein.

„Ro, wir haben zwei Antis in der Runde“, ruft Vinnie dem wunderschönen Mädchen zu. „Können wir die Regeln für die beiden ein wenig abändern?“

Ich weiß nicht, ob ich ihm für seine Fürsorge danken oder eher beschämt sein soll, weil er mich vor diesen Extrempartygängern geoutet hat. Und wer ist überhaupt der zweite Antialkoholiker? Ich blicke in die Runde und entdecke ein anderes Mädchen auf der Couch, dessen rote Wangen wohl gerade mit meinen um die Wette leuchten. Sie ist zierlich und sieht noch sehr jung aus.

„Okay. Für die Abstinenzler – oder diejenigen, die am Ende keinen Shot mehr runterkriegen …“ Ro blickt nun auch die Jungs an. „Wenn ihr auf Rot kommt, müsst ihr jedes Mal ein Kleidungsstück ausziehen.“

Die neuen Regeln klingen fair, obwohl ich mich nur äußerst ungern vor über vierzig Studenten bis auf die Unterhose oder noch weiter ausziehen möchte. Umso mehr ein Grund dafür, Rot heute Nacht zu vermeiden.

„Alles klar …“ Ein beunruhigendes Grinsen zeichnet sich in ihrem Gesicht ab, bei dem es mir die kleinen Härchen im Nacken aufstellt. „Dann lasst uns beginnen.“

Kapitel 6

Brinna

Wir spielen erst seit zwanzig Minuten und ich musste schon meine beiden Stiefel ausziehen, die erste Strophe der amerikanischen Hymne singen, eine Runde lang auf dem Schoß eines Mitspielers namens Stanley sitzen und mit der letzten Abenteuerkarte wurde ich direkt zurück zum Start geschickt. Fantastisch. Allerdings muss ich trotzdem zugeben, dass ich schon seit Jahren nicht mehr so viel gelacht habe wie heute.

Killian ist der Nächste. Er landet auf einem, der vielen grünen Felder, und hebt eine Karte vom Stapel ab. „Nimm ein Raffaello zwischen die Zähne, drehe dich zu deinem linken Nachbarn und gib es weiter“, liest er vor. „Verwende dazu nur deinen Mund. Das Raffaello wird so lange im Kreis der Spieler weiter gereicht, bis es den Weg zurück zu dir geschafft hat.“

Wie beim letzten Mal, als Vinnie fünf Liegestütze über dem Mädchen zu seiner Linken machen musste, bricht auch nun wieder heiteres Gekicher aus, besonders von den Damen.

„Haben wir eine Schachtel Raffaellos im Haus?“, ruft Vinnie seinem Mitbewohner zu.

Rick, der immer noch an der Bar sitzt und sich dort mit Jace unterhält, während dieser mehr Cocktails mixt, dreht sich um und zuckt mit den Schultern. „Nein, ich denke nicht.“ Er steigt auf die Metallstange unten an der Bar und lehnt sich darüber, wobei er offenbar etwas sucht. Sekunden später kommt er mit etwas Rotem in der Hand herüber. „Geht es auch mit einer Erdbeere?“

„Alles geht“, antwortet Killian, zupft das Grünzeug aus der Frucht und steckt sie vorsichtig in den Mund. Anschließend dreht er sich nach links, damit er sie an eines der Zwillingsmädchen weitergeben kann, dessen Name Chiara lautet. Sie sieht aus, als könnte sie es kaum erwarten, dass er endlich beginnt, was ich wiederum voll und ganz nachempfinden kann. Denn die Erdbeere wird sich dann auf den Weg durch die Spieler machen und bald auch bei Jeremy angelangen, der immer noch neben mir auf dem Fußboden sitzt. Und er muss sie mir geben. Mein Herz fängt gerade an, in meiner Brust wie auf einer Halfpipe Skateboard zu fahren. Oh, das wird soo gut.

Ich platze schon fast vor Aufregung, während ich Killian beobachte, wie er sich etwas nach unten beugt, um die Erdbeere näher an Chiaras Mund zu bekommen. Nur dreht er im letzten Moment den Kopf blitzschnell zur Seite und spuckt die Beere über den Tisch, wo sie über die Kante kullert und direkt in meinem Schoß landet. Dann wendet er sich zurück zu Chiara und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen, der sich gewaschen hat. Die Menge jubelt!

Nur ich nicht.

Was soll der Scheiß? Das war meine Chance, so etwas Ähnliches wie meinen ersten Kuss von Jeremy um eine Erdbeere herum zu bekommen! Und jetzt ist sie weg. Einfach … puff! Mordgedanken drängen sich in meinen Kopf. Ich hasse dich, Killian!

Mein Schmollen geht in die Verlängerung, während Chiara dran ist, einen Shot zu exen.

„Teilst du die?“, fragt Jeremy leise, lehnt sich dabei ganz nahe zu mir und schreckt mich aus meinem Trübsinn. Meine Kiefer müssen erst einmal die Totalsperre lockern, ehe ich ein scheues Lächeln zustande bringe. Er nickt inzwischen zu der Erdbeere, die ich immer noch ganz vergessen zwischen den Fingern rolle.

„Oh. Ähmm. Sicher.“ Ich halte sie ihm hin, weil ich sie sowieso nicht gegessen hätte. Jeremy nimmt sie mir aber nicht wie erwartet ab. Viel lieber lehnt er sich nach vorn und beißt eine Hälfte davon direkt aus meinen Fingern ab. Seine langen Wimpern streicheln seine Haut, als er den Blick senkt und seine Lippen dabei meine Fingerspitzen ganz zart berühren. Ich ziehe lange und tief den Atem ein. Oh. Mein. Gooott!

Er kaut, schluckt und leckt sich hinterher über die Unterlippe. „Danke.“

Ich bin total in seine Augen versunken. Weiß er eigentlich, wie schön die sind? Wahrscheinlich sollte ich jetzt irgendwas sagen, aber mir fällt absolut nichts ein. Das Schweigen wird langsam peinlich, darum stopfe ich mir kurzerhand die zweite Hälfte der Erdbeere in den Mund, um sie zu essen. Oh Mann, ich bin soo offensichtlich. Man könnte meinen, ich komme aus einem Kloster und hatte noch nie in meinem Leben Hautkontakt mit Jungs.

„Schätze, dann bin ich jetzt wohl an der Reihe“, sagt er amüsiert und würfelt. Fünf. Er zieht seine Figur die entsprechenden Felder vor und greift nach einer Abenteuerkarte. „Der Tequila-Knutschfleck. Wähle einen Spieler aus und lecke ihr oder ihm über den Hals. Streue etwas Salz auf die Stelle und lecke es weg.“ Er grinst. „Sorgfältig.“

Als er die Hand mit der Karte absinken lässt, trocknet mir die ganze Erdbeerspucke im Mund auf. Oh bitte, nimm mich! Bitte, bitte, nimm mich!

Ich schwöre, sein Kopf war gerade dabei, sich in meine Richtung zu drehen, als Flo auf der Couch plötzlich ganz zappelig wird. „Ich mach’s mit dir!“, platzt sie heraus, als ob es schon in Stein gemeißelt ist, dass er sie auswählen wird.

Jeremys Gesicht formt sich zögerlich zu einer Grimasse, aber ein niedliches Lächeln wischt diese schnell wieder weg. „Ah… okay.“

Nein! Du dummer Kerl! Lass sie einfach abblitzen und nimm mich stattdessen. Ich flehe dich an …

Er rappelt sich auf die Beine, geht um den Tisch herum zu Flo und tauscht mit ihr den Platz, wonach er sie auf seinen Schoß zieht. Ehrlich, gleich fange ich an zu heulen.

Laut Killian, der aufgestanden ist und gerade wieder von der Bar zurückkommt, hat er kein Salz gefunden, dafür aber ein Zuckerpäckchen, das er auch gleich aufreißt. Als Flo sich die langen Haare zur Seite streicht und Jeremy ihren Hals präsentiert, kann ich dem Grauen nicht länger zusehen. Das begeisterte Johlen der anderen Spieler geht mir auf die Nerven. Zähneknirschend drehe ich mich weg.

Mein Blick schweift erst einmal durch den Raum und bleibt dann an Jace hängen, der hinter der Bar an der Theke lehnt, die Arme vor der Brust verschränkt hat und sich so mit Lawrence unterhält. Warum mir bei der Sache irgendwie ein bisschen warm wird, ist, weil er an Lawrence vorbei und direkt zu mir sieht. Ich meine total-direkt, nicht nur irgendwie so in meine generelle Richtung mit acht anderen Spielern um mich herum. Er hört dabei nicht auf, sich mit seinem Freund zu unterhalten, aber gerade beginnt er zu lächeln. So richtig breit und niedlich. Einen kurzen Moment später, schaut auch Lawrence über seine Schulter. Und während der Jubel neben mir gerade seinen Höhepunkt erreicht, starren beide Jungs nur mich an.

„Du bist dran“, flüstert mir jemand ins Ohr und ich hüpfe fast einen halben Meter vom Boden hoch.

„Hä?“ Mein Kopf schnellt zur Seite und da sitzt Jeremy wieder neben mir auf dem Boden. Wann in Dreiteufelsnamen ist er denn zurückgekommen? Mein Mund ist staubtrocken, also räuspere ich mich und schüttle den Kopf, ohne etwas zu sagen. Aber als mein Blick noch einmal kurz zur Bar hinüber gleitet, lacht Jace aus voller Brust.

Genervt verfinstere ich mein Gesicht und zwinge mich selbst dazu, wieder wegzusehen. Endgültig.

Beim nächsten Mal würfeln schlittere ich nur knapp daran vorbei, ein weiteres Kleidungsstück ausziehen zu müssen, und lande erneut auf Grün. Jemand hat den Stapel mit den Karten ans andere Ende des Tisches gestellt, außerhalb meiner Reichweite, daher zieht Killian ein Abenteuer für mich. Anstatt die Karte aber rüberzureichen, liest er sie auch gleich vor.

„Sprich den folgenden Satz …“ Er wackelt verwegen mit den Augenbrauen, als er mich ansieht. „Rückwärts.“ Agh. „Mein ganzes Leben lang war ich schon das einzige Kind meiner Mutter und meines Stiefvaters.“ Und dann fängt er richtig zu lachen an. „Wenn du scheiterst, wird dir die erste Person des anderen Geschlechts zu deiner Linken den Hintern versohlen. Drei Klapse für das erste falsche Wort und einen weiteren für jedes folgende.“

Neben mir explodiert Vinnie in übermütigem Gelächter, denn er sitzt links neben mir. „Zum Teufel noch mal, jaaa! Ich darf der Jungfrau den Po versohlen!“

Klar, tritt meine Würde nur mit Füßen! Warum auch nicht? In meinem Gesicht steigt heiße Scham auf, weil jetzt wirklich alle glauben, ich hab noch nie …

„Nicht, wenn ich die Aufgabe bestehe!“, werfe ich mit einem schneidigen Grinsen zurück. Und ich habe nicht vor, bei dieser Sache zu scheitern. Vor all den Leuten übers Knie gelegt zu werden käme zweifellos in die Kategorie: peinlichster Auftritt meines Lebens.

„Okay, du hast zwanzig Sekunden“, informiert mich Killian. Seinem Blick nach zu urteilen, hofft auch er inständig, dass ich versage. „Hier ist der Satz noch einmal: Mein ganzes Leben lang war ich schon das einzige Kind meiner Mutter und meines Stiefvaters.“

Ich hole tief Luft. „Stiefvaters meines. Und Mutter.“ Wenn mein Gesicht so hart ist, wie es sich anfühlt, mache ich hier gerade einen auf grantiger Felsbrocken. „Meiner. Kind. Einzige.“ Lieber Gott, hilf mir! „Schon.“

„Beeil dich. Die Zeit ist fast um“, drängt mich Killian amüsiert, aber ich weiß, er macht das nur, damit ich die Nerven verliere.

Ich rufe mir den ganzen Satz bildlich ins Gedächtnis und lese die Worte weiter rückwärts. „Ich war lang.“

„Tick tack tick tack“, flüstert Vinnie von der Seite.

Bleib ruhig, Brinna. Du hast es fast geschafft. „Leben. Ganzes mein.“ Da! Bitte schön. Fertig! Mein Gesicht entspannt sich und ebenso der Rest meines verkrampften Körpers. Mein Herz, das die ganze Zeit still gestanden hat, macht auch gerade einen Neustart.

„Das war ja wirklich exzellent!“, lobt mich Killian, dann schiebt sich ein Mundwinkel bitterböse nach oben. „Nur leider hast du das kleine Wörtchen Das vergessen.“

„Was? Nein! Im Ernst?“ Aagh. Ich schlage mir die Arme über den Kopf und winsle. Das kann doch nicht sein. Er muss sich geirrt haben. Ich hab das Wort bestimmt gesagt, nur hat es keiner gehört.

„Komm schon! Hoch mit dir, kleines Mädchen“, singt Vinnie begeistert und als ich einen vorsichtigen Blick nach links wage, haben die anderen bereits Platz auf der Couch gemacht, damit wir Mr. & Mrs. Grey spielen können. Mit einem dämlichen Grinsen wartet er auf mich.

Scheiße.

Ich erhebe mich vom Boden und platziere mich selbst dann ganz vorsichtig über seinen Schoß. Soll ich Chloe dafür die Schuld geben, weil sie mich hierher gezwungen hat, und sie morgen dafür erwürgen? Hm, ja, ich denke das werde ich. Mein Gesicht in meinen Händen vergraben, fange ich beinahe an zu zittern, während ich auf den ersten Klaps warte. Doch Vinnie regt sich noch einmal unter mir, beugt sich seitlich zu meinem Ohr und fragt dabei nicht allzu leise: „Möchten Sie mitzählen, Miss McNeal?“

„Fahr zur Hölle!“, jaule ich in meine Hände.

Lachend richtet er sich wieder auf. Und ich rüste mich für den bevorstehenden Schmerz an meinem Po.

„Bereit?“, fragt er.

„Neeeein…“

„Okay, auf drei. Eins … zwei …“ Einen Wimpernschlag später kneift er mich in die linke Pobacke und ich quietsche auf vor … Schreck, nicht Schmerz.

Mein Kopf schnellt hoch, meine Pferdeschwänze fliegen nach hinten. Über meine Schulter sehe ich ihn an. „Das war’s?“

Ein verschmitztes Lächeln tanzt auf Vinnies Lippen, als er die Rückseite meines Oberschenkels tätschelt. „Na, ich kann doch kein kleines Mädchen versohlen.“ Er zwinkert mir zu. „Nicht an ihrem ersten Abend in meinem Haus.“

Oh Mann, ist das die Art, auf die man in San Francisco Freunde findet? Es mag ja funktionieren, aber für mein zartes Kleinstadtherz ist es doch etwas heftig. Ich klettere von ihm runter und setze mich wieder auf den Boden. Das kleine bisschen rosa Smoothie, das noch in meinem Glas ist, zieht mich an wie eine Rettungsleine. Ich schütte mir das Zeug in die staubtrockene Kehle, in der Hoffnung, nicht gleich vor Scham zu verglühen.

Vinnie hat Schwein und bleibt auf einem Kaugummifeld kleben. Somit muss er gar nichts machen. Flo und Ro – oh, wie schön das zusammenpasst. Die zwei sollten ein Team bilden, nicht Flo und Jeremy – sie müssen beide nur je einen Schnaps trinken. Der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben sinkt bei dem schüchternen Mädchen neben ihnen auf der Couch, denn sie und der erste Zwilling haben nur sehr einfache Aufgaben zu erfüllen, wie etwa den Nachbarspieler zu umarmen. Killian muss hingegen ausziehen, was immer er am Oberkörper trägt, und es jemandem aus der Runde bis Spielende leihen.

Sein weißes Sweatshirt kommt in meine Richtung angesegelt. „Für dich, Minnie Maus!“ Er lacht, als ich es auffange, und seine Bauchmuskeln zucken dabei angespannt. „Damit kannst du deine … Ohren warmhalten.“

Memo an mich selbst: Trag auf der nächsten Party einen Sack und kein hautenges T-Shirt. Ich ziehe mir den Hoodie über den Kopf und schlüpfe in die viel zu langen Ärmel, während der andere Zwilling bereits wieder einen Schnaps runterkippt. Und wer auch immer als Nächstes dran ist, muss seinem gegenüberliegenden Spieler eine ganze Minute lang in die Augen sehen. Wer zuerst blinzelt, geht zurück an den Start.

Obwohl es hier drinnen ziemlich warm ist und ich in Killians Pulli wahrscheinlich gleich ins Schwitzen kommen werde, entgeht mir trotzdem nicht, dass er ein sehr angenehm duftendes Körperspray verwendet. Erst als Jeremy wieder dran ist, passe ich auch im Spiel weiter auf. Seine Aufgabe ist es, blind einen Mitspieler durch Ertasten des Gesichts zu erkennen.

Chiara zieht sich flott den blauen Seidenschal vom Hals und verbindet ihm damit die Augen. Dieses Mal ist mir die Gute Fee aber zum Glück gnädig, denn Ro zeigt anschließend leise mit dem Finger auf mich und zieht fragend die Augenbrauen hoch.

Ob ich will? Macht sie Witze? Klar, unbedingt! Die überschwappende Aufregung presse ich zurück in einen Käfig und bewege mich dann ganz langsam von Jeremy weg, um mich anschließend behutsam vor ihn hinzuknien. Chiara nimmt seine Hände und führt sie vor mein Gesicht. „Los“, gibt sie das Kommando.

Ich kann mein freudiges Grinsen kaum noch unter Kontrolle halten. Als er aber die Hand zu schnell ausstreckt und mir mit dem Mittelfinger fast das linke Auge aussticht, zucke ich stöhnend zurück.

Jeremy rümpft die Nase. „Oh, es tut mir leid, Brinna.“

War ja klar, dass er meine Stimme erkennen würde. Und ich habe soeben eine wunderbare Chance in den Sand gesetzt, von diesem süßen Jungen gestreichelt zu werden. Die Jury entscheidet, dass er nicht bestanden hat und somit einen Shot trinken muss, und ich darf mir wegen Mittäterschaft ein weiteres Kleidungsstück ausziehen. Das ist jedoch eine milde Strafe, denn ich entledige mich einfach Killians Hoodie und werfe ihn über den Tisch zurück zu ihm. „Danke. Die Ohren sind jetzt warm genug.“

Killian schmunzelt beim Anziehen. Schon irgendwie schade, dass er seinen hübschen Körper jetzt wieder verstecken muss.

Vinnie reicht mir indessen den blauen Würfel. All meine Gebete, diesmal auch auf einem Kaugummi zu landen, sind vergebens, als ich Eins würfle und von Grün zu Grün vorrücke. Ein neues Abenteuer.

Ich lehne mich weit über den Tisch und hebe diesmal selbst eine Karte ab. Als ich sie umdrehe, will ich eigentlich nur noch schreien. „Das ist doch wohl ein Scherz?“, stöhne ich ungläubig.

Flo wird schon wieder ganz aufgeregt. „Was ist es? Komm, sag schon! Was musst du machen?“

Es gibt nicht viel, das ich vorlesen könnte. Da steht nur ein Wort über einem unverkennbaren Bild. Ich halte die Karte für alle hoch und lasse den Kopf hängen. „Flaschendrehen.“

Sofort bricht ein mädchenhaftes Oooh aus, während die Jungs mit Pfeifen und Johlen reagieren. Alle sind plötzlich in heller Aufregung. Eine, die ich in der Tiefe meines Horrors irgendwie so gar nicht nachempfinden kann. Vinnie springt auf und ruft: „Yo, Jace! Wirf mal eine Flasche rüber!“

Seit unserem überaus merkwürdigen Augenkontakt vorhin habe ich kein einziges Mal mehr zu ihm rüber gesehen, aber jetzt fällt mir auf, wie sein Blick mit ernsthaftem Interesse zwischen Vinnie und mir hin und her gleitet. Er schraubt den Verschluss auf eine weiße Bacardi Flasche und wirft sie in den Raum. Mein Herz setzt kurzzeitig aus, weil ich halb davon ausgehe, dass sie entweder gleich jemanden erschlägt oder, nicht weniger übel, auf den Boden knallt und in tausend rumgetränkte Scherben zerspringt. Doch Vinnie fängt sie mühelos mit einer Hand und wendet jedes Unheil somit ab.

Was er aber als Nächstes macht, jagt mir bereits einen neuen Schauer über den Rücken. Er legt die Hände um den Mund und alarmiert den ganzen Raum: „Wir haben eine Flaschendreh-Kandidatin! Jeder, der einen Kuss von dieser süßen Schnecke will“ – er greift nach meiner Hand und zieht mich auf die Beine, als wollte er mich herumzeigen – „kommt besser in den nächsten zwanzig Sekunden in den Kreis.“

Dann nimmt er mich etwas abseits mit, wo mehr Platz ist und ich mich wieder auf den Boden setzen soll. Er ist der Erste, der sich neben mich kniet. Es schmeichelt mich so sehr, wie es mich auch nervös macht. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Vinnie heute Nacht wirklich küssen möchte. Er ist süß und nett und charmant und alles. Aber Liam Hemsworth ist einfach nicht mein Typ. Andererseits, was ist, wenn er der Einzige bleibt, der einen Kuss von mir will? Es wäre schon irgendwie demütigend, wenn sich der Kreis am Ende gar nicht füllt.

Weil ein Kerl nach dem anderen um die Flasche herum Platz nimmt, verfliegt diese Sorge jedoch schnell. Wahnsinn! So viele Freiwillige! Mindestens zehn Jungs lächeln mir schon erwartungsvoll zu. Und Ro! Oha. Ich fange geniert zu kichern an. Killian setzt sich mir gegenüber hin und als auch Lawrence von der Bar zu uns herüberkommt, bemerke ich Jace dahinter, der mit einem Geschirrtuch gerade ein Glas abtrocknet. Okay, er will mich also nicht küssen. Ist bestimmt besser so.

Trotzdem behält er mich hemmungslos im Auge. Das kleine Geheimnis sitzt dabei auch jetzt wieder in seinem Mundwinkel. Dann wandert seine Aufmerksamkeit ein wenig nach rechts und das Geheimnis verschwindet. Automatisch drehe ich mich in die Richtung, in die er blickt. Und sofort geht mir vor purer Freude das Herz auf. Jeremy Ward ist gekommen, um einen Kuss von mir zu gewinnen.

Ein stilles Lächeln ist alles, was ich mir erlaube, als er sich neben mich setzt. Gleich darauf schlucke ich, weil Vinnie sagt, wir können jetzt anfangen. Auf meinen Knien lehne ich mich nach vorn, stütze mich dabei mit einer Hand auf dem Boden ab und greife die Flasche mit der anderen.

„Drei. Zwei. Eins …“ zählt Killian laut und ich weiß nicht wieso, aber in diesem Moment schiele ich noch einmal über seine Schulter zur Bar hinüber. Jace hat das Glas inzwischen weggestellt. Das Geschirrtuch hängt über seiner Schulter und er hat die Arme vor der Brust verschränkt.

„Los!“

Beim letzten Kommando drehe ich die Flasche mit viel Schwung und bete, dass sie am Ende ihrer Kreiselfahrt auf Jeremy zeigt. Aber meine ganze Konzentration geht flöten, als ich im Augenwinkel sehe, wie Jace plötzlich seine Hände auf die Bar stützt und sich kraftvoll darüber hievt. Wie eine Raubkatze kommt er direkt auf uns zu, zwängt sich zwischen Lawrence und Killian und kniet sich auf den Boden.

Was zum –

Sein intensiver Blick macht es mir schwer, auszuweichen, aber ich lasse nicht zu, dass er das mit mir anstellt. Seine dummen Spielchen kann er sich sonst wohin stecken. Verkrampft sehe ich der Flasche zu, wie sie nach und nach langsamer wird. Als die Öffnung wieder an mir vorbeizieht, ist klar, dass dies ihre letzte Runde sein wird.

Bitte halte bei Jeremy! Bitte halte bei Jeremy! Mein Herz trommelt viel zu laut in meiner Brust. Wenn das so weitergeht, rufen die Nachbarn noch die Polizei wegen nächtlicher Ruhestörung.

Bei dieser Geschwindigkeit wird die Flasche tatsächlich bei Jeremy zum Stehen kommen. Oh mein Gott, ich weiß es! Mein Grinsen will verzweifelt ausbrechen, während ich nervös an meinen Pferdeschwänzen ziehe.

Dann streckt gegenüber von mir jemand seine Hand aus und stellt den Finger vor dem Flaschenhals auf, sodass die Fahrt zu einem frühzeitigen Ende kommt.

Zum Hades noch mal, nein! Mein Leben ist ruiniert! Wer macht denn sowas?

Mein Kopf zuckt hoch. Und ich blicke direkt in die entschlossenen Augen von Jason Rhode.

Ein paar der Jungs um mich herum stöhnen enttäuscht auf, doch das Geräusch wird vom Jubel der anderen übertönt. Vinnie pfeift und Killian schlägt Jace anerkennend auf die Schulter. Mit rasiermesserscharfen Blicken bemühe ich mich, die zwei in Asche zu verwandeln, und während der ganzen Zeit frage ich mich, warum Lawrence sich gerade die Hand aufs Gesicht schlägt.

„Genial, Alter!“, komplimentiert ihn ein anderer Kerl aus dem Kreis. „Genieß deinen Preis.“ Es ist nicht Jeremy, denn der lässt mir von der anderen Seite gerade einen flüchtigen Blick der Enttäuschung zukommen.

Ich kann nicht glauben, was hier gerade passiert. Jace hat mir die Chance auf einen bestimmt ziemlich epischen Kuss mit dem Jungen gestohlen, auf den ich total stehe, und die denken allen Ernstes, ich nehme das einfach so hin? Ganz sicher nicht!

Die Arme vor der Brust verschränkt und die Lippen energisch zusammengepresst, suche ich noch einmal Blickkontakt mit Jace. Als die Jubelrufe endlich abflauen, maule ich: „Du hast geschummelt. Dich küsse ich nicht.“

Er ahmt meinen Schmollmund nach, als würde er mich gleich mit einem „Och wie süß“ aufziehen. Was er natürlich nicht tut, weil dieser Mistkerl kein verdammtes Wort mit mir spricht! Im nächsten Moment wird sein Blick so intensiv fordernd, dass mich heiße Blitze durchzucken. Seine haselnussbraunen Augen funkeln im gedimmten Licht, jegliche Toleranz komplett aus seinem Gesicht gewischt. Er hebt die Hand und krümmt einen Finger. Langsam. Damit ich zu ihm rüberkomme.

Weil ich mich weigere, legt mir Vinnie eine Hand ins Kreuz und gibt mir einen kleinen Schubs. „Tut mir leid, Zuckermäuschen“, lacht er, „aber er hat dich offen und ehrlich gewonnen. Jetzt sei ein braves Mädchen und geh.“

Ich will aber nicht! Aaagh!

Jace hebt einmal kurz seine Augenbrauen an und da ist auch wieder das geheime Lächeln zurück. Ja, ja, ich habe gehört, was Vinnie gesagt hat. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubt, hole ich tief Luft und krabble langsam auf allen Vieren auf ihn zu. Oh Gott, das wird sicher total seltsam. Er ist ein komplett Fremder. Ich weiß überhaupt nichts von ihm.

„Oh, wartet noch. Ein Kuss braucht die richtige Musik“, scherzt Vinnie und joggt an mir vorbei zum Computer bei der Stereoanlage in der Ecke.

Ja klar! Mach nur! Warum sollte das auch nicht gerade der peinlichste Moment meines Lebens werden?

Mein Herzschlag verdoppelt sich mit jedem weiteren Schritt, den ich näher komme. Mein Puls muss inzwischen auf über zweihundert sein, als ich direkt vor Jace halte und mich auf meine Fersen setze. „Und jetzt?“, murmle ich kaum hörbar und sehe ihm in die Augen. Jace hat süße Augen … wirklich, wirklich hübsch. Er blinzelt ein paarmal, ziemlich langsam, als ob er darauf wartet, dass ich ihn endlich küsse.

Echt jetzt? Er hat gemogelt und ich soll obendrein auch noch die ganze Arbeit machen? Ich ziehe zittrig den Atem durch die Nase und sauge meine Unterlippe zwischen die Zähne. Den Mund kann ich leider gerade nicht aufmachen, sonst würde mein Herz rausspringen. Wer hätte gedacht, dass es so schwer ist, einen Fremden zu küssen.

Die Musik hört schlagartig auf und zwei Sekunden danach beginnt Elton John „Can you feel the love tonight“ zu singen. Vinnie, du hast eine Schraube locker.

Interessanterweise hat das Johlen der Jungs aufgehört. Ihre erwartungsvollen Blicke bohren mir nicht nur gerade ein Loch in den Hinterkopf, sie laden den ganzen Raum auch fühlbar mit Hochspannung. Oder ist das nur meine eigene Nervosität, die mich gerade übermannt?

Jace scheint von den zweitausend Volt im Zimmer nichts mitzukriegen. Sein Atem ist ruhig, sein Blick im Moment geduldig. Das Geheimnis sitzt wieder in seinem Mundwinkel und tatsächlich gefällt es mir, wie er mich ansieht, wenn er so wie jetzt gerade das Kinn ein kleines bisschen senkt. Als ob das, was gleich kommt, das absolute Highlight seines Abends wird.

Okay …

Ich warte darauf, dass er seine Arme nach mir ausstreckt, in der Hoffnung darauf, dass dadurch dieser unangenehme Moment etwas weniger seltsam wird, aber seine Hände bleiben nett in seinem Schoß gefaltet. Natürlich. Wie konnte ich auch irgendetwas anderes von diesem rätselhaften Mann erwarten? Hinter geschlossenen Lidern rolle ich mit den Augen. Also dann … auf die harte Tour. Großer Gott!

Den Rücken durchgestreckt und die Schultern gerade rutsche ich ein kleines Stück nach vorn, bis meine Knie gegen seine stoßen. Er bewegt sich immer noch nicht, sondern beobachtet mich nur mit coolem Interesse.

Meine Nerven hingegen sind gespannt wie Robin Hoods Bogen. Da meine Hände schwitzen wie angehauchtes Glas, wische ich sie mir unauffällig an den Oberschenkeln ab und bereite mich auf den absurdesten Moment meines Lebens vor. Schüchtern lege ich ihm die Hände auf die Brust. Oh Mann, ich kann seinen Herzschlag spüren. Stark, rhythmisch, gleichmäßig. Am besten konzentriere ich mich einfach darauf und nicht auf den verführerischen Duft, der sich von seiner Haut abhebt.

Zentimeter für Zentimeter lehne ich mich nach vorn. Jetzt ist der Moment, wo man eigentlich die Augen schließt. Aber das mache ich nicht, weil nämlich seine auch immer noch weit offen sind. Als ob er Angst hätte, dass ich abhaue, wenn er sie nur kurz zumacht. Und ganz ehrlich, ich fürchte, das würde ich.

Aber auf diesem Weg hält er mich gefesselt. Ich komme ihm immer näher. Unsere Nasenspitzen berühren sich. Jetzt würde höchstens noch eine Schneeflocke zwischen unsere Lippen passen. Mit der Zunge lecke ich mir über die Unterlippe. Adrenalin pumpt durch meine Venen.

„Ich habe noch nie einen Fremden geküsst“, gebe ich in einem schüchternen Murmeln zu und dabei berühren sich unsere Lippen zum ersten Mal, federzart. Bei meinem Geständnis zieht er die Augenbrauen ein wenig tiefer, aber darüber mache ich mir jetzt auch keine Gedanken mehr. Nach einem letzten, tiefen Atemzug schließe ich die Augen und küsse ihn.

Den Finger in eine Steckdose zu stecken kann unmöglich elektrisierender sein als das.

Kapitel 7

Jace

Brinna braucht eine Ewigkeit, bis sie über den Boden zu mir gekrabbelt kommt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie nur aus Frust so zögert, oder ob sie vielleicht doch etwas schüchtern ist. Okay, ich hab vielleicht nicht ganz fair gespielt, als ich den Kuss fünfzehn anderen Jungs vor der Nase weggeschnappt habe, aber wenn schon so eine gute Gelegenheit an die Tür klopft, fragt man nicht, welchen Wagen sie fährt. Man steigt einfach ein.

Und das habe ich gemacht, als Hello Kitty die Flasche gedreht hat.

Als sie endlich ihre Finger auf meine Brust legt, zittern sie. Ich würde gerade sehr gerne nach oben greifen und meine Hände über ihre legen. Aber Lawrence beobachtet uns und ich riskiere sicher nicht, dass er hinterher irgendeinen Grund findet, warum der gleich folgende Kuss nicht als „von Brinna begonnen“ zählen könnte. Na gut, ich hab die Umstände ein bisschen zu meinem Vorteil eingesetzt, aber die erste Berührung unserer Lippen wird dann passieren, wenn sie bereit dafür ist.

Brinna lehnt sich näher. Die Wärme ihres Körpers drückt sich gegen mich. Ich atme ihr Parfüm ein. Dass es diesen fruchtigen Duft auch in Flaschen abgefüllt gibt, ist mir neu. Auf der anderen Seite ist es vielleicht gar kein Parfüm, sondern nur ein Himbeershampoo oder eine Bodylotion. Bei diesem Duft wird mir der Mund wässrig und ich möchte sie am liebsten anbeißen.

Verkrampft kniet sie vor mir und wartet darauf, dass ich irgendwas mache. Es steht in ihren Bambi-Augen. Tut mir leid, Baby, aber ich kann nicht. Meine Hände bleiben schön, wo sie sind, bis ihre Zunge in meinem Mund steckt.

Jeder ihrer Atemzüge scheint wie Schwerstarbeit. Dann lehnt sie sich endlich die letzten Zentimeter zu mir vor. Ihre Nasenspitze ist warm, als wir sanft aneinanderstoßen. Und dann sagt sie mir eiskalt, dass sie noch nie einen Fremden geküsst hat.

Mir bleibt kaum Zeit zu reagieren, denn ihre Lippen legen sich schon auf meinen Mund. Sie sind seidig weich, wie die Beere, nach der sie duftet. Instinktiv schließen sich meine Augen, doch meine Gedanken schießen hoch, wie die Balken eines Synthesizers. Vorhin hat sie Vinnie gesagt, sie sei noch Jungfrau, was bestimmt nur ein Scherz war. Aber jetzt wird mir klar, wenn sie noch niemals einen Fremden geküsst hat, hatte sie mit Sicherheit auch noch nie einen One-Night-Stand oder auf Partys nur so zum Spaß mal mit jemandem rumgeknutscht. Küsse bedeuten ihr etwas. Sie hebt sie vermutlich für Jungs auf, die sie wirklich gern hat.

Es ist eigenartig, wie mich ausgerechnet das an ihr beeindruckt. Und jetzt begreife ich auch erst, warum ihr der Weg zu mir herüber überhaupt erst so schwer gefallen ist. Das hier mit mir zu tun, muss ihr sehr unangenehm sein. Mit jemandem, den sie erst zwei- oder dreimal in ihrem ganzen Leben gesehen hat. Und ich konnte nicht einmal richtig „hi“ zu ihr sagen.

Ich bin ihr erster Fremder.

Die Vorstellung nimmt all meine Gedanken ein, als unsere Lippen miteinander verschmelzen. Ich öffne den Mund und unsere Zungen berühren sich für den Bruchteil einer Sekunde. Sie schmeckt nach Kokosnuss und Himbeere vom Smoothie. Ein exotischer Mix.

Brinnas Atem stößt noch ein letztes Mal durch ihre Nase auf meine Haut, dann zieht sie sich langsam zurück. Lawrence hat genug gesehen. Sie hat mich geküsst. Ich bin sicher auf der ersten Base in dieser Wette gelandet. Es ist okay, dass sie den Kuss nun beendet. Oder zumindest sollte es das sein …

Doch als ich meine Augen wieder aufmache und ihre Lider noch auf Halbmast vorfinde, möchte ich kein Fremder mehr für sie sein. Vielleicht konnte ich ja die letzten zwei Tage wegen dieser dummen Wette nicht mit ihr reden, aber ich kann zumindest jetzt Hallo zu ihr sagen – auf meine Weise. Tatsächlich kann ich mich richtig bei ihr vorstellen, sodass sie weiß, mit wem sie es zu tun hat, und mich nicht mehr vergisst.

Als sie zu blinzeln anfängt und sich von mir zurücklehnt, fasse ich ihr in den Nacken und bringe ihre Lippen wieder an meine. Ein kleines Stöhnen entweicht ihr, das ich mit meinem Mund einfange. Ich bin ganz zärtlich. Bei Mädchen immer. Aber ein Quäntchen Entschlossenheit schlüpft in meinen Griff und dieses Mal küsse ich sie richtig.

Ihr erster Gedanke ist vermutlich, aufzuspringen und zu flüchten. Aber ich streichle sanft mit dem Daumen an ihrem Kinn entlang und sie entspannt sich. Das scheue Kätzchen gibt meiner Forderung nach. Sie wird locker, öffnet ihren Mund. Und ich will plötzlich alles.

Es ist berauschend, wie ich sie mit nur einem zarten Biss in ihre Unterlippe zum Stöhnen bringen kann. Unsere Zungen streicheln, spielen, gleiten aneinander. Ihre gerade noch so zaghaften Hände schieben sich von meiner Brust auf meine Schultern und sie stützt mehr von ihrem Gewicht darauf, als sie sich wieder weiter zu mir beugt.

Das reicht mir aber noch nicht. Ich will sie näher haben. Sie muss mich richtig spüren können, wenn sie sich hinterher an mich erinnern soll. Die Party, die Musik und alle Leute um uns herum vergessen – wie in einer Welt, die nur ihr und mir gehört – lasse ich meine Hände über ihren Nacken hinunterwandern, über ihren Rücken, ihre schlanke Taille und kurvigen Hüften. Mit einem festen Griff um ihre Oberschenkel, ziehe ich ihre Beine auseinander und rutsche sie vorwärts, bis sie über meinem Schoß gegrätscht kniet. Genau da will ich sie haben.

Nun muss ich meinen Kopf etwas nach hinten legen, um weiter ihre Lippen zu erreichen. Ihre Fingerspitzen schlüpfen unter den Hemdkragen in meinem Nacken, wo ihre Nägel sanft über meine Haut kraulen. Die beiden langen, glatten Pferdeschwänze fallen auf meine Schultern herab. Einer kitzelt mich an der Wange. So weich und verführerisch – ich kann unmöglich widerstehen. Eine Hand liegt immer noch an ihrem hinteren Oberschenkel, die andere nehme ich hoch und streife damit durch ihr seidiges pinkes Haar. Dann fasse ich ihr wieder in den Nacken, die langen Strähnen immer noch durch meine Finger geschlungen.

Killians Lachen dringt an den abgeschiedenen Ort, den Brinna und ich uns kreiert haben. „Sucht euch ein Zimmer, ihr zwei!“

Offen gesagt würde ich im Moment nichts lieber tun. Aber Brinna unterbricht den Kuss mit einem leichten Zittern in ihrem Körper und mehr als nur ein bisschen Schock in ihren Augen, als sie diese öffnet.

Hi, ich bin Jace, möchte ich gerne auf dieses verwunderte Stirnrunzeln antworten. Aber alles, was ich ihr bieten kann, ist ein Lächeln.

Ihre Mundwinkel zucken ebenfalls zu einem Grinsen, aber sie ist schon von meinem Schoß runter, noch ehe dieses voll und ganz zum Vorschein kommen kann. Verflucht, sie ist schnell. Wieder auf den Beinen, sieht mich die kleine Himbeere nicht einmal mehr an, sondern kehrt zurück zum Couchtisch, begleitet von Vinnie und Ro.

„Sah nach Spaß aus“, stellt das Thai-Mädchen amüsiert fest.

Mein Blick hängt immer noch an ihnen, als ich vom Boden aufstehe. Brinna senkt dabei ihr Kinn, anscheinend verlegen, und murmelt: „Ja. Das ist etwas außer Kontrolle geraten.“

Mit einem Lachen platzt Vinnie heraus: „Jetzt verstehst du hoffentlich, warum wir ihn hinter die Bar sperren mussten.“ Dieser kanadische Arsch. Ich sollte ihn dafür in Ahornsirup ersäufen. Dabei kann ich selber nur schmunzeln und schüttle den Kopf auf dem Weg zurück an die Arbeit.

„Einen Moment lang dachte ich schon“, gibt Rick verschlagen von sich, als er und Lawrence sich zu mir hinter die Bar gesellen, „dass euch nur noch ein Feuerwehrschlauch auseinander kriegt.“

„Eifersüchtig?“, spotte ich mit einem Seitenblick beim Früchteschneiden für die Cocktails.

Er blinzelt und täuscht ein Lächeln vor. „Kaum.“ Ja, der liebeskranke Quatschkopf schwebt im siebten Himmel, seit er letzten Frühling Liana kennengelernt hat. Zweifellos bekommt Rick jeden Tag seine eigene, gesunde Dosis Knutschen.

„Zumindest weißt du jetzt, wie wir uns jedes Mal fühlen, wenn ihr zwei ständig eure Zungenschlachten vor uns austragt.“

Er gibt mir einen harten Schubs und ich stolpere ein paar Schritte zur Seite, wobei ich fast vor Lachen umkippe. „Lawrence, hilf mir!“, flenne ich mit einer Prinzessinnenstimme. „Ceddie ist gemein zu mir.“

„Ich geb dir gleich Ceddie!“ Rick wirft eine Zitrone nach mir, doch ich drehe mich schnell genug weg, sodass sie nur von meiner Schulter abprallt.

Law hebt sie auf und legt sie zurück zu ihren Freunden in die Schüssel. „Das war ein ziemlich cleverer Zug mit der Flasche“, meint er stirnrunzelnd. Er ist wohl nicht sonderlich begeistert von meinem Fortschritt in Sachen Wette. Aber hey, was dachte er denn? Dass ich mit dem ersten Kuss eine Woche warten würde?

„Ach komm!“ Ich schlage ihm auf die Schulter und schmunzle. „In Wahrheit willst du doch auch, dass ich die Wette gewinne und du mir die Rolle geben kannst.“

„Ich habe nur gesagt, mir gefällt dein Einfallsreichtum. Das heißt nicht, dass ich nachgebe.“ Seine funkelnden Augen verhöhnen mich. „Und nächstes Mal wird keine Flasche in der Nähe sein, um dir zu helfen.“

„Ich brauche keine Flasche. Ich habe Rick. Meinen Kumpel.“ Einen Arm auf die Schulter meines Freundes gestützt, strecke ich Lawrence die Zunge raus wie ein Mädchen. „Er wird mir aus der Patsche helfen.“

„Tja, Kumpel –“ Rick dreht den Kopf zu mir. „Ich werde diese Show gespannt mitverfolgen und ich bin auch echt neugierig, wie du Brinna noch mal dazu kriegen willst, dich zu küssen. Aber wenn du verlierst“ – seine Brauen wandern mit einem Grinsen nach oben – „dann sitze ich im Theater in der ersten Reihe, das schwöre ich!“

Ah ja. Mit der Aussicht darauf, dich in der weiblichen Hauptrolle in einer Schlafzimmerszene nur in Dessous auftreten zu sehen, werden sogar die besten Freunde zu deinen Feinden – innerhalb eines Wimpernschlags.

„Verfluchter Verräter“, lache ich und schiebe Rick von mir weg. Dann mache ich mich daran, eine Piña Colada für das Mädchen zu mixen, das mir gerade über die Bar ihren Wunsch zuflirtet.

Nachdem sie wieder verschwunden ist, verlassen mich auch meine beiden Freunde und ich nehme mir rasch eine Minute, um den rechten Ärmel meines Hemds aufzuknöpfen. Während ich ihn bis zum Ellbogen nach oben rolle, werfe ich einen Blick rüber zur Couch, wo das Spiel noch in regem Gange ist. Ro und Vinnie tanzen gerade Lambada miteinander. Die anderen trällern die Melodie dazu. Ich schüttle den Kopf. Verrücktes Spiel.

Dann wandert mein Blick weiter zur Himbeere, die am Boden sitzt. Ihre Wangen sind rosig, ihre Stirnfransen ein Durcheinander. Ihre dunkelgrauen Augen sind auf das tanzende Paar gerichtet, doch sie schunkelt selbst ein wenig mit der Musik. Der kleine Strassstein ihres Lippenbändchen-Piercings glitzert wie ein Stern in ihrem Mund. Sie wirkt wieder locker und unbefangen. Fröhlich. Als hätte sie gerade die Nacht ihres Lebens. Bei ihrem Anblick spüre ich eine seltsame Schwäche in mir. Vielleicht habe ich immer noch Schuldgefühle wegen des Flaschendrehens. Es ist nett, sie wieder entspannt zu sehen.

Fertig mit dem rechten Ärmel, knöpfe ich den linken auf und rolle ihn ebenfalls hoch. In diesem Moment dreht sie ihren Kopf und diese funkelnden grauen Augen fixieren mich. Ein zeitloser Moment verstreicht zwischen uns. Sie hört nicht auf zu singen und auch nicht mit dem Schunkeln, aber letztendlich krümmen sich ihre Lippen zu einem Lächeln, das mir gehört. Mein Antwortlächeln kommt ganz natürlich. Ich schätze, das Eis ist gebrochen.

Wenige Sekunden später beenden Ro und Vinnie ihren Tanz und Brinna widmet ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiel. Flo ist dran. Sie würfelt und springt dann auf, als hätte sie ein Vulkan aus seinem Loch rausgeschossen. Mit den Händen in der Luft schreit sie: „Gewonnen!“

Der Spaß ist dann wohl vorbei. Katja und Chiara, die Zwillinge, kommen zu mir herüber und bitten mich, ihnen etwas Süßes zu mixen. Ich richte den beiden eine Brombeer-Vanille-Limonade mit Schuss her. Nachdem sie gegangen sind, mache ich noch ein paar weitere Drinks für Leute, die ich nicht kenne, dann räume ich eine Ladung benutzter Gläser in den Geschirrspüler unter der Bar.

Ein Schatten fällt über die Theke, bei dem ich hochblicke. Die Worte „Was kann ich für dich tun?“ liegen mir schon auf der Zunge, doch ich schließe den Mund ohne ein Wort wieder, weil mich nämlich regengraue Augen anblinzeln. Die Ellbogen auf die Bar gestützt und ihr Kinn in einer Hand, zwirbelt Brinna eine pinke Strähne ihres Pferdeschwanzes um ihren Finger und lächelt dabei unschuldig. Aber tatsächlich ist es ein sehr anzüglicher Blick, den sie für mich parat hat, und er zieht mich automatisch nach vorne. Ich verschränke die Arme auf der Bar und erwidere den Blick, Nase an Nase.

„Das war ein leckerer Kuss“, schnurrt sie wie ein zutrauliches Kätzchen, nicht wie ein abenteuerlustiger Tiger. „Krieg ich noch einen …“ – ihre Lippen kurven nach oben, als sie das leere Martiniglas hochhebt und vor meinem Gesicht hin und her kippt – „Smoothie?“

Mit lautem Lachen lehne ich mich zurück. Die Kleine hat schon was, das muss ich ihr lassen.

Es dauert ein paar Minuten, das Eis zu crushen, bis es die richtige Konsistenz hat. Brinna behält mich dabei die ganze Zeit fest im Auge. Immer mal wieder schiele ich zu ihr rüber, aber nur für einen kurzen Moment. Sie ist still geworden. Ich nehme schon fast an, sie hat sich entschlossen, ebenfalls stumm zu spielen, rein aus Protest. Doch dann erschreckt sie mich, als sie aus heiterem Himmel herausplatzt: „Okay, was ist es? Ein Experiment?“

Während ich das zerstoßene Eis und die gleichen Säfte wie zuvor in den Mixbecher schütte, hebe ich eine Braue an.

„Na ja, eben sowas wie … du darfst aus irgendeinem Grund nicht mit Mädchen reden?“ Ihr Gesicht wird ganz ernst, geradezu vorwurfsvoll. „Ich hab nämlich genau gesehen, dass du mit deinen Freunden sprichst. Ein komplettes Schweigegelübde kann es also nicht sein.“

Nein, kein komplettes Gelübde, da hat sie recht. Da ihre Fragen die Wette betreffen, kann ich nicht einmal nicken oder den Kopf schütteln. Die verbissenen Falten auf ihrer Stirn sind zwar niedlich, aber lieber würde ich sie wieder lächeln sehen. Ich gieße den Smoothie, ohne eine Miene zu verziehen, in ein frisches Glas und pflücke anschließend drei Himbeeren aus der Obstschüssel. Eine lege ich vor sie hin. Eine weitere kommt oben auf ihren Drink und eine dritte werfe ich in die Luft. Die landet kurz darauf in meinem Mund.

Brinna betrachtet erst die rosa Beere auf der Theke und danach mich. „Eine Himbeere entschädigt nicht alles im Leben.“

Nicht alles, aber vielleicht einiges. Diese hier ist dafür, dass ich nicht mit ihr reden kann. Die auf ihrem Smoothie ist für den gestohlenen Kuss. Aber wenn sie die Beeren nicht will … Ich zucke mit den Schultern und greife nach der Himbeere auf der Bar. Ihre Hand schießt nach vorn wie eine Kobra und die Beere ist weg, bevor ich sie mir schnappen kann.

„Die gehört mir!“ Sie funkelt mich böse an und steckt sich die kleine Frucht in den Mund. Mit zwei Fingern pickt sie die andere Beere von ihrem Getränk und isst diese auch auf. Dann steckt sie einen neuen Strohhalm in den Smoothie. Den Kopf ein wenig gesenkt, schließt sie die Lippen darum. Ihr Blick hängt dabei immer noch an mir. Ich kann schon beinahe hören, wie angestrengt sie versucht, mich zu durchschauen. Sie runzelt die Stirn beim Nachdenken, oder vielleicht hat sie sich auch nur einen Hirnfrost gesaugt.

Das Glas ist beinahe leer, als sie sich wieder aufrichtet. Mit einem Ende des Strohhalms tippt sie sich gegen die Lippen. „Bereitest du dich vielleicht auf eine bestimmte Rolle vor? Eine, wo du nicht mit Frauen reden sollst?“ Ihr letzter Ausbruch an Genialität kommt mit einem neuerlichen aufgeregten Glitzern in ihren Augen. Um nicht der Versuchung einer Antwort nachzugeben, fange ich an, Limetten für weitere Drinks in Scheiben zu schneiden. „Oder hat dich etwa ein Trauma in der Kindheit Frauen gegenüber stumm gemacht?“

Baby, jetzt übertreibst du. Innerlich rolle ich mit den Augen, doch ich sehe nicht auf und hoffe, ihr damit zu verstehen zu geben, dass ich sie so lange ignorieren werde, solange sie auf dem Thema herumreitet.

Ihr lautes Seufzen könnte sogar die Nachbarn wecken. Außerdem sehe ich im Augenwinkel, wie sie gerade überdramatisch ihr Kinn wieder in die Hand stützt. Jetzt muss ich doch kurz zu ihr hinüberschauen und finde dabei einen süßen Schmollmund vor.

„Na schön!“, grummelt sie. „Dann sag mir eben nicht, weshalb du stumm bist. Aber verrate mir wenigstens, warum du vorhin gemogelt hast, um den Kuss von mir zu kriegen.“

Betrifft ebenfalls die Wette, also bekommt sie keine Antwort. Na ja, zumindest nicht die Wahrheit. Als jedoch mein Blick am Eimer mit den Eiswürfeln hängenbleibt, kommt mir eine Idee. Ich nehme mir einen heraus, lehne mich dann mit einem charmanten Lächeln auf die Bar und zeichne mit dem Eis ein nasses Herz auf ihren Handrücken.

Völlig fasziniert sieht sie mir zu, bis ich fertig bin. Dann schnellt plötzlich ihr Kopf hoch und ihr Blick ist weit nicht mehr so entzückt wie vorher. „Ja. Sehr witzig“, motzt sie mich an. Sie rutscht vom Hocker und nimmt ihr Glas. „Weißt du was? Wenn du nicht reden willst, dann lass es. Ich suche mir einfach jemand anderen, mit dem ich eine richtige Unterhaltung führen kann. Mit Jeremy vielleicht. Er würde sicher gern mit mir reden. Und mehr!“

Ihre Pferdeschwänze fliegen durch die Luft, als sie sich beleidigt umdreht. Ich kann nur lachend den Kopf schütteln und zusehen, wie der Wirbelwind davonstapft. Dann gefriert mein Lachen ein.

Halt! Wer zum Teufel ist Jeremy?

Kapitel 8

Brinna

Oh, dieser fiese, sture Kerl! Er mag ja vielleicht himmlische Drinks mixen und selber besser als alles andere auf dieser Welt schmecken – heilige Grinsekatze, kann der küssen – aber gleichzeitig treibt er mich auch in den Wahnsinn. Wer sagt denn, dass er unbedingt mit mir sprechen muss, um mir zu erklären, was vor sich geht? Er könnte es ja ebenso gut auf eine Serviette schreiben und das Problem wäre gelöst.

Agh! Nichts regt mich mehr auf, als Leute mit Geheimnissen. Nein halt, das stimmt nicht. Eine Sache ist tatsächlich noch schlimmer. Leute mit Geheimnissen, die mich obendrein noch küssen, als gäbe es kein Morgen mehr! Frustriert puste ich mir die Stirnfransen aus dem Sichtfeld.

Mit den Lippen fange ich den Strohhalm ein und schlürfe weiter meinen Smoothie, während ich ziellos durch den Raum irre.

„Hi.“

Erst grunze ich nur ein „Hey“ zur Antwort, doch dann halte ich abrupt an, als mir die Silhouette eines Mannes den Weg versperrt. Sämtliche Alarmglocken hätten bei der vertrauten Stimme bereits freudig in mir läuten sollen, doch es dauert einen Moment bis es bei mir Klick macht und ich hoch in Jeremys Gesicht schaue. „Hey!“, rufe ich noch einmal, aber dieses Mal mit viel mehr Begeisterung.

Und dann stirbt die Unterhaltung komplett ab. Für einen langen Moment sehen wir uns nur in die Augen. Der Wunsch, das Cocktailglas einfach über meine Schulter zu werfen und meine Arme um seinen Nacken zu schlingen, kriecht in mir hoch. Wie schön wäre es gewesen, mit diesem Jungen hier rumzuknutschen, anstatt mit dem wortlosen Hottie Jason Rhode.

„Das war ein interessantes Spiel“, durchbricht Jeremy schließlich unser Schweigen. Sein Blick schweift dabei kurz zum Couchtisch, wo wir fast zwei Stunden nebeneinander auf dem Fußboden gesessen haben.

„Ja. Ich habe vorher noch nie so etwas in der Art gespielt. Stellenweise war es zwar etwas seltsam und es hätte mich beinahe ein Auge gekostet,“ ich grinse frech, „aber morgen habe ich garantiert einen Muskelkater im Bauch vor Lachen.“

Kurz verzieht er das Gesicht zu einer leidigen Grimasse. „Ah, tut mir leid.“ Dann streicht er mir mit den Fingerspitzen seitlich am Auge übers Gesicht. „Ich wollte dir nicht wehtun.“

Heiliger Captain Hook! Für diese zärtliche Berührung von ihm hätte ich heute Nacht gerne mein Augenlicht geopfert. „Schon okay. Hast du nicht“, versichere ich ihm mit einem Lächeln.

Seine Gesichtszüge entspannen sich wieder. „Kann ich dich was fragen?“

Ja! Ja! Hundertmal Ja! Ich würde gerne mit dir ausgehen! Schwer kämpfe ich darum, meine Aufregung wieder etwas runterzuschrauben, und antworte ihm dann ruhig: „Natürlich.“

„Bist du –“ Er unterbricht sich und reibt sich den Nacken. „Der Barkeeper und du … läuft da was zwischen euch?“

„Was?“ Falsche Frage! Wo ist die Stelle, an der er mich fragt, was ich Freitagabend mache? „Nein!“

„Bist du sicher?“ Irgendwie wirkt er erleichtert über meine Antwort, aber noch nicht vollkommen überzeugt. „Denn der Kuss vorhin hat ziemlich innig ausgesehen.“

Wieder kriecht Frust in mir hoch und zwingt meine Augenbrauen in finstere Falten. „Ich bin sicher. Er hat geschummelt und ihn wollte ich sowieso nicht küssen.“

„Ach nein?“

„Nein.“

Er lächelt frech. „Wen denn dann?“

Seine auffordernde Anspielung taucht meine Wangen in ein warmes Rot. Kurz fällt mein Blick auf meine Zehen, ehe ich wieder zu ihm aufschaue und hauche: „Du bist ganz schön neugierig.“

Seine Finger streichen sanft meinen Arm hinunter und seine Stimme wird so leise wie meine. „Immer … wenn es um dich geht.“

Bin ich die Einzige, der auffällt, dass gerade jemand das Thermostat im Raum hochgedreht hat? Mein Mund trocknet aus und meine Knie beginnen leicht zu zittern. Schnell, Brinna, sag was! „Hast du gesehen, dass Ro sich auch in den Kreis gesetzt hat?“ Nein! Doch nicht das, Dummerchen!

„Ja.“ Jeremy nimmt seine Hand weg und fängt an zu lachen. „Den Kuss hätte ich zu gerne gesehen … Am zweitliebsten.“

Ja klar. Jeder verdammte Kerl in diesem Haus hätte wohl gerne einen Kuss zwischen uns Mädchen beobachtet. Es sind nur die letzten beiden Worte, die mich etwas überraschen. „Warum nur am zweitliebsten?“

Sein Lachen versickert, bis nur noch ein Grinsen übrig ist. „Weil ich den Kuss mit dir viel lieber selbst gewonnen hätte.“

OmeinGott! Ich komme mir vor, wie eine Kugel Erdbeereis in der glühenden Sonne. Als mir schon wieder komplett die Worte fehlen, habe ich diesmal wenigstens so viel Verstand und halte die Klappe.

Jeremy neigt den Kopf. „Wie wäre es als Entschädigung mit einem Tanz?“ Seine Augen schwenken kurz zu den Lautsprechern in der Ecke, als wollte er mich damit auf den Schmusesong aufmerksam machen, der soeben begonnen hat.

Etwas schüchtern beiße ich mir auf die Unterlippe. „Das wäre schön.“

Er greift nach dem Glas in meiner Hand, doch ehe er es mir abnehmen kann, trifft ihn ein kleiner, harter Gegenstand an der Brust, prallt ab und springt über den Boden davon.

Einen sehr seltsamen Moment lang starren wir beide uns nur sprachlos an. Dieses Mal finde ich meine Stimme zuerst wieder. „War das –“ Meine Augen werden zu Schlitzen, als ich kurz unterbreche. Ich lecke mir über die Lippen. Nein, das kann doch gar nicht sein, oder? „War das etwa gerade ein Eiswürfel?“

Jeremy verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und räuspert sich unbehaglich. „Ich schätze, der Barkeeper erhebt Anspruch auf dich.“

Der ganze Ärger von vorhin flammt noch einmal in mir hoch und begräbt mich unter sich wie eine Lawine. „Der kann sich seine Ansprüche sonst wohin stecken!“, explodiere ich. Fuchsteufelswild, weil Jace mir jeden süßen Moment mit ihm versaut, drücke ich Jeremy das Glas an die Brust. „Kannst du das bitte mal kurz halten? Und lauf nicht weg. Ich bin gleich wieder da.“ Dann stürme ich zur Bar hinüber.

Dafür wird Jace bezahlen!

Mit gesenktem Kinn konzentriert er sich gerade angestrengt auf etwas hinter der Theke. Es ist mir scheißegal, wie beschäftigt er tut, denn es sind keine anderen Leute dort und somit mixt er auch bestimmt gerade keine verdammten Cocktails.

Schäumend vor Wut greife ich in den Eiswürfelbehälter und hole mir eine Handvoll raus. Dann schleudere ich einen nach dem anderen auf ihn und kreische dabei: „Was. Ist. Dein Problem?!“

Er wusste genau, dass ich komme, und er hat mich auch die ganze Zeit über aus dem Augenwinkel beobachtet, denn als ich den ersten verfluchten Eiswürfel werfe, duckt er sich, als hätte er nur darauf gewartet. Ich treffe ihn trotzdem. An der Schulter. Auf die Brust. Der dritte geht daneben, aber der letzte ist ein perfekter Treffer zwischen den Schlüsselbeinen und der Würfel fällt in seinen offenen Hemdkragen.

Ein Zischen entkommt durch seine Zähne und er springt zurück, als könnte er dadurch dem kalten Geschoß entkommen, das gerade seine Haut runter schlittert. Panisch zieht er das Hemd aus der Hose. Im nächsten Moment fällt der Eiswürfel auf den Boden.

„Und jetzt verrate mir, was zum Teufel das gerade gewesen sein soll!“, fauche ich zähneknirschend, wobei ich auf die Eisenstange unten an der Theke steige und mich – nun groß genug – schwer auf die Hände stütze. Er hat Glück, dass die Bar zwischen uns steht, sonst wäre ich ihm bereits an die Gurgel gesprungen. „Hast du vor, systematisch all meine Chancen mit Jeremy zu zerstören? Er hat mich gerade gefragt, ob ich mit ihm tanzen will. Und das möchte ich wirklich, wirklich gern!“

Jace lässt sein Shirt los. Er knöpft sich die graue Weste auf und legt sie ab. Die ganze Zeit über sind seine Augen fest auf meine gerichtet, aber trotzdem sagt der Mistkerl kein Wort. Er seufzt nur zutiefst bedauernd, oder zumindest klingt es danach. Nur hilft mir das auch nicht weiter. Das könnten nämlich gerade nur zwei Dinge: Entweder er verklickert mir, was hier gespielt wird. Oder er lässt mich verdammt noch mal in Ruhe!

„Jetzt mach endlich den Mund auf und sag etwas!“, knurre ich, am Ende meiner Geduld.

Sein Blick wandert zu einer Stelle hinter mir. Ich weiß genau, wer dort steht. Der süße Junge, der darauf wartet, dass ich zurückkomme, um mit ihm zu tanzen. Und genau das werde ich jetzt auch tun!

„Okay, hör zu!“ Mit aller Kraft versuche ich mein Temperament im Zaum zu halten. Es kommt höchst selten vor, dass ich überhaupt mal die Geduld verliere, aber der Kerl vor mir treibt mich einfach die Wand hoch. „Ich weiß zwar nicht, was du für ein Problem hast, und ehrlich gesagt ist es mir inzwischen auch ziemlich egal. Könntest du mich einfach nur in Frieden lassen und dir jemand anderen zum Spielen suchen? Das wäre überaus freundlich von dir. Danke.“

Ich steige von der Stange runter, in Gedanken schon wieder drüben bei Jeremy, da hält mich Jaces Reaktion an Ort und Stelle gefangen. Er schüttelt den Kopf.

Verwirrung verstopft mir den Hals wie ein Fellknäuel und meine Stimme wird rau, als ich es wage, zu fragen: „Nein … du wirst mich nicht in Frieden lassen?“

Er verzieht das Gesicht, als täte es ihm unendlich leid, und wieder kommt ein Seufzen durch seine Nase. Dann schüttelt er noch einmal den Kopf.

Ich muss ein paarmal tief durchatmen, um mich zu beruhigen, ehe ich etwas sagen kann. „Warum nicht?“

Jace beißt sich auf die Lippe, aber es ist nicht schwer zu erkennen, wie sehr er sich gerade ein Grinsen verkneift, während er mit den Zeigefingern die Umrisse eines Herzens auf seine Brust zeichnet.

Komplett regungslos stehe ich vor ihm und kann nur blinzeln, denn der Kerl ist absolut unmöglich. Und er kann so viele Eisherzen auf meine Hand oder Scheiße auf seine Brust malen, wie er will, ich glaube ihm sowieso nicht.

Er macht einen Schmollmund. Wahrscheinlich wartet er darauf, dass ich etwas sage. Irgendwas. Denn, ja, von uns beiden bin ich die Einzige, die spricht.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, wie unglaublich nervtötend du bist?“, brumme ich. „Jetzt entschuldige mich bitte, ich muss tanzen gehen.“

Seine sanften braunen Augen funkeln wie Edelsteine hinter den langen schwarzen Wimpern. Ach verdammt! Ich weiß nicht, was es mit seinem Blick auf sich hat, aber immer wenn er diesen intensiven Scheiß mit mir abzieht, stelle ich fest, dass ich mich keinen Zentimeter bewegen kann, obwohl jede Zelle in meinem Körper rebelliert und mich anschreit, ich soll endlich abhauen.

Auf einmal legt er die Hände auf die Bar und hievt sich genau wie vorhin darüber, alles so schnell, dass ich nur erschrocken die Luft einziehen kann und einen Schritt nach hinten stolpere. Ohne Theke zwischen uns und mit ihm direkt vor mir, wirkt er plötzlich sehr viel größer. Und unangenehm realer. Nicht wie der distanzierte Junge hinter der Bar, der mit einem Eiswürfel sein Territorium markiert, sondern eher wie ein entschlossener Mann, der alles dafür tut, um einen Kuss zu stehlen.

„W-was –“ Ich mache einen Schritt zurück, als er langsam auf mich zukommt. „Was hast du vor?“

Er greift nach meiner Hand und ich bin schlichtweg zu langsam, um sie ihm wegzuziehen. Die Finger um meine geschlossen, hält er mich bei sich, doch er bleibt dabei nicht stehen. Ich weiß nicht, was sich hinter mir befindet; Leute, Möbel? Ich kann nur darauf vertrauen und hoffen, dass er mich nicht irgendwo gegen laufen lässt.

Mitten im Raum halten wir an. Seine Augen immer noch fest auf mich gerichtet, legt er meine Hand in seinen Nacken.

„Du willst tanzen?“, platze ich ungläubig heraus und ziehe meinen Arm weg.

Jace nickt und fasst im nächsten Augenblick schon wieder meine Hand – nein, sogar beide. Er legt sie noch einmal in seinen Nacken, und diesmal lässt er hinterher seine Hände über meine Seiten nach unten gleiten, bis sie auf meinen Hüften zum Liegen kommen.

„Ganz sicher nicht!“, schnappe ich, drehe mich um und stapfe los zu Jeremy, mit dem ich wirklich tanzen will. Nur komme ich nicht weit. Zwei Schritte, um genau zu sein, denn Jace packt mich am Handgelenk und zieht mich zu sich zurück, wobei er mich an seinem Arm entlang eindreht, bis ich gegen seine Brust stoße.

Wie in einer Zwangsjacke gefangen, mit seinen Armen fest um mich geschlungen, starre ich ihm ins Gesicht. Diese Haselnussjuwelen funkeln mit Entschlossenheit, als er langsam anfängt, uns zur Musik zu bewegen.

Warum, Jace? Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen?“ Stöhnend lasse ich meine Stirn auf seine Schulter sacken. Was für ein hundsverrecktes Karma habe ich nur auf mich gezogen, dass ich diesen Mann verdient habe?

Allmählich lockert er seinen fesselnden Griff. Er greift hoch und hebt meinen Kopf mit einem Finger unter meinem Kinn an. Seine Züge sind so sanft wie sein Blick. Ich atme tief ein, bereit zum Gegenangriff, doch noch ehe eine Reihe an Schimpfwörtern aus mir herausströmen kann, legt er mir seinen Finger auf die Lippen und schüttelt leicht den Kopf. Dann führt er noch einmal meine Hände hinter seinen Hals und schlingt die Arme um meine Hüften.

Wir bewegen uns ein wenig. Nur ganz gemächlich. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob man das überhaupt tanzen nennen kann. Meine Beine sind steif und gleichzeitig auch etwas wackelig. Das wird sogar noch schlimmer, als er anfängt, zärtlich meinen Rücken zu streicheln, und er den Kopf senkt, bis seine Stirn an meiner liegt. Wir befinden uns Nase an Nase, Auge in Auge, und mein Herz macht ganz komische Dinge in meiner Brust. Zum einen denke ich, es hat gerade einen Schluckauf. Und dann will es unbedingt von mir, dass ich herausplatze, wie unglaublich gut er riecht.

Okay. Ein Tanz. Das ist alles, was er von mir bekommt.

Seine Bewegungen werden ein wenig flüssiger. Ich lasse ihn die Führung übernehmen und gebe meinen Widerstand auf. Sein Körper fühlt sich hart gegen meinen an, warm. Meine Arme entspannen sich auf seinen Schultern und schließen sich dieses kleine bisschen fester um seinen Nacken. Dabei zucken seine Mundwinkel zufrieden nach oben.

Im Augenwinkel bemerke ich jemanden, der wahrscheinlich rüberkommen und mich von hier wegschleifen sollte. Ich breche den Blickkontakt mit Jace und drehe den Kopf zur Seite. Mein Glas immer noch in der Hand, steht Jeremy noch an Ort und Stelle und beobachtet uns. Als sich unsere Blicke treffen, hebt sich seine Brust mit einem Seufzen, dann zuckt er mit den Schultern und verzieht den Mund zu einem resignierenden Lächeln. Er stellt mein Glas auf dem Couchtisch ab und verschwindet.

Es ist okay, versichere ich mir selbst. In fünf Minuten gehe ich ihn suchen und werde ihm erklären, dass ich das hier gar nicht wollte. Ich entschuldige mich einfach bei ihm.

Andererseits … wie kann ich mich jemals für meinen schwachen Willen entschuldigen?

Ich lasse ein leises Seufzen über meine Lippen kommen und spüre im nächsten Moment wieder eine sanfte Berührung unter meinem Kinn. Mit dem Fingerknöchel dreht Jace meinen Kopf zu ihm zurück. Die Klänge des Songs füllen mich aus, als er mich bewegt, mich sanft hin und her schwingt und dabei meine Wange streichelt. Seine Nasenspitze streift über meine. In diesem Moment kümmert es mich kein bisschen, ob er nur wegen eines dummen Experiments stumm ist, oder ob er letzte Woche beim Mittagessen seine Zunge abgebissen hat, solange sein Körper nur weiter Bände spricht und diese Bände sich so lesen lassen wie das hier.

Langsam blinzelt er. Sein Blick schweift dabei in Richtung meiner Lippen. Nein, ich kann mich niemals bei Jeremy entschuldigen, denn in ein paar Sekunden werde ich Jace noch einmal küssen und es wird aus völlig freien Stücken passieren.

Kapitel 9

Jace

Sie gehört mir. Wenn auch nur für diesen einen Song.

Das war ein absoluter Wahnsinnskuss vor einer Stunde. Danach hätte ich nicht gedacht, dass heute noch etwas geschieht, was mich auch nur halbwegs interessieren würde. Und doch bin ich jetzt hier und tanze mit Brinna. Sie so fest zu halten und zu spüren, wie sie langsam den Widerstand aufgibt, ist wie ein Energydrink auf ex. Ich habe meine Eroberungen immer genossen, aber bisher noch keine so sehr wie diese, weil es wirklich harte Arbeit war. Na ja irgendwie. Ein bisschen …

Mit gesenktem Kopf stupse ich ihre Nasenspitze zart mit meiner an. Mein Mund kommt ihrem immer näher. Das war zwar nicht Teil des Plans, als ich sie in die Mitte des Wohnzimmers gelenkt habe, um mit ihr zu tanzen, aber je länger ich sie im Arm halte, umso richtiger fühlt sich die Sache hier an.

Ich bin fast da, nur noch Millimeter von ihren Lippen entfernt. Die Erinnerung an deren Geschmeidigkeit – und deren forderndes Verlangen, nachdem sie eingelenkt hatte – zieht mich immer näher. Brinnas Lider gleiten langsam zu und meine ebenso. Eine kribbelnde Ungeduld packt mich bei dem Gedanken daran, dass sich unsere Zungen gleich noch einmal berühren. Bis plötzlich meine rechte Hosentasche heftig zu vibrieren beginnt.

Verfluchte Kacke! Mein Handy.

Da wir so fest aneinander gedrückt stehen, entgeht natürlich auch Brinna der Anruf nicht. Ihr Kopf zuckt ein wenig nach hinten, sodass sie mir in die Augen sehen kann. „Solltest du da nicht rangehen?“

Ich will ihr sagen, dass sie das Läuten einfach ignorieren soll, denn genau das habe ich auch vor, aber was sie betrifft, so kann ich leider immer nur nicken oder den Kopf schütteln. Mein Nein überzeugt sie allerdings nicht, als der Anruf stoppt und das Vibrieren nur wenige Sekunden später von neuem beginnt.

Sie zieht eine Braue hoch. „Da ist wohl jemand hartnäckig.“ Dann schockt sie mich, als ihre zierliche Hand in meine Jeans schlüpft und das Handy aus der Tasche zieht. Ich muss dabei fast lachen, doch der Drang verfliegt in dem Moment, als sie das Telefon hochhält, Display zu mir, und ich den Namen darauf lese.

Mit einem Augenrollen nehme ich es ihr aus der Hand und gehe mit bissigem Ton ran. „Was?“

„Neudefinition der Regeln“, stellt Lawrence klar, wobei er entweder beschwipst ist, oder sich einfach nur freut, mich zu ärgern, so amüsiert wie er klingt. „Zwischen zwei Küssen müssen mindestens zwölf Stunden liegen, damit es nicht als ausgedehntes Knutschen zählt.“

Deshalb unterbricht er meinen Moment mit Brin? Weil er Panik bekommt? Ein kurzes Lachen bricht aus meiner Kehle. „Fick dich selbst, Dick!“

Weil Brinna mich nun erschüttert anstarrt, reiße ich mich schnell wieder am Riemen und beende die Unterhaltung. Das Handy wieder sicher in meiner Tasche, strecke ich ihr die Hand hin und schenke ihr einen, wie ich hoffe, einladenden Blick. Es gelten zwar Laws Regeln, aber im Moment ist es mir scheißegal, ob ich gleich meine Punkte in der Wette aufbessere oder nicht. Ich will diesen Kuss von ihr. Und zwar jetzt.

Nur leider hat Brinna ganz andere Pläne. So wie sie gerade dreinschaut, ist sie sich nicht mehr sicher, ob wir da weiter machen sollen, wo uns Lawrence unterbrochen hat.

Neeeein!

Wie eine Wand hebt sie die Hände zwischen uns. „Weißt du was, Jace? Ich glaube, für mich ist die Party vorbei. Es war ein interessanter Abend, aber zu viel Irrsinn hält mich später nur wach. Ich gehe jetzt lieber.“

Ich mache einen Schritt auf das Mädchen zu, fest entschlossen, sie umzustimmen, doch sie entkommt mir in einer leichtfüßigen Pirouette um mich herum und flüchtet zur Garderobe. Da ich ihr nichts hinterherrufen kann und es wohl etwas gruselig rüberkommt, wenn ich sie am Arm packe und zurückhalte, bleibt mir nur, sie gehen zu lassen. Aber nicht allein. Wir sind noch nicht fertig und ich lasse sie bestimmt nicht abhauen und dabei unseren tollen Start ruinieren. Entweder verlassen wir das Haus zu zweit, oder gar nicht.

Ich laufe zur Bar, lehne mich darüber und greife mir die Jacke, die ich zu Beginn des Abends dahinter abgelegt habe.

„Gehst du schon?“, fragt Vinnie hinter mir.

„Ja“, maule ich im Umdrehen. Lawrence und Rick sind bei ihm und alle drei glotzen mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Stimmt schon, normalerweise fangen Samstagabende um ein Uhr früh eigentlich erst an, so richtig interessant zu werden, aber nicht heute. Die Party ist für Brinna vorbei, also ist sie das auch für mich. Immerhin muss ich hier eine Wette gewinnen. Die Augen zu Schlitzen verengt, drücke ich den Finger hart auf Laws Brustbein. „Wir beide unterhalten uns später!“ Gerade bleibt mir keine Zeit, um mehr zu sagen, sonst entwischt mir die Himbeere noch.

Ich drehe mich um und marschiere ohne Umwege zur Tür, wo sie gerade ihre rosa Collegejacke mit den weißen Ärmeln zuknöpft. Und sieh einer an, sie ist nicht allein. Der Saftsack, der vorhin mit ihr tanzen wollte, ist auch da.

Ich werde zwar langsamer, bleibe aber erst direkt neben Brinna stehen und nutze den Augenblick, um in meine schwarze Lederjacke zu schlüpfen. Worüber auch immer sie gerade geredet haben, ist vergessen, als mich der Typ mit den blonden Strähnen in seinen chaotischen, braunen Haaren bemerkt und verachtungsvoll von der Seite ansieht. Seine Stimme nimmt einen argwöhnischen Tonfall an. „Du gehst mit ihm?“

Weil sich das eben sehr nach einem Speer in meine Brust angefühlt hat, senke ich verbissen das Kinn, um ihn scharf zu mustern, und antworte provozierend: „Ja, tut sie. Hast du ein Problem damit?“

Nach dem ersten überraschten Luftschnappen nach meinem Auftauchen – oder war es, weil ich mit dem Kerl gesprochen habe? – reibt sich Brinna die Hände übers Gesicht. „Naah, Jace … ernsthaft?“

Ja Baby, ernsthaft. Mit einem gnadenlosen Blick voll Entschlossenheit räume ich jeden Zweifel darüber aus, dass diese Unterhaltung in irgendeiner anderen Form enden könnte, als dass sie gleich mit mir durch diese Tür geht.

Der Klotz vor uns missinterpretiert unser liebevolles Geplänkel jedoch komplett falsch. „Wenn du nicht mit ihm gehen willst, kann ich dich heimbringen“, schlägt er Brinna hoffnungsvoll vor und klingt nun wieder ekelhaft freundlich, während er mich ignoriert.

Alter? Muss ich dir erst in den Arsch treten? Finger weg von meinem Mädchen! Ich lasse ihn keinesfalls zwischen mich und die Wette kommen. „Ich habe gesagt, ich begleite sie. Wir wohnen im gleichen Gebäude. Kein Grund für dich, dir die Füße wundzulaufen.“

Beinahe schon bestürzt runzelt er die Stirn. „Stimmt das?“ Wieder spricht er nur mit ihr und nicht mit mir. Scheiße. Fühlt es sich so für Brinna an, wenn ich nicht mit ihr rede? Respektlos? Innerlich erschaudere ich.

Ihr Blick schießt zwischen uns beiden hin und her, dann krümelt ihr Gesicht auf so niedliche Weise, dass es mir richtig unter die Haut geht. „Äh ja, hör zu“, stammelt sie und blickt dabei nur ihn an. „Es ist vermutlich das Beste, wenn du hier bleibst und die Party bis zum Ende genießt. Ich gehe“ – ihre Stimme wird zu einem vorwurfsvollen Knurren, als ihre Augen kurz zu meiner Seite wandern – „mit Jace nach Hause.“ Dann seufzt sie, ehe sie hinzufügt: „Ich erkläre dir alles am Montag in der Schule.“ Und als kleiner Nachzügler folgt noch: „Wenn ich kann.“

„Okay.“ Seine Miene wird weich, verhärtet sich aber eine Sekunde später wieder, als er sie eindringlich ansieht. Für mich übersetzt sich der Blick klar und deutlich zu: Wenn dich der Typ bedroht, ist jetzt deine Chance, es mir zu sagen. Ein Blinzeln genügt.

Gerade will ich ihm echt eine auflegen.

Weil ihm Brinna keinen Grund gibt, anzunehmen, ich hätte etwas Zwielichtiges mit ihr vor, streichelt er ihren Arm entlang und verabschiedet sich mit: „Pass auf dich auf.“

„Natürlich. Gute Nacht, Jeremy.“ Sie wendet sich zum Gehen, schlägt aber auf dem Weg zur Tür die flache Hand auf ihren Oberschenkel und ruft dabei über ihre Schulter: „Na komm, Jacie, koooomm! Braver Junge. Lass uns Gassi gehen!“

Echt jetzt? Ich verdrehe die Augen … und folge ihr.

Draußen stecke ich die Hände in meine Jackentaschen, während wir die leere Straße entlang spazieren. Dabei beobachte ich sie die ganze Zeit über und sie würdigt mich keines einzigen Blickes. Mist, sie ist sauer. Und zwar noch viel mehr als vorher, als sie mir die Eiswürfel an die Birne gepfeffert hat. Einen Arm um sie zu legen, ist im Moment wahrscheinlich kontraproduktiv. Ich schlucke und passe meine Schritte ihrer langsamen Geschwindigkeit an.

„Es stört mich nicht, wenn du nicht mit mir reden willst“, sagt sie irgendwann ganz plötzlich, sieht aber dabei immer noch nicht zu mir. Ihre Stimme ist überraschend sanft. „Nur kann ich es überhaupt nicht ertragen, wenn Leute Geheimnisse haben.“ Jetzt finden ihre flehenden Augen endlich zu mir. „Kannst du mir nicht wenigstens verraten, was für ein … ein … Ding du hier abziehst?“

Unter einem tiefen Atemzug schüttle ich langsam den Kopf.

Enttäuschung legt ihre Stirn in tiefe Falten. „Okay, also ein streng geheimes Experiment. Dich weiter zu löchern ist dann wohl zwecklos, nehme ich an.“

Ein einsames Auto fährt an uns vorbei und stört unseren stillen Spaziergang. Brinna sieht wieder nach vorn und macht einen kleinen Hüpfer. Worüber weiß ich nicht, denn es liegt nichts im Weg. „Aber du weißt schon, wie seltsam es ist, dass du nicht mit Frauen sprichst, oder? Ich meine, wie willst du so jemals eine Freundin finden? All deine Kumpels werden irgendwann verheiratet sein und Kinder haben, nur du bleibst einsam und verlassen über und unterhältst dich dann wahrscheinlich ausschließlich mit den Tauben im Park.“

Ihr Gedankengang bringt mich zum Schmunzeln, doch ich bezweifle, dass sie selbst gerade die Ironie in ihren eigenen Worten erkennt. Ich habe den ganzen Abend kein einziges Wort mit ihr gesprochen. Trotzdem hat sie mich geküsst. Beinahe zweimal.

Brinna springt noch einmal, wieder über nichts Bestimmtes. Ich blicke zurück auf den Gehsteig hinter uns, um ganz sicher zu gehen, aber da liegt wirklich nichts. Ich weiß, dass sie weiß, dass ich mich gerade darüber wundere, was sie tut, aber als ob sie auf Rache aus ist, weigert sie sich, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Stattdessen fährt sie fort: „Außerdem setzt die Tatsache, dass du eine Schauspielausbildung machst, ja gewissermaßen voraus, dass du irgendwann am Set auch mal mit Mädchen sprechen musst. Oder hast du vor, nur in Stummfilmen mitzuspielen?“ Während sie nun schon zum dritten Mal über ein unsichtbares Hindernis hüpft, kichert sie vergnügt. Diesmal war ihr Sprung aber etwas weiter und da checke ich endlich, was hier läuft.

Das Licht! Immer wenn der Lichtkegel einer Straßenlaterne auf dem Weg endet, springt sie über den schattigen Spalt in den nächsten. Ich schmunzle. Wie alt ist sie? Acht?

„Wie lange dauert das Experiment denn überhaupt? Kannst du mir wenigstens das sagen?“

Nein, Baby, ich kann gar nichts sagen.

„Eine Woche? Zwei? Einen Monat? Bis Weihnachten?“ Ihr skeptischer Blick schlittert zu mir. „Oder ist das so ein ‚Lass uns mal schauen, wie lange du durchhältst‘ Ding?“ Bei meinem zurückhaltenden Schweigen runzelt sie die Stirn und konzentriert sich wieder auf den Weg vor ihr. „Spielst du das ganz alleine? Denn deine Boygroup macht ja offensichtlich nicht mit.“ Und dann bleibt sie zaghaft stehen.

Es ist ganz klar warum. Hier stehen die Straßenlaternen etwas weiter auseinander. Wenn sie über diesen Schatten springen will, müsste sie schon Anlauf nehmen, aber ich fürchte, nicht einmal dann wird sie es schaffen.

Aufgeben? Das kommt für dieses Kätzchen offenbar nicht in Frage. Den Kopf entschlossen gesenkt und unsere Unterhaltung anscheinend komplett vergessen, joggt sie ein paar Schritte zum Rand des Lichtkegels. Weil ich sie hier nicht einfach so im Stich lassen kann, greife ich im letzten Moment nach ihrer Hand, bevor sie abspringt, und ziehe sie die paar Zentimeter weiter vorwärts, die ihr noch gefehlt hätten, um sicher auf die andere Seite zu gelangen. Wir können ja nicht zulassen, dass sie von den fürchterlichen Schattenkrokodilen gefressen wird, oder?

Sobald das Doppelklacken ihrer Stiefelabsätze in der stillen Nacht zu hören ist, schnellt ihr Kopf zu mir und ihre Pferdeschwänze flattern über ihre Schultern. „Danke schön!“ Sie strahlt mich richtig an.

Gern geschehen, Kleines. Ich schüttle den Kopf, doch sie bekommt ein Lächeln.

Im nächsten Moment rutscht ihre Hand aus meiner und sie fällt wieder in die Unterhaltung von vorhin zurück, als hätte uns nichts unterbrochen. Oder sie, da es ja ein ziemlich einseitiges Gespräch ist. „Ist es schwer, so lange nicht reden zu dürfen? Ich habe es noch nie versucht. Ich glaube, ich würde dabei sterben.“

Es ist schwer. Ganz besonders, wenn sie eine Frage nach der anderen auf mich abfeuert. Aber davon sterben? Kaum. In Wahrheit fange ich gerade an, es zu genießen, ihr einfach nur zuzuhören. Zumindest ist es besser, als den ganzen Weg nur stillschweigend nebeneinander herzugehen. Außerdem hat sie eine nette, sprudelnde Stimme, die irgendwie ein angenehmes Gefühl in mir erzeugt, selbst, wenn ich nicht genau weiß, wie sie es macht.

„Bekommst du am Ende des Experiments eine Belohnung? So wie ein Abzeichen, das du dir dann an die Brust stecken kannst?“ Und dann verzieht sie ganz ohne Vorwarnung das Gesicht und stöhnt. Es ist das Jammern eines Kindes, wenn seine Mutter ihm sagt, es muss jetzt ins Bett, obwohl die älteren Geschwister noch soo viel länger aufbleiben dürfen. Ich weiß genau, wie das klingt. Ich habe einen älteren Bruder.

„Agh, bitte sag, dass es nicht um eine Wette geht!“, quäkt Brinna nach dem nächsten kleinen Hüpfer über einen Schattenabgrund. Blitzartig zieht sich alles in mir zusammen. „Denn das wäre echt mies.“

Der Schauer in mir schießt wild durch meinen Körper, komplett außer Kontrolle. Und plötzlich habe ich nur noch mich selbst in einem Bett vor Augen, das auf einer Bühne vor siebenhundert Zuschauern steht, und ich trage nichts außer roter Reizwäsche.

Meine Wangen fangen an zu glühen und ich blicke zu ihr, ohne meinen Kopf dabei zu drehen. Sie soll mir nicht auf die Schliche kommen, nur wegen der verräterischen Farbe, die mir gerade ins Gesicht schießt. Aber mit ihrem ständigen Weitergeplapper ist es sauschwer zu sagen, ob sie nur laut nachdenkt, oder ob sie hier tatsächlich eins und eins zusammenzählt.

„Das Problem bei diesen Wetten ist, dass du immer dumme Dinge für dumme Belohnungen tust. Wie zum Beispiel das hässlichste Entlein aus der Menge zu picken und sie als dein ganz persönliches Projekt in einen wunderschönen Schwan zu verwandeln, damit sie Ballkönigin wird, oder sonst irgendwelchen Scheiß halt. Und wofür? Um nachher damit anzugeben? Oder vielleicht noch ein Fass Bier obendrauf.“ Sie dreht sich um und läuft rückwärts, damit sie mich dabei ansehen kann.

Jesus, hilf mir, das durchzustehen!

Ihre Augenbrauen knicken ein. „Dir ist doch auch klar, dass das nicht sehr charmant ist, richtig?“

Richtig.

Aus heiterem Himmel bleibt sie stehen, die Augen weit aufgerissen und das Kinn gesenkt, und ich rumse in sie rein. Schnell fasse ich sie noch an den Ellbogen, damit sie mir nicht umfällt. Bei ihrem schockierten Blick mache ich einen Schritt zurück und starre in ihr versteinertes Gesicht.

„Du denkst doch nicht, dass ich hässlich bin, oder?“ Ihre Stimme ist leise, beinahe zittrig. „Weil … weil du mich heute geküsst hast …“

Irgendwie fehlt mir gerade komplett der Zusammenhang ihrer Schlussfolgerung. Mein Mund formt schon ein „Was?“, doch ich halte mich zurück und lecke mir stattdessen rasch über die Lippen. Würde die Tatsache, dass ich sogar die Flasche gestoppt habe, weil ich sie so unbedingt küssen wollte, nicht bedeuten, dass ich sie eher ziemlich hübsch finde?

Brinna macht einen mutlosen Schritt auf mich zu. Ihre großen Bambi-Augen haben jegliches Selbstvertrauen und ihren Glanz verloren. „Denkst du das, Jace?“, fragt sie noch einmal, ihre Stimme nun kaum noch hörbar.

Nur sie allein könnte mich mit so einer direkten Frage verblüffen. In einem fließenden Blick von oben nach unten, nehme ich ihre elfenhafte Figur war. Von ihren rosa Stirnfransen, über ihre Hände, die sie nervös vor sich ringt, bis runter zu ihren schwarzen Stiefeln, auf deren Seiten jeweils ein glitzernder Schmetterling gestickt ist. Als meine Augen wieder hoch wandern bis zu ihren, schlucke ich und sehe dabei wahrscheinlich aus wie ein Kind, das den letzten Keks aus der Keksdose stibitzt hat – und es nun nicht einmal verheimlichen kann, weil die Krümel noch in seinen Mundwinkeln hängen. Aufrichtig schüttle ich den Kopf.

Nein. Das Mädchen vor mir ist nicht hässlich. Sie ist auch kein Supermodel. Brinna ist … einzigartig. Ihre feenhaften Züge wecken in einem Kerl wie mir seltsame Beschützerinstinkte. Und heute Nacht kam auch noch diese witzige und leicht abenteuerliche Seite an ihr hervor. Auf ganz besondere Art und Weise macht es das kleine Kätzchen wirklich süß.

Und dann tue ich etwas Dummes. Ich lege meine Hände an ihre Hüften, hebe sie aus dem Schatten, in den sie rückwärts gegangen ist, und setze sie im Licht der Laterne wieder ab. Überraschenderweise gefällt mir ihr kleines, erschrockenes Luftschnappen und auch, wie sie sich dabei verängstigt an meinen Schultern festhält.

Vorhin habe ich mich gewaltig geirrt. Das Schlimmste am Schweigen mit ihr ist nicht, wenn sie ihre zahllosen Fragen auf mich abfeuert. Nein, es sind Momente wie jetzt, in denen sie vollkommen sprachlos ist. Da ich die Stille nicht unterbrechen kann, streiche ich ihr mit dem Daumen über die Wange und schenke ihr ein kurzes Lächeln dazu. Dann schiebe ich meine Hände wieder in die Hosentaschen und nicke in Richtung Zuhause.

Ein paar Meter weiter halte ich ihr aber meinen Ellbogen hin. Es dauert zwar einige Sekunden, doch am Ende schlingt sie ihre Hand darum und schielt skeptisch zu mir hoch. „Du bist seltsam.“

Mit schmalen Augen blinzle ich runter zu ihr und schicke ihr dieses überaus nette Kompliment auf gleichem Wege grinsend zurück.

Wären wir immer noch auf der Party und ich hinter der Bar, wäre jetzt der Moment, wo wir mit unseren Gläsern auf das anstoßen, was auch immer wir hier beginnen. Wir haben zwar gerade keine Cocktails da, aber in meiner linken Jackentasche befindet sich eine leckere Alternative. Ich hole die Orangen Tic Tacs heraus und biete Brin welche an, indem ich sie vor ihrer Nase in der Packung rattern lasse. Warum sie das zum Lachen bringt, weiß ich jetzt nicht, doch ich halte ihr die kleine Schachtel trotzdem hin, bis sie danach greift.

Ihre linke Hand immer noch um meinen Arm, öffnet sie die Packung einhändig und schüttet sich ein paar direkt in den Mund. Als sie mir die Packung zurückgibt und dabei „Danke“ um die Drops auf ihrer Zunge nuschelt, sind nur noch vier oder fünf Minions übrig. Es wäre grausam, ein einsames Tic Tac für morgen aufzuheben, daher lege ich den Kopf zurück und kippe sie mir alle in den Mund, zerkaue sie und genieße die saure Explosion. Die leere Schachtel landet in einem Mülleimer am Straßenrand. Und wieder macht Brinna einen kleinen Sprung über den nächsten finsteren Abgrund.

Was sie wohl machen würde, wenn ich sie in den Schatten dränge, bis wir zu Hause sind? Wahrscheinlich würde sie mir an die Gurgel springen … oder Steine nach mir werfen, da hier ja keine Eiswürfel rumliegen. Ein Lächeln stielt sich auf meine Lippen, aber es verschwindet schnell wieder, als sich Brinna plötzlich an meinem Arm verkrampft. Einen Augenblick später erkenne auch ich, was sie gerade auf der anderen Straßenseite entdeckt hat. Heiser krächzt sie: „Ist das –“

Fuck! Ja, ist es! Im Schatten eines Müllcontainers liegt jemand auf dem Gehsteig.

Ihre Hand rutscht von meinem Ellbogen, als wir beide lossprinten. Doch je näher wir kommen, umso klarer wird, dass es keine Person ist.

Lange Beine, ein sandfarbenes Fell, und der Schwanz liegt reglos auf dem Asphalt. Der Hinterlauf ist mit dunkelroten Striemen überzogen. Der Hund gibt ein erbärmliches Jaulen von sich. Reflexartig schießt mein Arm zur Seite, um Brinna daran zu hindern, näher ranzugehen. Wer weiß schon, wozu ein verletztes Tier dieser Größe fähig ist. Ein Schnapper und weg ist die Himbeere.

Nur hat Brinna da etwas andere Ansichten. Sie versucht, meinem Arm auszuweichen, was ich allerdings nicht zulasse.

„Was?“, faucht sie. „Er hat Schmerzen! Wir müssen ihm helfen.“ Ihr Gesicht in Ärger verzogen, drückt sie gegen meinen Arm und, Scheiße noch mal, in der Kleinen steckt mehr Kraft, als ich ihr zugetraut hätte. Sie wieselt an mir vorbei.

Dickköpfiges Ding! Zähneknirschend greife ich nach ihr. Leider erwische ich nur eine Handvoll von ihrer Jacke, doch es reicht, um sie zurückzuziehen. Mit einem genauso finsteren Blick wie ihrem, stelle ich sie zur Seite und gehe vorsichtig auf den Hund zu. Zwischen all dem Blut an seinem Hinterteil ragt etwas Weißes heraus. Grundgütiger, ist das ein Knochen? Mir dreht sich der Magen um. Er wurde bestimmt von einem Auto angefahren.

Als ich mich näher ran wage, fletscht der Hund seine Zähne, und das sieht nicht nach einem erfreuten Lächeln aus.

„Geh weg! Du machst ihm Angst!“ Brinna drückt sich vor mich und wirft mir dabei einen raschen, warnenden Blick über die Schulter zu. „Hol lieber dein Handy raus und google den nächsten Tierarzt, anstatt hier den Macho-Helden zu spielen.“

Äh, waaas?

Von meinem stillen Protest unbeeindruckt, hockt sich Brinna auf den Boden und kriecht näher an den bewegungslosen Retriever heran. Das Knurren hört auf, als sie behutsam und unter ständigem Gemurmel von irgendwelchem besänftigenden Schwachsinn ihre Hand ausstreckt und seinen Kopf streichelt. „Siehst du? Es ist alles gut“, sagt sie ganz sanft zu ihm. „Niemand tut dir was. Ich passe jetzt auf dich auf.“

Ein gottloser Ausruf hängt an meiner Zungenspitze, aber ich werde die Wette sicher nicht wegen einem Hund verlieren. Außerdem sieht es so aus, als ob was immer sie da gerade macht, den Hund wirklich beruhigt. Daher behalte ich die beiden vorerst einfach nur im Auge und bin gefasst, Brinna aus seinen Fängen zu zerren, sollte er nach ihr schnappen.

Tut er aber nicht. Brinna setzt sich vor ihn hin, die Beine auf dem schmutzigen Gehsteig ausgestreckt, und rutscht dann Zentimeter für Zentimeter näher, bis sie seinen Kopf auf ihren Schoß heben kann.

Ich bin … sprachlos. Nein, wirklich. Das hat nichts mit der Wette zu tun. Es ist, weil ich noch nie ein Mädchen getroffen habe, das auch nur annähernd so etwas macht. Die meisten Frauen, die ich kenne, würden eher ihre Geschwister an ein Forschungsinstitut verkaufen, als sich freiwillig in San Franciscos Müll zu setzen. Noch dazu für einen Hund. Aber Brinna …

Wie angewurzelt stehe ich vor ihr und beobachte sie fasziniert. Bis sie uns beide dann dem Hund auch noch vorstellt. „Ich bin Brinna. Das da drüben ist Jace. Du brauchst vor ihm keine Angst zu haben. Er ist netter, als er aussieht.“

Oh, sie ist heute Nacht ja so großzügig mit ihren Komplimenten. Ich fange schon an, mit den Augen zu rollen, doch in diesem Moment bemerke ich erst ihren glasigen Blick und das Zittern in ihrer Stimme. Sie fühlt tatsächlich mit dem Hund.

„Wir werden dir nicht wehtun, Schätzchen. Niemand wird das. Jetzt bist du in Sicherheit“, murmelt sie.

Unter immenser Anstrengung, wie es scheint, schiebt der Hund seine Pfote nach vorn auf Brinnas Schenkel und fängt an zu winseln. Es ist ein qualvolles Gejaule, das sogar mir vor Mitleid den Hals zuschnürt. Brin hebt ihren Kopf zu mir, ihr Blick vollkommen anders als das düstere Funkeln vorhin. Im Moment befindet sich nur pures Flehen darin. „Kannst du die Tierrettung anrufen? Wir können ihn hier doch nicht einfach leidend zurücklassen. Bitte, Jace. Ruf irgendjemanden an!“

Natürlich lassen wir ihn hier nicht allein. Aber es ist ja auch nicht so, dass man einfach 9-1-1 für einen Hund anrufen könnte. Ich schlucke und hocke mich dann vor beide hin. Vorsichtig greife ich ins Fell des Retrievers. An seinem blauen Nylon-Halsband hängen zwei karoförmige Hundemarken. Die offizielle Registrierungsnummer und eine Telefonnummer sind auf eine der beiden gestanzt. Die andere trägt den Namen Nibs.

Als ich den Hund sanft hinterm Ohr kraule, schließt er seine dunklen Augen. Das Jaulen wird schlimmer.

„Bitte!“ Mein Kopf schnellt zu Brinna, als sie ihre zarte Hand auf meine legt und mit einem herzbewegenden Blick zudrückt. „Hol Hilfe.“

Ich nicke, ziehe mein Handy aus der Hosentasche und wähle die Nummer von der Marke. Es läutet nur zweimal, dann ruft eine männliche Stimme ein aufgeregtes „Hallo“ ins Telefon, als hätte er auf diesen Anruf schon seit Stunden gewartet.

„Hi, hier spricht Jason Rhode. Es tut mir leid, dass ich so spät in der Nacht noch störe“ – oder so früh am Morgen, wenn man bedenkt, dass es schon zwei Uhr Früh ist – „aber meine Freundin und ich haben Nibs gefunden.“

„David, sie haben ihn!“, donnert seine Stimme durchs Telefon. Unterm Aufstehen zucke ich zusammen und halte es für eine Sekunde weg von meinem Ohr, bis er wieder normal mit mir spricht. Halbwegs. „Geht es ihm gut? Er ist heute Nachmittag einer Taube nachgelaufen und abgehauen. Wir haben die halbe Nacht nach ihm gesucht. Wo ist er?“

„Ähmm… Wir sind hier an der Ecke Grant Avenue und Sutter Street. Und es sieht so aus, als ob Nibs in einen Unfall verwickelt war. Er ist ziemlich schwer verletzt.“

Seine Stimme bricht. „Wir sind in fünfzehn Minuten da.“

Ich lege auf und wende mich wieder zu Brinna und dem Hund. Sie streichelt immer noch seinen Kopf, wobei sie nun auch ein Schlaflied für ihn singt, das ich noch nie gehört habe, aber worin sie ihn immer wieder „Baby of mine“ nennt. Das erbärmliche Gewinsel hat nachgelassen. Nibs scharrt mit seiner Pfote an ihrem Oberschenkel, als könnte er ihr gar nicht nah genug sein. Sie ist schon eine ganz besondere Seele.

Erst Sekunden später bemerkt sie, dass ich das Gespräch bereits beendet habe, und hebt den Kopf. „Kommt jemand?“

In dem Moment, als sie aufhört, für den Retriever zu singen, beginnt er wieder zu jaulen. Ich nicke ihr zu, setze mich mit gekreuzten Beinen zu den beiden auf den Boden, lege eine Hand auf die Schulter des Hundes und vergrabe meine Finger sanft in seinem Fell. Brinna beginnt wieder zu summen und so warten wir gemeinsam auf Hilfe.

Kapitel 10

Jace

Mehrmals spazieren Leute an uns vorbei, ihre Gesichter immer von Mitleid verzogen, wenn sie den verletzten Hund entdecken. Die erste Gruppe macht nur einen Bogen um uns. Ein Kerl aus der zweiten fragt aber, ob sie uns irgendwie helfen könnten. Ich teile ihnen mit, dass wir alles unter Kontrolle haben und nur noch auf den Besitzer warten. Sie nicken alle und gehen dann weiter.

Hin und wieder fahren Autos vorbei und ich frage mich, wie jemand einen Hund überfahren und dann nicht anhalten kann, um sich um ihn zu kümmern? Brinna schnieft und zieht mich damit aus meinem wütenden Grübeln. „Er hat sich schon eine ganze Weile nicht mehr bewegt. Hoffentlich stirbt er nicht.“

Sie hat recht. Das Gejaule hat inzwischen komplett aufgehört und sein Atem geht sehr ruhig. Es sieht beinahe so aus, als wäre der kleine Nibs ruhig auf ihrem Schoß eingeschlafen, nur, dass dabei dieser unheildrohende Knochen aus seiner Haut ragt und uns daran erinnert, dass an seinem Schlaf überhaupt nichts friedvoll ist.

Besorgt schaue ich die Straße rauf und runter. Zum Glück dauert es nicht mehr lange, bis das Heulen eines Motors hinter der Kurve unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein schwarzer Range Rover kommt um den Block gerast. Als ob Nibs das Geräusch erkennen würde, regt er sich und fängt erneut an, wimmernd an Brinnas Bein zu scharren.

Der Wagen hält mit quietschenden Reifen neben uns an und zwei aufgebrachte Männer steigen aus. Ich stehe auf, um sie zu begrüßen, während Brinna bei unserem Patienten am Boden bleibt.

„Mein Name ist Aiden. Wir haben telefoniert“, sagt der Blonde in einem grauen Strickpullover, der sofort vor Nibs auf die Knie fällt und ihn vorsichtig streichelt. Dann sieht er zu mir hoch und deutet auf den Fahrer hinter ihm. „Das ist David. Vielen Dank, dass ihr uns angerufen und bei Nibbie gewartet habt.“ Aidens Blick ist glasig. „Was haben sie denn mit dir angestellt, mein Kleiner?“, krächzt er und lehnt sich vor, um den Hund auf die flache Stelle seines Kopfes zu küssen.

David macht inzwischen den Kofferraum auf und holt einen Hundekorb heraus, den er neben Nibs stellt. Das Ding ist riesig, aber das ist der Retriever ja auch. „Wir haben den Tierarzt verständigt. Er wartet schon auf uns. Jetzt müssen wir Nibs nur noch irgendwie hierein packen, damit wir ihn transportieren können.“ Als sein Blick aber auf die grausige Wunde an der Hüfte des Hundes trifft, wird sein Gesicht zu einer Grimasse und er dreht sich wieder zu mir. „Kannst du uns vielleicht helfen, ihn reinzuheben?“

Natürlich. Wir gehen in die Hocke und jeder von uns schiebt vorsichtig seine Hände unter das Tier. Der Hund leidet fürchterliche Schmerzen. Er stößt einen jämmerlichen Laut aus und dreht blitzschnell den Kopf nach hinten, während er nach David schnappt, der ihn gerade an der Hüfte angefasst hat. Aus Reflex zucken wir alle zurück. Nur Brinna bleibt ruhig und beginnt wieder zu singen. Sie streichelt ihm über den Kopf, doch dabei hält sie ihn gleichzeitig auch sanft fest.

Ich will ihr sagen, dass sie verdammt noch mal ihre Hände von dem Biest nehmen soll. Damit ihr nichts passiert. Aber schon von Anfang an wusste sie am besten, wie sie den Hund beruhigen konnte, also warten wir alle ruhig ab, bis die Situation entspannt genug aussieht und wir Nibs wieder anfassen können.

Dieses Mal schaffen wir es, ihn vom Boden hochzuheben, auch wenn er dabei jault und knurrt und sein ganzer Körper vor Schmerzen zittert. Erst als er sicher im Korb liegt, tragen wir ihn rüber zum Auto und verfrachten ihn in den Kofferraum. Behutsam schlägt David den Deckel zu und beide Männer drehen sich zu uns um.

„Habt vielen Dank, ihr zwei!“, sagt Aiden in sichtlicher Eile. Wie Brinna schnieft auch er und will im Moment bestimmt nichts lieber, als seinen Hund zum Tierarzt zu bringen. Er nimmt ihre beiden Hände in seine und dem Anschein nach zerdrückt er sie fast. „Gott segne dich, Liebes.“

Komplett neben sich murmelt sie nur in kaum hörbarem Ton: „Mein Name ist Brinna.“ Dann schluchzt sie auf.

Dafür möchte ich sie einfach nur in den Arm nehmen und trösten. Aber ich habe das Gefühl, das würde bei weitem nicht reichen. Sie braucht mehr. Daher wende ich mich an David, der gerade dabei ist, sich wieder hinters Lenkrad zu setzen. „Hör mal, wäre es möglich, dass wir mit euch kommen? Nur, um zu sehen, was der Doktor sagt. Du weißt schon, damit wir wissen, dass Nibs wieder in Ordnung kommt.“

Ein Hoffnungsschimmer blitzt in Brinnas Augen auf, als ihr Kopf überrascht zu meiner Seite zuckt. Ich wusste, dass es ihr dadurch besser gehen würde, wenn auch nur ein ganz kleines bisschen.

Ohne zu zögern bieten uns die beiden Männer an, einzusteigen. Aiden führt Brinna zur Seite des Wagens und öffnet ihr die Tür. Ich steige auf der anderen Seite ein.

Ein Metallkäfig trennt den Kofferraum vom Rest des Wageninneren. Das hält Brinna aber nicht davon ab, sich auf dem Sitz umzudrehen, ihren Arm durch die Gitterstäbe zu stecken und den Hund während der ganzen Fahrt über zu streicheln.

Es ist nur ein kurzer Weg bis zum Tierarzt. Aiden ist als Erster raus aus dem Auto und drückt den Knopf an der Gegensprechanlage. Inzwischen helfe ich David, den Korb aus dem Kofferraum zu holen, und wir tragen Nibs in die Praxis, die um diese Uhrzeit nur teilweise beleuchtet ist.

Ein junger Mann, offensichtlich kaum von der Uni runter, dirigiert uns durch die Klinik. Er trägt einen weißen Kittel mit einem Namensschild an der rechten Brust. Dr. T. Abrams. Auf seine Anweisungen hin platzieren wir den Korb auf dem metallenen Untersuchungstisch in einem Raum, der viel heller ist als der Rest, und treten dann zurück.

„Als Erstes bekommt er etwas gegen die Schmerzen, was gleichzeitig auch ein Beruhigungsmittel enthält“, informiert er uns, während er die Spritze bereits aufzieht. „Das Medikament wirkt innerhalb von Minuten. Danach kann ich ein paar Röntgenbilder machen.“ Er piekst den Hund in die Schulter und drückt ihm langsam die klare Flüssigkeit in die Vene. „Wollen wir doch mal sehen, ob wir dich nicht wieder auf die Beine kriegen, kleiner Freund“, murmelt er dabei zu Nibs. Anschließend sieht er zu uns. „Wer ist denn der Besitzer?“

„Wir“, antworten Aiden und David gleichzeitig und treten an den Tisch.

  1. Abrams nickt den beiden zu. „Ich möchte, dass Ihnen klar ist, wie schlimm seine Wunden sind. Es sieht nicht gut aus. In manchen Fällen ist es besser, das Tier einzuschläfern, um es von seinem Leid zu erlösen.“

Brinnas Einatmen durch ihre Zähne zischt, als würde jemand ein Streichholz anstecken. „Nein!“ Sie ist schneller bei den anderen am Untersuchungstisch, als überhaupt jemand reagieren kann. Aiden scheint genauso schockiert über den Ernst der Verletzung, doch im Moment bleibt er ruhig. Er und sein Partner sehen Brinna voll Mitgefühl an.

Was auch immer mit Nibs geschieht, ist nicht unsere Entscheidung. Außerdem befinden sich ohnehin zu viele Menschen im Behandlungszimmer. „Wir warten draußen“, sage ich zu den anderen Männern und lege einen Arm um Brinnas Schulter, damit ich sie hinaus in den Warteraum führen kann. Ohne Widerstand kommt sie mit, obwohl sie den Kopf mehrmals zurückdreht und Nibs nicht aus den Augen lässt, bis ich die Tür leise hinter uns schließe.

Mit hängenden Schultern schlurft sie zum Fenster und sieht hinaus in die Dunkelheit. Ich setze mich auf einen der Vinylstühle an der Wand, die Hände in den Taschen und die Beine weit auseinander gestellt. Den Kopf lasse ich nach hinten gegen die Wand kippen, doch mein Blick hängt fest an Brinna. Keine Ahnung, was sie da draußen sieht – wahrscheinlich gar nichts – aber als sie den Kopf etwas hebt, bin ich mir fast sicher, dass sie in diesem Moment einen kleinen Wunsch nach oben zu den Sternen schickt.

Sie sollte mit ihren Sorgen nicht alleine sein. Ich stehe auf und gehe zu ihr. In der spiegelnden Fensterscheibe vor ihr treffen sich unsere Blicke, ehe ich meine Finger über ihren Arm und den Handrücken hinab streifen lasse.

Nach einem schweren Seufzen dreht sie sich um und blickt mir direkt in die Augen. Ihre Wangen sind nass von ihren Tränen. Sie fühlen sich warm an, als ich sie mit dem Fingerknöchel wegwische. Schnell reibt sie sich selbst über die Wangen und bemüht sich um ein Lächeln, das gar nicht wirklich rauskommen mag. Stattdessen erschüttern weitere innige Schluchzer ihre Brust. „Ich sollte nicht weinen, ich weiß. Es ist ja nicht einmal mein Hund und das ist wirklich dumm, aber –“

Als ob sie am Ende ihrer Kräfte angelangt wäre, bricht sie mitten im Satz ab. Nein, das ist nicht dumm. Wenn überhaupt, dann macht es sie wunderschön. Sanft schlinge ich meine Arme um sie, ziehe sie an meine Brust und lege mein Kinn auf ihren Kopf.

Brinna schmiegt sich an mich, als wäre ich ihre Schmusedecke. Viele, viele Tränen sickern dabei in mein Hemd unter der offenen Lederjacke. Ich lege eine Hand zärtlich an ihren Hinterkopf und drücke sie noch fester an mich. Vielleicht sollte ich etwas sagen. Sie ein wenig trösten. Scheiß auf die Wette! Ich sollte mich um das Mädchen kümmern, wenn ihr gerade das Herz bricht.

Vorsichtig lege ich meine Hände an ihre Wangen und neige ihren Kopf hoch, damit sie mir ins Gesicht sieht. Dann atme ich tief ein und sage –

Hinter uns geht die Tür auf und unterbricht, was auch immer gerade über meine Lippen gekommen wäre. Ich lasse Brinna los und sie wischt sich mit dem Ärmel rasch über die Nase, als wir uns beide umdrehen. David begleitet Aiden gerade auf die gleiche Weise aus dem Untersuchungszimmer wie ich Brinna vor wenigen Minuten. Wir drehen uns vom Fenster weg und gehen auf sie zu.

„Wie geht es Nibs?“, fragt Brinna heiser. „Was hat der Doktor gesagt?

„Er macht gerade die Röntgenbilder“, teilt uns Aiden mit. „In ein paar Minuten wissen wir mehr.“ Sein Blick ruht auf Brinnas Gesicht und ich weiß, er versteht ihr stilles Flehen. „Mach dir keine Sorgen, Schätzchen. Wenn es eine Möglichkeit gibt, um Nibs zu retten, lassen wir ihn bestimmt nicht im Stich.“

„Mein Name ist Brinna“, murmelt sie nur wieder mit gesenktem Kinn.

Ich lege von hinten meine Hand in ihren Nacken und drücke sachte zu. Bei einem tiefen Seufzen heben sich ihre Schultern und fallen wieder herab. Dann kommt T. Abrams in den Warteraum und alle Augenpaare richten sich auf den jungen Tierarzt mit den zerzausten schwarzen Haaren.

„Ich konnte mir jetzt einen Überblick über Nibs’ Verletzungen verschaffen“, sagt er zu uns allen. In seiner Hand sind ein paar Röntgenbilder, die er eines nach dem anderen gegen das Licht an der Decke hält und dabei weiter erklärt: „Leider hatte ich recht mit meiner Vermutung. Es sieht nicht besonders gut für ihn aus. Seine Hüfte ist zerschmettert. Das können wir nur mit Stiften in einer sehr komplizierten Operation fixieren.“

Meine Hand immer noch auf Brinnas Schulter, spüre ich, wie sie bei seinen Worten erstarrt.

„Aber das ist noch nicht einmal das größte Problem“, fährt Dr. Abrams fort. „Seine Milz ist gerissen und ein Knochensplitter hat seinen Darm perforiert. Nibs hat innere Blutungen.“

Großer Gott!

„Können Sie ihn retten?“, fragt Aiden mit zittriger Stimme.

„Ich kann es versuchen. Mein Team könnte in wenigen Minuten hier sein.“ Der Doktor lässt den Arm mit den Bildern sinken und fummelt mit der freien Hand an einem der großen weißen Knöpfe an seinem Kittel herum. „Aber Nibs hat einen sehr langen Weg der Genesung vor sich.“

„Das spielt keine Rolle. Tun Sie einfach alles, was Sie können, um ihn zu retten!“, fleht Aiden ihn an und greift dabei nach Davids Hand zur Unterstützung.

Wieder sieht Dr. Abrams besorgt drein. „Da gibt es noch eine andere Sache, die sie bedenken sollten. So eine schwere Operation ist mit vielen Risiken verbunden. Sie wird Stunden dauern und es gibt keine Garantie, dass Ihr Hund sie auch wirklich übersteht. Außerdem …“, er macht eine Pause für einen tiefen Atemzug, „sind da noch die Kosten. Ich fürchte, es wird nicht billig werden. Manchmal ist Einschläfern wirklich die beste Lösung.“

„Nein! Bitte nicht! Das dürft ihr Nibs nicht antun!“, fleht Brinna die drei Männer an, wobei ihr Blick von einem zum andern schweift und letztendlich an Aiden hängenbleibt. „Er verdient jede Chance, die er kriegen kann. Bitte, nicht einschläfern lassen! Wenn es zu teuer ist, kann ich helfen. Ich habe –“ Sie zieht zwanzig Dollar aus ihrer Hosentasche. Dann wird sie still. Niedergeschmettert starrt Brinna auf den zerknitterten Geldschein in ihrer offenen Hand. Neue Tränen laufen über ihre Wangen, denn gerade wird ihr wohl klar, dass eine Operation ein paar tausend Dollar kostet, und nicht Pausengeld für eine Woche.

Mir bricht das Herz für sie, meine arme, verzweifelte Himbeere.

Es ist Aiden, der in diesem Moment vor sie tritt und ihre Hand nimmt, wobei er ihre Finger sanft um das Geld schließt. „Süße, süße Brinna“, sagt er, streichelt ihr dabei über die Wange und schenkt ihr ein ermutigendes Lächeln. „Wir haben genug Geld und ich habe dir bereits vorhin versprochen, dass wir Nibs nicht im Stich lassen. Natürlich bekommt er die Operation. Er ist ein zäher Bursche. Er wird es bestimmt schaffen.“

Ein kleines Lächeln der Erleichterung erscheint auf Brinnas Lippen. Sie atmet tief durch. Und ich ebenso, denn es ist ansteckend.

„Gut, dann rufe ich mein Team her“, sagt T. Abrams. Während er um die Rezeption herumgeht und das Telefon dort benutzt, holt David für Brinna einen Becher Wasser vom Spender. An der Wand lehnend nimmt sie ihn entgegen und trinkt einen Schluck. Dabei sucht sie mich kurz mit ihrem Blick über den Becherrand.

„Dein Mädchen sieht müde aus“, stellt Aiden leise neben mir fest. „Du solltest sie nach Hause bringen.“

Ich beobachte immer noch die beiden anderen, blinzle und wundere mich, warum mich Brinnas kleines Lächeln so sehr berührt, als sie den Becher runternimmt. „Oh nein, sie ist nicht mein Mädchen“, erkläre ich Aiden ebenso ruhig.

Es gibt eine Million Dinge, die er darauf hätte antworten können, doch er entscheidet sich für ein völlig überraschtes: „Warum nicht?“

Brinna und David, da bin ich mir sicher, haben von der vorherigen Unterhaltung kein Wort gehört, aber jetzt starren sie beide zu uns rüber.

Ich räuspere mich und drehe mich zu Aiden, um die Unterhaltung privat zu halten. „Na ja, zum einen kenne ich sie kaum. Sie ist eben erst nebenan eingezogen.“

Er mustert mich für einen langen Moment. Anscheinend hat er etwas mehr als diese einfache Antwort erwartet. „Und zweitens?“

Agh. „Keine Ahnung.“ Mit verzogener Miene reibe ich mir den Nacken. „Reicht das nicht schon?“

Seinem herausfordernden Stirnrunzeln nach offenbar nicht. „Junge, jetzt sag ich dir mal was. Wenn ich nicht schon in einer Beziehung mit dem perfekten Mann wäre, hätte ich Brinna in dem Moment einen Antrag gemacht, als sie angefangen hat, für unseren Hund zu singen. Sieh sie dir an.“

Das tue ich.

„Dieses Mädchen ist etwas Besonderes. Du bist ein Narr, wenn du sie dir nicht schnappst.“

Brinna ist zum Behandlungsraum hinübergegangen und in der Tür stehengeblieben. Ihre Wange auf ihre Hände gebettet lehnt sie am Türrahmen und beobachtet Nibs, der nun auf dem metallenen Untersuchungstisch schläft. Ein außergewöhnliches Mädchen – das habe ich mir heute Nacht schon mehr als einmal gedacht.

Nur beschäftigen mich zurzeit ein paar andere Dinge. Und eine Freundin zu finden, gehört ganz bestimmt nicht dazu.

Doch in einer Sache hat Aiden recht. Brinna sieht wirklich müde aus.

„Ich sorge dafür, dass sie etwas Schlaf bekommt“, sage ich und gehe bereits auf sie zu.

Als ich sie leicht an der Schulter berühre, hebt sie ihren traurigen und erschöpften Blick zu mir. „Gehen wir nach Hause?“

Ich nicke.

„Okay. Ich will mich nur noch kurz von ihm verabschieden.“ Ihr Seufzen zieht durch den Raum, als sie langsam auf den Retriever zugeht. Vor ihm hockt sie sich hin, ein Arm auf dem Tisch und ihr Kinn darauf gestützt, und fängt an, ihm das Fell hinter seinem rechten Ohr zu kraulen. „Pass auf dich auf, mein Kleiner“, flüstert sie ihm zu.

„Ich fahre euch heim“, bietet David an, während ich Brinna immer noch still von der Tür aus beobachte.

Das ist nett von ihm, doch nicht notwendig. „Danke. Aber du solltest hier bei Aiden und eurem Hund bleiben. Ich werde uns ein Taxi rufen.“

„Kommt gar nicht in Frage“, protestiert nun Aiden. „Für alles, was ihr zwei heute getan habt, ist das doch das Mindeste. Ich bleibe bei Nibbie. David bringt euch nach Hause.“

Jede weitere Diskussion scheint zwecklos, also gebe ich mich geschlagen, jedoch hauptsächlich wegen Brinna. Es ist der schnellste und einfachste Weg, sie heim zu bringen. Als sie aus dem Behandlungszimmer kommt, lässt sie sich von Aiden in einer dicken Umarmung verschlingen. Dann verabschiedet sie sich auch noch vom Doc und ich schüttle ihnen die Hände.

David geht voraus. Wir steigen alle in den schwarzen Range Rover und zehn Minuten später verabschieden wir uns auch von ihm. Brinna winkt, bis die Rücklichter um die Ecke gebogen sind. Dann dreht sie sich zu mir und seufzt. „War eine lange Nacht, hm?“

Ich kann sehen, wie sehr sie versucht, ihren Tränen der Besorgnis und sicher auch der Erschöpfung zurückzuhalten. Es wird Zeit, dass die kleine Himbeere ins Bett kommt. Aus meiner Hosentasche ziehe ich den Schlüssel und lasse uns beide ins Gebäude.

Die Liftfahrt hoch in den vierten Stock ist still und schier endlos. Brinna, die mir gegenüber an der Spiegelwand lehnt, hat ihre Augen die ganze Zeit geschlossen. Ich hingegen kann nicht aufhören, sie anzusehen. Sie hat heute Nacht viel geweint und trotzdem ist ihr Gesicht immer noch lieblich und rein. Mir ist vorher gar nicht aufgefallen, dass sie kein Make-up trägt. Normalerweise sehen Mädchen, wenn sie weinen, immer aus wie Pandas, ihre Augen total verschmiert und schwarz. Brinna sieht aus wie ein kleines Mädchen, dass sich draußen beim Spielen das Knie aufgeschlagen hat. Absolut natürlich. Und wunderschön.

Der Aufzug hält an und die Türen verschwinden in den Wänden. Sie richtet sich auf und zieht die Mundwinkel ein bisschen nach oben, als sie meinen Blick auf ihr bemerkt. Nachdem sie ausgestiegen ist, folge ich ihr.

Immer noch schweigend schlendern wir den Gang entlang zu Apartment 403. Sie greift in ihre vorderen Hosentaschen, erst in die linke, dann in die rechte. Alles, was zum Vorschein kommt, sind aber nur zwanzig Dollar und ihr Handy. Ihr Gesicht wird gerade kreidebleich. Panisch durchsucht sie ihre hinteren Taschen und auch die ihrer Jacke, doch die Razzia bleibt erfolglos. Ein Wimmern, das zugleich ein halbes Stöhnen ist, bricht aus ihrer Kehle, als sie mit dem Kopf gegen die Tür schlägt. „Neeee-heeein! Ich hab meinen Schlüssel vergessen. Schon wieder.“

Ausgesperrt? Es gibt Schlimmeres im Leben. In ein paar Stunden sollte ihre Freundin ja wieder aus Grover Beach zurück sein und kann sie reinlassen. Und bis dahin kommt sie einfach mit zu mir.

Ich nehme ihre Hand und als sie komplett verloren zu mir hochsieht, nicke ich nur mit einem Lächeln zu meiner Tür. Gerade so als würde sie meinem Angebot nicht hundertprozentig trauen, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Daher ziehe ich sie sanft den Gang entlang zu mir nach Hause.

Scheu wie ein Reh betritt sie mein Apartment. Ihr Blick schweift von einem Ende zum anderen. Es ist okay, will ich ihr sagen. Stattdessen helfe ich ihr aus der Jacke. In diesem Moment verfluche ich Laws gottverdammte Wette, weil ich nichts zu ihr sagen kann. Eine Hand leicht in ihr Kreuz gelegt, führe ich sie ins Wohnzimmer und biete ihr mit einem Schwenk meines Arms einen Platz an.

Still zieht sie ihre Stiefel aus und setzt sich auf die weiße Ledercouch. Ich kicke meine Schuhe in die Ecke und gehe dann in die Küche, um ihr etwas zu trinken zu holen. Hm. Ein Bier ist nicht ihr Stil und ein Dr. Pepper würde sie nur den Rest der Nacht wachhalten. Wasser? Ja, vielleicht. Andererseits hat sie ein paar harte Stunden hinter sich, da scheint eine Tasse heiße Schokolade das Beste zu sein.

Ich erwärme die Milch in der Mikrowelle und schütte dann einen großzügigen Spritzer Schokosirup in den heißen Becher. Lieber noch einen zweiten. Als ich ins Wohnzimmer zurückkomme, sitzt Brinna zusammengekauert auf der Couch, klein und zierlich. Sie hat ihre Knie angezogen und mit den Armen umschlungen. Ich setze mich auf den Couchtisch vor ihr hin und drücke ihr die Tasse in die Hand. Nach einem Schniefen und Schlucken legt sie ihre Finger darum. Das Kinn auf die Knie gelegt und den Blick gesenkt, beobachtet sie den strudelnden Kakao im Becher. Ich greife nach der Decke hinter ihr, damit ich sie ihr um die Schultern hängen kann. Hoffentlich reicht das für den Moment, denn ich muss jetzt wirklich dringend unter die Dusche.

Mit dem Fingerknöchel streife ich zärtlich über ihre Nase, stehe dann auf, hole mir ein paar Sachen aus dem Kleiderschrank und gehe ins Bad. Es tut gut, endlich den Gestank der Party abzuwaschen, und auch den der Tierklinik. Als ich aus der Kabine steige und mich abtrockne, überlege ich kurz, ob ich Brinna auch anbieten soll, sich hier zu duschen. Sie kann ja zum Schlafen ein T-Shirt von mir anziehen, wenn sie will.

Mit noch triefenden Haaren schlüpfe ich in eine dunkelgraue Jogginghose und rubble mir die letzten paar Tropfen von meiner nackten Brust, ehe ich wieder aus dem Badezimmer komme. In der Tür bleibe ich stehen. Ein kleines Lächeln zupft an meinen Mundwinkeln. Die halbleere Tasse steht auf dem Couchtisch, daneben liegen zwei glitzernde Haargummibänder. Brinna ist umgekippt und schläft bereits.

Ich habe nicht vor, sie zu wecken. Die Dusche kann auch bis morgen warten. Aber auf der unbequemen Couch wird sie garantiert nicht die Nacht verbringen. Mit leisen Schritten gehe ich auf sie zu, ziehe die Decke beiseite und schiebe meine Hände unter sie. Ein kleines Stöhnen entweicht der Himbeere, als ich sie behutsam hochhebe. Sie ist so leicht, wie sie aussieht; das Gewicht einer Elfe. Brinna blinzelt verschlafen. Sie blickt mir ins Gesicht, sieht mein Lächeln … und ich habe keine Ahnung, was gerade in ihrem Kopf vorgeht, weil sie einfach wieder ihre Augen zumacht.

Das ist echt irritierend. Ich weiß nicht wieso, aber ein kleiner Teil von mir hatte gehofft, sie würde etwas sagen. Nur noch ein paar Worte heute Nacht. Aber die gewährt sie mir nicht.

Allerdings kommen ihre Arme nach oben, legen sich um meinen Nacken und sie drückt ihre Wange an meine Schulter. Jap, das ist eine akzeptable Entschädigung für ihr Schweigen.

Ich halte sie fest an meine Brust gepresst und trage sie durch mein Studioapartment rüber zum Bett. Ihre offenen Haare fächern auf dem weißen Kissen aus wie rosa Wackelpeter, als ich sie hinlege. Ihre Arme rutschen von meinen Schultern und sie rollt sich zu einem niedlichen Ball zusammen.

Ich decke sie zu, damit sie sich geborgen und beschützt fühlen kann. Dann gehe ich um das große Bett herum, drehe das Licht ab und lege mich neben sie. Es ist noch immer ziemlich warm in meinem Apartment und da ich sowieso kaum jemals unter der Decke schlafe, stört es mich auch heute nicht. Brinna kann sie ganz für sich allein haben.

Nur langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich betrachte ihr Gesicht im Mondlicht, das durchs Fenster hereinfällt. Eine Haarsträhne liegt quer über ihrem linken Auge und ihrer Nase. Mit der Fingerspitze streife ich sie vorsichtig nach hinten und verankere sie hinter ihrem Ohr.

„Danke“, murmelt Brinna so leise im Schlaf, dass es nicht mehr ist, als der Flügelschlag einer Taube. Ob es dafür ist, dass ich ihr die Strähne weggewischt, sie mit in meine Wohnung genommen habe oder sie in meinem Bett schlafen darf, weiß ich nicht. Aber nur zu gerne würde ich zurückflüstern: Gern geschehen.

Kapitel 11

Brinna

Es gibt da dieses unverkennbare Gefühl, wenn man von jemandem beobachtet wird. Das ist, als ob deren Blick über deine Haut streift und dich mit einer unwirklichen Berührung ganz sanft liebkosen würde. Gerade in diesem Moment holt mich genau so eine Wahrnehmung aus meinen Träumen.

Ich öffne die Augen und werde vom warmen Tageslicht geblendet, daher blinzle ich gleich ein paarmal hintereinander. Als meine Sicht klarer wird, rückt ein Kerl in einem schwarzen Hoodie in den Brennpunkt. Er liegt auf der Seite neben mir in diesem fremden Bett, den Ellbogen in das Kissen gestützt und den Kopf in der Hand.

Nach einem zutiefst zufriedenen Seufzen sage ich schließlich: „Guten Morgen“ zu Jace.

Seine Antwort ist ein Zucken seines rechten Mundwinkels. Okay, das heißt dann wohl, das Experiment ist noch nicht vorbei. Verdammt.

Vage erinnere ich mich daran, wie er mich gestern Nacht – oder vielleicht ist ‚heute Früh’ eine bessere Bezeichnung, denn es war schon fast vier Uhr – ins Bett getragen hat. „Wie spät ist es?“

Er hebt zwei Finger in einem V.

„Ah, nein! Ich habe den halben Tag verschlafen?“ Das Gesicht im Kissen vergraben, grummle ich. „Nächste Woche stehen zwei Tests bei mir an und ich sollte lernen, nicht hier faul herumliegen.“ Doch es war eine ziemlich raue Nacht und als wir heimgekommen sind, war ich einfach nur erschlagen. Zehn Stunden ungestörter Schlaf können wahre Wunder wirken.

Jace zieht sanft an meinen Haaren und ich blicke ihn zwischen dem pinken Vorhang, der mein Gesicht verschleiert, hindurch an. Er nickt zur Küche, dann steht er auf. Ich hebe den Kopf nur ein wenig und sehe ihm nach. So ein süßer Arsch in blauen Jeans. Er muss vorhin schon mal auf gewesen sein, denn das sind nicht die Sachen, die er gestern anhatte. Und dann packt mich plötzlich blanke Panik! Ich gucke rasch unter die Decke. Puh! Ich trage immer noch all meine Klamotten. „Danke, dass du mich nicht ausgezogen hast“, rufe ich Jace hinterher, der inzwischen zwei Tassen unter die Kaffeemaschine gestellt hat. Er dreht zwar seinen Kopf nicht zu mir, aber ein niedliches Grübchen erscheint trotzdem auf seiner Wange.

Ich lasse mir ein paar Minuten Zeit und inspiziere vom Bett aus erst einmal meine Umgebung, die in hellem Mittagslicht erstrahlt. Das ganze Apartment scheint eine einzige, riesige Einzimmerwohnung zu sein, wobei die weiße Ledercouch auf der anderen Seite den meisten Platz einnimmt, zusammen mit dem ganzen Video-Entertainment und dem großen Flachbildfernseher, der auch irgendwie als Raumteiler fungiert. Die Küche hat einen runden Esstisch für vier Personen und befindet sich in einer Nische, links in der Wohnung, während das Schlafzimmer auf einem etwa zehn Zentimeter hohen Podest liegt und alles in diesem Apartment überblickt. Fenster auf zwei Seiten lassen das warme Sonnenlicht herein. Es ist unglaublich gemütlich hier.

Ein Pfiff aus der Küche lenkt meine Aufmerksamkeit zurück zu Jace. Er hält zwei dampfende Becher hoch und nickt noch einmal, um mich heranzuwinken. Aber sein Bett ist so kuschelig warm und es riecht sooo gut. Ich mag noch nicht aufstehen. Mit einem Grinsen im Gesicht rutsche ich tiefer unter die Decke und kauere mich zusammen.

Jace stellt die Becher auf den Tisch, wo auch schon zwei Teller gedeckt sind, und stützt sich auf der hölzernen Platte ab. Dabei hebt er auffordernd eine Augenbraue.

„Ich mag dein Bett“, sage ich verspielt.

Amüsiert verzieht er den Mund zu einem halben Lächeln. Dann hebt er die Hand und krümmt einen Finger. Jap, da will mich wohl jemand zum Frühstück bei sich haben.

Glucksend schüttle ich den Kopf. Nur noch ein bisschen, um die Restwärme im Bett auszukosten.

Und dann kommt seine Geduld zu einem abrupten Ende. Seine Augen glitzern auf einmal ziemlich spitzbübisch, was mir ganz und gar nicht gefällt. Er umrundet den Tisch und kommt ans Fußende des Bettes. Bevor ich überhaupt weiß, wie mir geschieht, streckt er seitlich die Arme aus wie ein Adler und springt auf mich zu.

Ich kreische laut, rolle mich zur Seite und verwickle mich dabei gänzlich ungeschickt in der Bettdecke. Dann muss ich kichern, als Jace neben mir auf dem Bett landet und die Matratze unter uns zum Federn bringt. „Du bist komplett irre, weißt du das?“

Auf dem Bauch liegend und auf den Unterarmen abgestützt, funkelt er mich an. Aber seine Augen leuchten dabei vergnügt und ich weiß, er täuscht die Empörung nur vor und unterdrückt in Wahrheit ein Schmunzeln. Langsam zieht seine Zunge eine Spur über seine Unterlippe. Mist! Diesen Blick habe ich schon öfter bei Jungs gesehen. Er kommt immer, kurz bevor sie etwas Dummes und Gemeines tun, so wie dich unter Wasser zu tauchen oder dich ins Koma zu kitzeln. Als er sich hochdrückt und gemächlich mit einem flammenden Schimmer in den Augen auf mich zu krabbelt, wird mir klar, dass es das Letztere ist.

„Geh weg!“, quietsche ich nun lachend und halte meine Hände dabei schützend vor mich.

Er hält nicht an. Das gruselige Grinsen in seinem Gesicht wird anzüglich. Panik überkommt mich. Ich rutsche rückwärts, bis hinter mir kein Bett mehr ist und ich auf den Boden plumpse.

Mit einem Kicherschluckauf liege ich auf dem Rücken, gefangen in dieser verdammten Decke, die mich einfach nicht loslassen will. Über mir erscheint das Gesicht von Jace, der sich mit seinen langen Fingern an der Bettkante festhält. Er wackelt mit den Augenbrauen und ich lache mich kaputt.

„Ich bin gefangen!“, wimmere ich, als ich endlich wieder genug Luft in meinen Lungen zum Sprechen habe. „Hilfe!“

Er steigt vom Bett runter und streckt mir seine Hände entgegen. Nachdem er mich auf die Beine gezogen hat, springe ich ein paarmal, um mich aus dem Deckenwirrwarr zu befreien, und werfe sie anschließend zurück auf die Matratze. „Okay, du hast gewonnen. Lass uns frühstücken. Kann ich vorher nur noch schnell ins Bad?“

Sein ausgestreckter Arm leitet mich in Richtung der angelehnten Tür zu meiner Rechten. Ich beeile mich und taste drinnen die Wand neben dem Türrahmen nach dem Lichtschalter ab, dann schließe ich die Tür. Die Duschkabine links ist aus Milchglas. Die Toilette ist auf der anderen Seite und in der Mitte lächelt mich mein Spiegelbild über einem netten cremefarbenen Waschbecken an.

Ich gehe schnell aufs Klo und wasche mir danach die Hände und das Gesicht. Das flauschige graue Handtuch, das neben dem Unterschrank an einem Haken hängt, riecht nach Wiesenblumen. Ich rubble mir das Gesicht trocken und schiele dann drumherum in den Spiegel. Meine Haare sind ein Biberbau. Hexen sehen am Morgen wahrscheinlich besser aus als ich. Geschickt flechte ich den Wirrwarr zu einem Zopf und fahre mir dann so lange mit den Fingern durch die Stirnfransen, bis sie wenigstens einigermaßen passabel aussehen. Dabei bemerke ich die blaue Zahnbürste in dem Glas neben dem Wasserhahn.

Hinter verschlossenen Lippen streift meine Zunge über die Zähne. Ich kann den lästigen Zahnbelag darauf spüren. Normalerweise ist Zähneputzen das Erste, was ich nach dem Aufstehen mache. Ich könnte jetzt heimgehen und sie mir dort putzen. Chloe sollte schon zu Hause sein und kann mich reinlassen. Aber Jace will gemeinsam frühstücken, darum werfe ich der Zahnbürste einen flirtenden Blick zu. Sie ist noch nass, er muss sie eben erst benutzt haben. Vielleicht kann ich sie mir ja borgen? Hm, würde ich einem Fremden meine Zahnbürste leihen? Ich bin mir da nicht so sicher. Andererseits ist Jason Rhode nach letzter Nacht vieles, aber sicher kein Fremder mehr. Ich meine, wir haben uns geküsst. Hätte ich die Schweinegrippe, hätte er sich sie jetzt sowieso auch eingefangen. Die sterilste Zahnbürste der Welt könnte daran nichts mehr ändern.

Ich drehe mich um, öffne die Tür einen Spalt und rufe laut: „Jace? Kann ich mir deine Zahnbürste leihen?“ Mit einem Kichern füge ich noch hinzu: „Sag einfach Nein, wenn du das nicht möchtest!“

Wie erwartet kommt nur Schweigen. Aus der Tube neben dem Glas drücke ich ein bisschen Minzzahnpasta auf den Bürstenkopf. Bei mir zu Hause steht an dieser Stelle Himbeerzahnpasta. Im Spiegel öffnet sich hinter mir die Tür und mein Blick verfängt sich mit dem des jungen Mannes, der im Türrahmen lehnt und dabei die Arme über der Brust verschränkt hat. Ich wirble zu Jace herum und grinse in sein amüsiertes Gesicht. „Okay, das war unfair“, gestehe ich und stelle die Tube wieder hinter mich auf die Marmor-Waschbeckenablage. „Wenn ich sie nicht benutzen soll, kannst du auch einfach den Kopf schütteln.“

Sekundenlang sieht er mir nur in die Augen. Ich spüre, wie die Spannung in mir zu brennen beginnt, und führe die Zahnbürste langsam hoch an meinen Mund. Er bewegt sich immer noch keinen Millimeter, doch das kleine Geheimnis ist gerade wieder in seinen Mundwinkel zurückgekehrt.

Da er mir praktisch grünes Licht gibt, öffne ich den Mund und steure die Zahnbürste langsam hinein. Wenn er es sich doch noch anders überlegt, ist jetzt seine letzte Chance, um sie mir aus der Hand zu reißen. Tut er aber nicht, also beiße ich auf den Plastikstil und grinse drum herum. Dann drehe ich mich wieder zum Waschbecken um und putze mir die Zähne, während ich Jace im Spiegel dabei beobachte, wie er mich beobachtet.

Erst als ich den Schaum ausspucke und meinen Mund ausspüle, verschwindet Jace. Eine Minute später folge ich ihm und finde den Tisch in der Küche mit Toast und verschiedenen Gläsern gedeckt vor. Mein Magenknurren macht mich darauf aufmerksam, dass ich knapp am Verhungern bin, doch zuvor hole ich noch die beiden Haargummis, die ich gestern auf dem Couchtisch liegen lassen habe. Mit einem befestige ich den Zopf, den ich mir noch einmal neu flechte, der andere kommt um mein Handgelenk. Dann nehme ich um 14:15 Uhr am Frühstückstisch Platz.

Vom Teller in der Mitte mopse ich mir eine Scheibe Toast. Butter und Erdbeermarmelade mag ich am liebsten darauf, aber Jace hat nur bittere Orangenmarmelade und Erdnussbutter da. Letzteres schmiert er gerade großzügig auf seinen eigenen Toast. Erdnussbutter schmeckt ekelhaft, also tunke ich meine Messerspitze vorsichtig ins Marmeladenglas und streiche ein wenig davon auf eine Ecke. Der Toast knirscht zwischen meinen Zähnen. Ooh, knusprig. Mag er so sein Frühstück gern? Ich bevorzuge es etwas weniger dunkel gebrannt, aber okay. Der bittere Geschmack der Orangenmarmelade rundet alles schön grausig ab. Jap, nicht unbedingt das beste Frühstück, das ich bisher hatte. Zumindest ist der Kaffee heiß und lecker. Er eignet sich hervorragend, um alles samt Geschmack runterzuspülen.

Zu Hause waren Sonntagvormittage immer die Zeit, wo meine kleine Schwester Sandra und ich mit meinen Eltern um den Frühstückstisch saßen und wir stundenlang geredet haben, auch noch lange, nachdem wir alle schon mit dem Essen fertig waren. Die Stille an diesem Tisch hier ist deprimierend. „Denkst du die OP ist ohne Komplikationen verlaufen und Nibs geht es gut?“, frage ich vor einem weiteren Bissen und diesmal schmiere ich vorher nichts auf meinen Toast.

Jace nickt voll Zuversicht und ich fühle mich dadurch wirklich ein wenig besser. Hoffentlich kann der kleine Nibbie bald wieder Tauben im Park jagen.

„Weißt du eigentlich“, murmle ich um einen Bissen in meinem Mund herum, „wie nervend es ist, dass du niemals sprichst? Ich meine, ich kann dir nicht einmal die einfachsten Fragen stellen, so wie …“ Ich zucke ratlos mit den Schultern. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“

Den Blick zu mir gerichtet, beißt er ein großes Stück von seinem Erdnussbuttertoast ab und klopft dabei mit dem Messer gegen das Marmeladenglas.

Ich runzle die Stirn. „Orange?“

Nach einem Schluck von seinem Kaffee nickt er und beißt noch mal in seinen Toast.

„Oh, cool.“ Das war ja leicht. Ich grinse. „Meine ist übrigens Blau.“

Jace hört auf zu essen und neigt den Kopf, wobei er mich a la „Jaa, geeenau!“ anstarrt.

„Was ist?“

Er lehnt sich über den Tisch, greift sich ein Büschel meiner Stirnfransen und kräuselt die Lippen, während er die Spitzen vor meine Augen hält.

„Okay, erwischt.“ Ich muss kichern. „Es ist Pink.“

Ein leichtes Grunzen ist seine Antwort, gerade als in seiner Hosentasche etwas ding macht. Er lässt meine Haare los, zieht das Handy raus, liest die Nachricht, blickt auf seine Armbanduhr und schreibt etwas zurück. Danach verschwindet das iPhone wieder in seiner Tasche.

Obwohl er nicht wirklich viel schneller isst als vorher, habe ich das Gefühl, er muss nachher vielleicht noch wohin, also beeile ich mich mit meinem Toast und Kaffee. „Chloe ist bestimmt schon zurück. Ich sollte langsam mal rübergehen und ihr sagen, dass ich noch am Leben bin.“

Als ob er vermutet, dass dies nur eine lahme Ausrede ist, wirft er mir einen verschrobenen Blick über die Schulter zu, als er aufsteht und zum Kühlschrank geht.

„Und außerdem muss ich heute noch lernen“, füge ich leise hinzu.

Er nimmt eine Flasche Orangensaft heraus und füllt ein Glas, dann krümmt er fragend eine Augenbraue und hebt die Flasche dabei hoch. Ich schüttle den Kopf. Kaffee reicht mir für den Moment und außerdem sollte ich wirklich langsam aufbrechen. Ich mampfe noch meinen Toast fertig und trinke die Tasse leer. In der Zwischenzeit bekommt Jace eine weitere Nachricht. Eine, weswegen er zu schmunzeln anfängt. Hm, was bringt einen Jungen denn dazu, sein Handy schief anzugrinsen? Und mit wem unterhält er sich da überhaupt? Auf dem Weg, mein Frühstücksgeschirr in die Spüle zu stellen, beobachte ich aus dem Augenwinkel, wie er noch einmal antwortet. Weil das Display immer noch hell leuchtet, als er das Handy auf die Theke legt und den Orangensaft wieder in den Kühlschrank stellt, schiele ich kurz mal darauf.

 

Vinnie

Kommst du in den Park? Skateboarden?

Jace

In einer Stunde. Ich habe einen Gast und will sie erst noch nach Hause bringen.

Vinnie

Du hast weiblichen Besuch? Alter, ich dachte, im Moment interessiert dich nur Brinna.

Jace

Es ist Brinna. 😉

Meine Kinnlade klappt nach unten. Die reden über mich? Agh, das ist also der Grund, warum er gegrinst hat. Dann umhüllt mich ein sanft prickelndes Gefühl, denn was Vinnie geschrieben hat, macht die Gedanken in meinem Kopf zu flauschiger, nutzloser Zuckerwatte. Es folgt ein weiteres Ding, worauf eine neue Nachricht erscheint und die ganze Unterhaltung um eine Zeile nach oben verschiebt. Ich würde sterben, um sie zu lesen. Nur leider überrascht mich Jace und schließt meinen Mund mit einem Finger unter meinem Kinn. Dann schnappt er sich das Handy und schiebt es in seine hintere Hosentasche. Er steht direkt vor mir und sein leicht rügender Blick ist das Heißeste, was ich je gesehen habe. Ein aufregender Schauer zischt über meinen Rücken.

„Tschuldigung“, brumme ich, den Kopf vor Verlegenheit gesenkt, die Augen aber immer noch auf sein Gesicht gerichtet. „Kommt nicht wieder vor.“

Augenrollend stößt Jace einen Seufzer aus, aber sein Lächeln verrät mir, dass er mir verziehen hat. Er geht zur Tür und schlüpft in ein paar weiße Adidas. Ich suche ebenfalls meine Stiefel und ziehe sie an. Meine Jacke baumelt am Haken, neben der Tür. Die hänge ich mir lediglich über den Arm. Als ich mich zu ihm drehe und mich für letzte Nacht und das Frühstück vorhin bedanken will, nimmt er aber nur meine Hand und führt mich raus in den Gang. Die Tür lässt er weit offen, während er mich rüber zu 403 begleitet. Ah ja – er hat Vinnie ja gesagt, dass er mich nach Hause begleiten will. Wahrscheinlich, um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich nicht länger vor verschlossener Tür warten muss.

Ich drücke auf die Klingel meines Apartments.

Einen Augenblick später rattert das Schloss und Chloe erscheint in der Tür. „Hey“, sagt sie gleich mal fröhlich zur Begrüßung, schießt aber noch ein ziemlich erstauntest „ihr … zwei!“ hinterher.

„Ja, hi. Das ist Jace.“ Ich werfe schnell einen Blick zu ihm. „Jace – Chloe.“ Dann wende ich mich wieder meiner Freundin zu. „Mach dir keine Mühe. Er spricht nicht mit Frauen.“

Gerade will ich meine Freundin wieder reinschieben, um ihr die ganze verrückte Geschichte zu erzählen, da schockt mich Jace, indem er ihre Hand nimmt und im charmantesten Ton meint: „Hi. Jason Rhode. Ich wohne am Ende des Gangs.“ Er nickt zu seinem Apartment und fügt hinzu: „Freut mich, dich endlich kennenzulernen.“

Mir ist, als hätte mir gerade ein Elefant auf den Kopf gekackt. Und wahrscheinlich schaue ich auch so drein, als ich Jace mit offenem Mund anglotze. Sein Blick, auf der anderen Seite, als er sich zu mir dreht, ist warm. Er blinzelt mit seinen funkelnden Haselnussaugen, dann stupst er meine Nase mit dem Finger an und geht einfach.

Der Blutstrom zwischen meinen Ohren ist betäubend. Klingt, als würde er mich gleich die Treppen runterschwemmen. Was. Zum. Henker?

„Jace?“, bringe ich gerade noch heiser hervor, ehe er sein Apartment erreicht. Er bleibt stehen, dreht sich aber nicht zu mir um. Mein Magen fährt eine Runde im Schleudergang. „Es ist eine Wette, nicht wahr?“

Seine Brust bläst sich sichtbar mit einem Seufzen auf, dann fallen seine Schultern wieder herab. Er steht einfach nur da, noch weitere zwei oder drei Wimpernschläge lang. Letztendlich gleitet sein trauriger Blick aber zu mir. Dieser spricht Bände. Dann geht er in seine Wohnung.

Ich starre immer noch auf seine geschlossene Tür, als Chloe mich mit hineinzieht und unsere Tür zuwirft. „Was zum Teufel hatte das denn bitte zu bedeuten? Hast du nicht gesagt, du kannst ihn nicht ausstehen, oder dass er merkwürdig ist, oder was auch immer?“ Sie schiebt mich zur Couch und plumpst dann mit fassungsloser Miene neben mich. „Und dann gehst du rüber zu ihm zum Mittagessen?“

„Ja, weißt du … Ich war da nicht wirklich zum Mittagessen.“ Ich räuspere mich und senke murmelnd den Kopf. „Irgendwie habe ich die Nacht bei ihm verbracht.“

Ich zucke zusammen, weil ihre Augen gerade aufspringen wie Popcorn. Plötzlich richtet sie sich auf und mustert mich ernsthaft. „Wann warst du zum letzten Mal bei einem Waxing? Und nimmst du noch die Pille? Verhütung ist nichts, was man den Jungs überlassen sollte.“

„Agh – Was?“ Meine Augen verkleinern sich zu vorwurfsvollen Schlitzen.

„Wann warst du denn das letzte Mal mit einem Jungen im Bett?“

„In der Highschool. Mit Brady Baker.“ Verdammt, warum erzähle ich ihr das überhaupt? Ich stöhne auf. Es geht sie rein gar nichts an, und abgesehen davon weiß sie es sowieso.

„Siehst du? Das war noch vor der Abschlussklasse.“ Sie tätschelt mir den Arm, den ich auf die Rückenlehne gelegt habe. „Es ist schon eine Weile her, seit du das letzte Mal mit einem Jungen zusammen warst, und du solltest vorbereitet sein. Ein One-Night-Stand ist so …“ Sie unterbricht sich selbst, weil ihr offenbar das richtige Wort nicht gleich einfällt. „… untypisch für dich.“

Ganz genau. Ich war noch nie der Typ Mädchen, der sich schnell mal für eine Nummer abschleppen lässt. Für mich kommt Sex immer mit Gefühlen und die können erst entstehen, wenn man jemanden besser kennt. Aber das ist hier nicht der Fall. Mit tiefem Gebrumme ziehe ich meinen Arm weg. „Ich habe nicht mit Jace geschlafen!“

„Nein? Was in aller Welt hast du dann die ganze Nacht und den halben Tag bei ihm gemacht?“

Jetzt sind es meine Gesichtszüge, die entgleisen. „Keine Ahnung. Vielleicht … geschlafen?“

Ein freudiges Funkeln tritt in ihre Augen. „Nackt, in seinem Bett?“

„Herrgott, Chloe!“, kreische ich, stoße mich hoch und stapfe in die Küche, wo ich mich dann planlos im Kreis drehe, denn jetzt da ich vor ihr geflohen bin, weiß ich gar nicht, was ich mit mir anfangen soll. „Ich werde diese Unterhaltung ganz sicher nicht mit dir führen.“

„Okaaaay … okay. Er hat dich also nicht nackt zu Gesicht bekommen.“ Wie ein nasses Handtuch hängt sie über der Couchlehne und fleht mich mit einem herzzerreißenden Hundebabyblick an: „Bitte, komm wieder her und erzähl mir, was passiert ist. Ich sterbe vor Neugier. Meine Therapiesitzungen ruinieren mir jeden Spaß am Wochenende.“

Grunzend verschränke ich die Arme vor der Brust, aber dann gehe ich doch zurück zur Couch, ziehe meine Stiefel aus und falte die Beine unter meinen Po. „Na schön. Alles begann mit diesem krassen Brettspiel und Flaschendrehen.“ In über zwanzig Minuten lasse ich die ganze Nacht für sie Revue passieren und verrate ihr dabei alle Einzelheiten und wunderlichen Details – von diesem seltsamen Kuss angefangen, über den Tanz, bis hin zur Rettung von Nibs und wie ich schließlich auf Jaces Couch gelandet bin. Ich erzähle ihr auch, dass Jace nicht mit mir redet und wie sehr ich mich doch geirrt habe, als ich annahm, es wäre ein harmloses Experiment, das alle Frauen mit einschließt.

„Du denkst, es ist eine Wette, in der es um dich geht?“, fragt sie am Ende meiner Schilderung, nachdem sie nun auch weiß, warum er mich vor einer halben Stunde bis vor die Wohnungstür begleitet hat.

„Was sollte es denn bitte sonst sein?“, murre ich.

Sie denkt kurz darüber nach und stimmt mir schließlich mit einem Nicken zu. „Und? Hassen wir ihn jetzt?“ Ihr Gesicht zerknittert. „Denn er scheint mir sehr charmant zu sein und so verliebt wie du jedes Mal dreinschaust, wenn du seinen Namen sagst, habe ich fast das Gefühl –“

Hallo?!“ In der nächsten Sekunde sitze ich kerzengerade da. „Ich schaue gar nicht verliebt!“

„Jaaa … das ist wohl Ansichtssache, schätze ich.“ Sie steht auf und holt sich eine Cola aus dem Kühlschrank. Als sie wieder vor mir sitzt und die Dose aufmacht, stehle ich ihr diese aus der Hand und nehme einen Schluck. „Oh, bitte bedien dich“, neckt sie mich und wartet geduldig auf ihr Getränk. „Kann ich dir sonst noch was holen? Ein Sandwich vielleicht, oder Kekse?“

„Nein danke, nicht nötig“, erwidere ich mit demselben Sarkasmus in der Stimme und gebe ihr die Cola zurück. „Und ja, natürlich hassen wir ihn jetzt!“

„In Ordnung“, stimmt sie feierlich zu. „Dann sag mir bitte nur noch mal schnell, warum wir ihn hassen. Weil er küssen kann wie ein Gott? Oder weil er dir um vier Uhr Früh heiße Schokolade gemacht hat, als du bei ihm übernachten durftest, weil du dich selbst ausgesperrt hast?“ Sie kichert, doch ich schieße nur einen Laserblick auf sie ab. „Nein warte, ich weiß! Es ist, weil er dich heute Morgen zum Frühstück eingeladen hat, stimmt’s?“

„Halt die Klappe, Summers!“ Ich ziehe den Haargummi von meinem Zopf und entwirre ihn, wobei mir wieder einfällt, dass ich ja dringend duschen sollte. „Wir hassen ihn, weil er mich zum Mittelpunkt einer dämlichen Wette gemacht hat.“

„Okay, ich verstehe schon, dass das auf den ersten Blick vielleicht nicht sehr nett aussieht. Andererseits kann es aber auch sehr schmeichelhaft sein. Wenn es unter den richtigen Umständen passiert, versteht sich. Worum geht’s denn in dieser Wette?“

„Worum es geht?“ Meine Augen werden weit genug, dass sie anfangen, auszutrocknen. „Stell dir vor, er hat’s mir nicht gesagt.“

„Ach Süße, du siehst das viel zu eng.“ Nachdem sie einen Schluck von der Cola genommen hat, grinst sie in die Öffnung. „Dann redet er halt nicht mit dir, na und? Wo liegt das Problem?“

„Du weißt ganz genau, was es zu bedeuten hat, wenn Jungs ein bestimmtes Mädchen für irgendwelche Wettzwecke aussuchen.“

Sie blinzelt. „Nein, weiß ich nicht. Was bedeutet es denn?“

Genervt werfe ich die Hände in die Luft. „Du tust gerade so, als hättest du noch nie einen Schnulzenfilm gesehen!“ Ein frustriertes Stöhnen entweicht mir. „Es bedeutet, dass er denkt, ich bin hässlich, oder dumm, oder…“, ich schnappe entsetzt nach Luft, „sozial komplett unbrauchbar. Er will mich verändern, aus welchem Grund auch immer.“

„Du? Sozial unbrauchbar?“ Chloe lacht nur. „Jetzt komm aber. Und kein Kerl auf der Welt könnte dich jemals für hässlich halten. Vielleicht hat er dich ja auch einfach nur ausgesucht, weil er dich mag und mit dir ausgehen will? Hast du daran schon mal gedacht?“

„Wenn es so wäre, warum zum Geier spricht er dann nicht mit mir?“

Ganz langsam ziehen sich ihre Mundwinkel auseinander. Immer weiter. Was auch immer gleich von ihr kommt, wird der Inbegriff von Bullshit sein. Sie sieht mich blöder an als die Grinsekatze und beißt in den Rand der Coladose, als sie dabei säuselt: „Frag ihn doch.“

Aaargh! Am liebsten will ich mit dem Kopf gegen die Wand laufen. „Du bist heute ja soo witzig. Hat dir der Doktor neue Pillen verschrieben?“

Immer noch grinsend streckt Chloe den Arm aus und verwuschelt mir die Stirnfransen. Sie weiß genau, wie sehr ich das hasse.

Mit einem Knurren in der Kehle stehe ich auf und stapfe ins Bad. „Und wir hassen ihn, weil ich es sage. Basta!“

Kapitel 12

Jace

Mein Kopf ist ständig einen Schritt voraus und meine Füße sind schneller als das Skateboard. Sie versuchen das Brett schon zu finden, bevor sich dieses komplett unter meinen Beinen gedreht hat. Scheiße, der Stunt ging daneben. Völlig aus dem Gleichgewicht stolpere ich zu Boden, stütze mich mit den Händen auf und rolle mich instinktiv über meine Schulter ab, um nicht mit dem Gesicht über den Asphalt zu radieren. Fuck! Mein rechter Ellbogen bekommt das meiste dieser Bruchlandung ab.

Als ich die Augen öffne, steht Killian über mir und streckt mir die Hand entgegen. „Hey, Kumpel, alles okay?“

Ich lasse mir von ihm hochhelfen und verbiege dann meinen Arm, um die Schramme zu inspizieren. Blut trieft aus der Wunde und läuft über meinen Unterarm. „Ja, ist nur ein Kratzer. Nichts passiert.“

„Ein Kratzer? Das sieht fies aus, Mann.“ Vinnie kommt auf seinem Skateboard angefahren und bleibt mit einem Bein am Brett und dem anderen am Boden vor uns stehen. „Was ist denn heute mit dir los? Drei Unfälle? Ich hab dich noch nie so oft an einem Tag fallen sehen.“

„Was weiß ich …“ Ich zucke mit den Schultern. „Lange Nacht? Zu wenig Schlaf?“ Viel zu viel Mädchen in meinem Kopf?

Ich nehme mein Board und gehe rüber zur Parkbank neben dem Skateplatz. Zeit für eine Pause. Ich habe bereits Schürfwunden an meiner Hüfte und beiden Schienbeinen – ich muss mir beim nächsten missglückten Stunt nicht unbedingt auch noch das Genick brechen.

Die Jungs folgen mir und Vinnie setzt sich neben mich auf die Rückenlehne der Bank. „Nein, das ist es nicht. Körperlich bist du zwar anwesend, aber geistig wohl kaum. Du brütest doch über etwas.“

Ich hebe den Blick zu ihm. „Tu ich nicht.“

„Wie eine Henne.“

„Ich brüte nicht“, knurre ich mit mehr Nachdruck.

„Auf einem Nest voll Eier.“ Vinnie grinst mich dämlich an, dann wird seine Miene aber bald wieder ernst. „Also, was genau ist gestern Nacht passiert, nachdem ihr zwei Turteltauben die Party verlassen habt? Und erzähl mir nicht wieder Bullshit, dass du dir um den Pudel Sorgen machst. Ich weiß, wie sehr du Hunde hasst.“

Er hat recht. Seit damals der Schäferhund am Ende unserer Straße zu Hause in Denver meine Wade für einen Gebissabdruck verwendet hat, mache ich um diese Biester lieber einen großen Bogen. Das heißt aber nicht, dass ich mich nicht um einen Hund kümmere, wenn er verletzt ist. Nur ist es wirklich nicht Nibs, der mich schon den ganzen Nachmittag beschäftigt und mich ablenkt. Nein, es ist Brinnas bestürzter Blick, als ich sie vor zwei Stunden bei ihr zu Hause abgeliefert habe.

„Brin hat das mit der Wette rausgefunden“, ächze ich schließlich. „Sie hat bei mir gepennt.“ Weil die Augen der Jungs aufblühen wie Blumen im Frühling, erkläre ich schnell: „Es ist nichts passiert! Außer, dass ich sie etwas besser kennengelernt habe. Und jetzt ist sie sauer.“

Es ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel, wie sie mir so schnell ans Herz wachsen konnte – in nur einer Nacht – doch ich will wirklich nicht, dass sie sich schlecht fühlt. Nicht wegen eines verletzten Hundes und ganz sicher nicht wegen etwas Bescheuertem, was ich getan habe. Ich weiß ja, wie sie darüber denkt, Mittelpunkt einer Wette zu sein. Das hat sie mir gestern in aller Deutlichkeit auf unserem Heimweg erklärt.

„Okay …“, raunt Killian und runzelt dabei die Stirn. Ein Bein auf die Bank gestellt, lehnt er sich mit dem Arm auf sein Knie. „Dann hat sie es eben rausgefunden, na und? Es bringt ein bisschen Würze ins Spiel, aber wir wussten doch alle, dass sie es früher oder später erraten wird. Ich bin überrascht, dass du dich davon so entmutigen lässt.“

„Das ist nicht das Problem.“ Oder vielleicht doch, ein wenig. Ich kann die Wette immer noch gewinnen, nur muss ich von hier an eben etwas mehr Einsatz zeigen und mir einen neuen Plan überlegen.

„Was treibt dich denn dann in diese wiederholten Selbstmordversuche auf deinem Board?“, will Vinnie wissen. „Die Tatsache, dass sie bei dir geschlafen hat und nichts zwischen euch passiert ist?“ Nun kichert er. „Das würde mich auch wahnsinnig machen.“

„Können wir bitte für einen Moment ernst bleiben?“, brumme ich. Zwei Frauen mit Kinderwagen kommen auf uns zu und ich warte, bis sie vorbeigegangen sind, ehe ich weiter rede. „Es fühlt sich einfach falsch an, so mit ihr zu spielen.“

„Aber vor drei Tagen, als Lawrence dich herausgefordert hat, fühlte es sich noch nicht falsch an.“ Es ist nicht wirklich eine Frage von Killian. Mehr ein Vorwurf.

„Nein“, gebe ich nun fast schon beschämt zu.

„Weil du sie da noch nicht gekannt hast.“

„Ja.“

„Aber jetzt, wo du sie besser kennst, hast du sie gern“, fällt ihm Vinnie ins Verhör und fügt noch als Nachzügler hinzu, „was ich wiederum total verstehen kann, weil es ziemlich leicht ist, ihrem natürlichen Charme zu verfallen, wenn man erst einmal ein paar Stunden mit ihr in einem Raum verbracht hat.“

„Brinna ist ein süßes Mädchen“, stimme ich zu. „Witzig und klug.“ Zerbrechlich und verletzlich. „Sie verdient einen Beschützer und keinen stummen Typen, der es nur auf drei bedeutungslose Küsse mit ihr abgesehen hat.“ Der Gedanke daran, dass ich ihr erster Kuss mit einem Fremden war, geht mir auch nicht mehr aus dem Kopf. Kommt dieses Privileg denn nicht auch mit einer gewissen Verantwortung?

„Ja, macht dich jetzt irgendwie zum Arschloch“, bringt Vinnie mein Dilemma lachend auf den Punkt.

Nach einem Moment in Gedanken, sehe ich hoch zu den Jungs. „Denkt ihr, Law würde mich rauslassen?“

Killians Augen werden schmal. „Du willst die Wette abblasen?“

„Mm-hm.“

„Na ja, du kannst ihn fragen“, meint Vinnie, „aber ich kann dir jetzt schon verraten, was er tun wird.“

„Sich krummlachen und mir sagen, ich soll mich ins Knie ficken?“, schlussfolgere ich leidenschaftslos.

„Jap. Und so hart das jetzt auch klingen mag, Kumpel“ – er wackelt mit den Augenbrauen – „ich werde sowas von mit ihm lachen und auf den Tag warten, an dem du als hübsche Maid auf die Bühne marschierst.“

„Herrjesus!“ Den Kopf in den Nacken gelegt, funkle ich verbissen in den Himmel. „Kann ich irgendwo anrufen und einen Antrag für ein paar neue Freunde stellen?“

„Nööö“, ziehen mich beide Jungs auf, dann meint Killian: „Für uns gibt’s kein Rückgaberecht. Du hängst mit uns fest, bis dass der Tod uns scheidet.“

Ich Glückspilz …

*

Kurz nachdem ich den Park und meine ach so hilfreichen Freunde verlassen habe, steige ich im vierten Stock aus dem Lift und mein Blick zoomt sofort zu Apartment 403. Ich zögere ein wenig. Leise Stimmen dringen von drinnen heraus. Brinna muss wohl zu Hause sein. Ich frage mich, ob ich anklopfen und mich entschuldigen soll, weil ich sie in diese Wette mit hineingezogen habe. Aber wie sagt man am besten Entschuldigung, ohne dabei etwas zu sagen?

Nein, keine gute Idee. Kopfschüttelnd gehe ich weiter in mein Apartment. Ich muss nur zusehen, dass ich diese Wette gewinne, und werde mich hinterher für alles entschuldigen, sobald meine Zungensperre aufgehoben ist. Wenn sie erst einmal hört, was für mich auf dem Spiel stand, wird sie es sicher verstehen. Und da sie komplett zufällig ausgewählt wurde – mehr oder weniger – braucht sie sich auch keine Sorgen zu machen, dass ich denke könnte, sie sei unhübsch oder was für einen Blödsinn sie sich gestern Nacht auch immer zusammengesponnen hat.

Es war lediglich ein Fall von: Zur falschen Zeit am falschen Ort.

Aber wie schaffe ich es jetzt, dem Kätzchen noch zwei weitere Küsse abzuluchsen? Der erste ist mir ja praktisch in den Schoß gefallen. Ich rechne nicht noch mal mit so viel Glück. Ihre letzten Worte und ihr desillusionierter Blick heute Nachmittag haben deutlich gezeigt, wie enttäuscht sie ist. Verflucht. Sie muss mir verzeihen, ehe das alles noch weitergeht. Mit den Fußspitzen streife ich mir die Schuhe ab und lasse mich auf die Couch fallen, wobei ich mir mit den Händen übers Gesicht reibe. Wenn ich sie jetzt küsse, kassiere ich dafür definitiv eine Ohrfeige, was wiederum die Wette schlagartig beendet … zu meinem Nachteil.

In meiner Hosentasche klingelt mein Telefon. Ich ziehe es heraus und lese seufzend: „P. H.“ Mein Boss aus dem Club ruft gerade an. Mit dem Daumen wische ich über den grünen Button und gehe ran. „Hey, Pax, was gibt’s?“

„Sorry wegen der Störung am Wochenende, Rhode, aber es ist dringend“, meint er und klingt dabei gestresst wie immer. Er mixt wohl gerade wieder Drinks hinter der Bar, während er das Handy zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt hat. So rennt er fast ständig rum, wenn wir gemeinsam Schicht haben. „Ich habe gerade eine Reservierung für die VIP Lounge am Samstag reinbekommen. Etwa eine Million Leute, so wie sich die Kleine am Telefon angehört hat. Könntest du mir für ein oder zwei Stunden aushelfen? Dafür kannst du den Rest der Woche freinehmen.“

Paxton Hall ist die Definition von: Mehr Glück als Verstand. Er ist kaum zwei Jahre älter als ich, hat nach dem ersten Jahr das College geschmissen und diese echt coole und gleichzeitig elegante Cocktailbar nur vier Blocks von hier entfernt aufgemacht. Zwei Monatsgehälter eines Cateringjobs waren sein ganzes Startkapital. Nach nicht mal einem Jahr hat er bereits so viel verdient, um nicht nur all seine Schulden bei der Bank bezahlen zu können, nein, nach allem, was ich gehört habe, fährt er jetzt sogar einen Porsche.

„Klar, kein Problem.“ Natürlich weiß ich, dass es an einem Samstag niemals bei den ein oder zwei Stunden bleiben wird. Eher wird es von acht Uhr abends bis drei Uhr früh dauern. Zwei Tage frei dafür ist aber ein guter Deal. Und an Wochenenden zahlt er immer doppelt.

„Cool, danke! Dann sehen wir uns nächsten Samstag.“ Nachdem er aufgelegt hat, lasse ich mein Handy neben mich auf die Couch fallen.

Die roten Striemen an meinen Fingern erinnern mich an die dummen Patzer, die ich mir heute im Park geleistet habe. Ich gehe ins Bad, um das eingetrocknete Blut abzuwaschen. Unter der heißen Dusche, fange ich an, eine Melodie zu summen, die seltsamerweise schon den ganzen Tag in meinem Kopf steckt.

Hinterher beim Abtrocknen singe ich leise ein paar Zeilen davon. Zumindest die, die mir im Gedächtnis geblieben sind. „Rest your head close to my heart…never to part…baby of mine…“

Mein Blick bleibt an der blauen Zahnbürste neben dem Waschbecken hängen. Der Gedanke daran, dass sie vor kurzem in Brinnas Mund war, entlockt mir ein Lächeln und mein Gesang verstummt.

Wieder kommt der Wunsch in mir hoch, zu ihr rüberzugehen, als ich gerade in ein schwarzes Hemd mit kurzen Ärmeln schlüpfe. Ich lasse es offen, ziehe mir ein Paar hellblaue Jeans an und schnalle mir meine Armbanduhr um. Es ist halb acht. Nicht zu spät für einen kurzen Besuch.

Ah, was soll’s? Ich pfeife auf Socken und Schuhe und gehe barfuß in den Gang raus, ehe ich es mir noch einmal anders überlegen kann. Vor Apartment 403 hebe ich die Hand, um zu klopfen. Wenn Brinna nicht versteht, was ich von ihr will, werfe ich mich einfach vor ihr auf die Knie, um meinen Standpunkt klarzumachen. Oder …

Mein Arm sinkt ab. Vielleicht ist es eine bessere Idee, sie erst mal eine Nacht drüber schlafen zu lassen, damit sie wieder runterkommt.

Morgen ist Schule. Wir haben denselben Weg und ich habe mir ja bereits vorgenommen, sie in der Früh zu erwischen, damit wir gemeinsam gehen können. Jap, das ist perfekt. Dann kann ich mich entschuldigen.

Voll neuem Optimismus kehre ich in meine Wohnung zurück und schließe die Tür. Keine weiteren überstürzten Handlungen mit der Himbeere mehr. Von jetzt an wird jeder Schritt sorgfältig geplant.

*

Die Gegensprechanlage klingelt. Das muss Rick sein. Verdammt, heute Morgen bin ich viel zu spät dran. Gestern Abend habe ich ihm noch geschrieben, dass er heute zehn Minuten früher kommen soll, damit wir Brinna und ihre Freundin nicht verpassen. Und dann ist über Nacht mein Akku ausgefallen, wodurch ich keinen Wecker hatte, der mich rechtzeitig aus dem Bett gekickt hätte.

Ich drücke auf den blauen Knopf und rufe in den Apparat: „Zwei Minuten!“

Auf ein Frühstück und meine morgendliche Dusche verzichte ich heute und knöpfe mir das schwarze Hemd zu, während ich mir gleichzeitig die Zähne putze, was wohl das Dümmste ist, was ich tun kann. Es kommt dabei nur ein Staccato-Wechsel zwischen putzen und an den Knöpfen fummeln raus, was mir am Ende überhaupt keine Zeit erspart. Ich spucke den Minzschaum aus, spüle mir den Mund aus und schlüpfe dann in meine Adidas, ehe ich mir noch ein wenig Deo unters Shirt sprühe und die Wohnung verlasse – nur um vor dem Lift noch einmal kehrt zu machen, weil ich nämlich meinen Rucksack vergessen habe.

Im Nachhinein betrachtet mag das vielleicht sogar mein Glück gewesen sein, denn als ich zum zweiten Mal aus meinem Apartment komme, zieht Brinna gerade die Tür von 403 hinter sich zu. Beide Mädchen drehen sich zu mir, als ich meine eigene Tür laut genug schließe, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Chloe hat ein Lächeln für mich zur Begrüßung parat und sieht aus, als würde sie auf mich warten. Brinna hingegen packt sie an ihrem Sweater und zieht sie mürrisch zum Fahrstuhl.

Ihr schwarzes Trägerkleid, worunter sie ein violettes T-Shirt anhat, schwingt beim Gehen um ihre Knie und lässt sie viel jünger aussehen, als sie tatsächlich ist, besonders, da sie heute die Haare wieder in diesen zwei Pferdeschwänzen trägt. Schwarze Kniestrümpfe und kirschrote Doc Martens verleihen ihr einen Hauch von mädchenhaftem Widerstand, was seltsam anziehend auf mich wirkt. Ich kann nur auf ihr Hinterteil glotzen, während sie so offensichtlich vor mir flüchtet.

Weil sich die Türen des uralten Lifts genauso langsam schließen, wie er fährt, muss ich mich nicht einmal beeilen. Ich spaziere gemütlich den Gang runter und erwische problemlos eine Mitfahrgelegenheit mit den beiden. Brinna lehnt sich an die verspiegelte Wand auf einer Seite. Absichtlich stelle ich mich ihr gegenüber an die andere und lasse meinen Rucksack auf den Boden zwischen meine Beine fallen. Früher oder später wird sie mich ansehen müssen.

Oder auch nicht.

Sie brummt zwar leise, weil ihr meine Provokation keinesfalls entgeht, dreht sich dann aber zur Tür und sieht zu, wie das Licht langsam durch die Etagennummern springt. Verdammt. Eine ganze Nacht war offenbar noch zu wenig, um das Kätzchen zu besänftigen.

Ein Seufzen kommt über meine Lippen, dann wandern meine Augen langsam nach links, denn ich kann Chloes Blick auf mir spüren. Sie macht keinen Hehl daraus, mich abzuchecken … vom Scheitel bis runter zu meinen abgetragenen Schuhen. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich das jetzt interpretieren soll, aber es stellen sich auf jeden Fall meine kleinen Nackenhärchen dabei auf, als wäre mein kleines Geheimnis kurz davor, gelüftet zu werden.

Die ganze Zeit über bewege ich mich keinen Zentimeter und beobachte Chloe aus dem Augenwinkel. Das ist echt merkwürdig. Beinahe bedrohlich. Als wir am ersten Stockwerk vorbeifahren, schüttelt sie plötzlich den Kopf und schnalzt mit der Zunge. Jetzt drehe ich mich wirklich zu ihr. Chloe blinzelt ein paarmal und verzieht den Mund zu einem enttäuschten Schmollen. „Es ist echt schade, dass wir dich hassen müssen. Ganz ehrlich.“

Der Lift bleibt stehen und die Türen fahren auseinander. Chloe stakst an mir vorbei. Brinna folgt ihr mit einem erneuten, genervten Brummen und ohne weiteren Blick zu mir. Und ich stehe nur wie angewurzelt da und denk mir: What the fuck?

Erst als die Türen sich wieder langsam schließen, packe ich meinen Rucksack, hänge ihn mir über die Schultern und gehe ihnen nach.

Draußen, im warmen San Francisco Morgen, bleibe ich ruckartig stehen, als wäre ich in eine unsichtbare Wand gelaufen. „Vinnie!“, platze ich nur statt einer ordentlichen Begrüßung heraus. Weil heute beide Jungs, er und Rick gekommen sind und sich gerade mit den Mädchen unterhalten, kneife ich die Augen zu skeptischen Schlitzen zusammen. „Ist was mit deinem Rad?“

Normalerweise fährt Vinnie immer mit seinem Mountainbike zur Schule, während Rick jeden Morgen zu mir spaziert und von hier aus weiter mit mir auf dem Motorrad fährt. Er meinte, es macht ihm nichts aus, die ganze Strecke zu laufen, solange mein Bike in der Werkstatt ist.

„Ja, platter Vorderreifen.“ Vinnie grinst mir ins Gesicht und ich weiß genau, dass es eine gottverdammte Lüge ist. Er ist nur hier, weil Rick ihm von meinem Plan erzählt hat, die Mädchen heute auf dem Schulweg zu begleiten. Da konnte er natürlich nicht darauf verzichten, sich das Ganze aus der ersten Reihe anzusehen.

„Aha.“

Meine Missstimmung ignoriert er einfach und nimmt es gleich selbst in die Hand, sich bei Chloe vorzustellen. Anders als ich scheint sie begeistert zu sein, ein neues Gesicht hier zu finden.

Rick schüttelt eine Marlboro aus der Packung, steckt sie sich in den Mund und zündet sie an. „Sollen wir dann?“, wirft er in die Runde.

Meinetwegen gern. Ich werfe Brinna einen auffordernden Blick zu, schiebe dabei die Hände in die Hosentaschen und schicke noch ein warmes Lächeln hinterher. Was auch immer das jedoch bei ihr auslöst, ist nicht das, was ich mir erhofft hatte.

„Geht ihr schon mal vor“, fordert sie uns auf und schlingt ihre Hand durch Chloes Arm, um sie zurückzuhalten. „Wir müssen leider noch mal hoch in unser Apartment. Ich habe meinen Schlüssel vergessen.“ Ihre Entschuldigung ist an Vinnie und Rick gerichtet. Mich ignoriert sie dabei komplett.

Chloe dreht sich mit skeptischem Blick zu ihr und erwidert: „Wovon redest du bitte? Du hast deinen Schlüssel.“

„Nein, hab ich nicht.“ Als Brinna blinzelt und dabei durch zusammengebissene Zähne spricht, ist uns allen klar, dass sie nur versucht, Zeit zu schinden, weil sie die nächsten fünfzehn Minuten nicht mit mir verbringen will. Meine Mundwinkel sacken ab, genauso wie meine Schultern.

„Doch, hast du. Er ist in der Innentasche deines Rucksacks. Ich habe gesehen, wie du ihn da reingesteckt hast, bevor wir gegangen sind.“

Brin ist ein verdammt süßes Mädchen, aber sie ist mit Abstand die schlechteste Lügnerin der Welt. Und mit so einer Freundin wie Chloe, die gerade so gar nicht auf ihrer Seite steht, ist sie ganz klar geschlagen. Na ja, zumindest hatte ich das gehofft.

„Das hast du dir nur eingebildet.“ Ihre Stimme ist inzwischen ein befehlendes Knurren. Mit einem Ruck am Arm, bringt sie Chloe zum Stolpern und zieht sie zurück ins Haus. „Macht’s gut, Jungs“, ruft sie über ihre Schulter, bevor sie verschwinden.

Sobald wir alleine hier draußen stehen, kugeln sich meine Freunde vor Lachen. „Fuck, Alter!“, meint Vinnie. „Hat sie dich gerade entsorgt wie den Müll von gestern?“

„Ja …“, jammere ich, immer noch mit ungläubigem Blick auf die geschlossene Tür. „Das ist so …“ Ärgerlich wäre jetzt die Untertreibung des Jahrhunderts.

„Bitter?“, beendet Rick den Satz für mich und erfreut sich dabei ein bisschen allzu sehr an meiner Misere. Aber er hat absolut recht. Er klopft mir auf die Schulter, dann gehen wir los.

Immer noch unter Schock schiele ich zurück und verziehe das Gesicht. Niemand kommt aus dem Gebäude raus. Ein Gefühl der Enttäuschung drückt sich in meine Brust. „Sie hätte sich keine Ausrede einfallen lassen müssen, wenn sie nicht mit uns gehen will.“

„Mann, es muss echt scheiße sein, in deiner Haut zu stecken.“ Vinnie schmunzelt dabei. „Macht’s dir was aus, wenn du ein paar Schritte hinter uns gehst?“

Mein Kopf schnellt zu ihm herum. „Was?“

„Ja, sorry, aber wir können leider nicht mehr mit dir abhängen. Du verscheuchst die Mädchen.“

Knurrend schubse ich ihn hart gegen die Schulter. Er benutzt Rick, um die Balance zu halten und auch, um vor Lachen nicht umzukippen. Ich muss ihn an der nächsten Kreuzung wohl leider vor einen fahrenden Bus stoßen. „Anstatt hier ein kompletter Arsch zu sein“, maule ich, „warum sagst du mir nicht lieber, was ich tun kann, um sie zu beschwichtigen?“

„Warum ist es für dich gleich noch mal so wichtig, dass sie dir vergibt?“, zieht mich Vinnie auf. „Wegen der Wette, oder weil du sie gern hast?“

Okay, die Unterhaltung gestern im Park war wohl nicht unbedingt mein klügster Schachzug. Ich mustere sie beide mit ernstem Blick. „Ich bin am Arsch, wenn sie mich weiter hasst.“

Rick pustet eine Säule Rauch aus und zieht dabei amüsiert eine Braue hoch. „Zumindest wirst du dann bald Männerhände an deinem Arsch haben. Auf der Bühne. Und du wirst dabei Reizwäsche tragen.“

Uff. Ich reibe mir übers Gesicht. „Das ist meine Zukunft auf den Punkt gebracht.“

„Nein, jetzt mal ernsthaft“, sagt Vinnie, nachdem er sich endlich wieder eingekriegt hat. „Mach irgendwas Romantisches.“ Seine Augen gehen strahlend auf, als hätte er gerade die Erleuchtung. „Sing ihr ein Liebeslied.“

„Geeenau.“ Mein Blick hat im Moment mit Sicherheit den gleichen Effekt wie ein Schlag auf seinen Hinterkopf. „Und du denkst nicht, dass Lawrence das vielleicht als – oh, ich weiß nicht – Form des Redens ansehen könnte?!“

„Oh. Verdammt.“

Ein lautes Stöhnen bricht aus meiner Kehle und nicht nur, weil ich mit Brinna vor einer Wand stehe. Auch weil ich hier offenbar mit Kanadas morgendlichem Auswurf an Einfallslosigkeit gestraft bin. Aber zumindest ist seine Idee mit der romantischen Entschuldigung nicht vollkommen nutzlos. „Vielleicht sollte ich ihr einfach Blumen kaufen?“, grüble ich laut vor mich hin, als wir an einem Floristen auf der Market Street vorbeikommen, und ich recke meinen Hals, um das Schaufenster zu inspizieren.

„Gute Idee“, stimmt mir Rick zu, lässt die Kippe fallen und tritt sie mit dem Schuh aus. „Vielleicht ja eine rote Rose.“

Grinsend wackle ich mit den Augenbrauen. „Oder eine in Pink.“

„Siehst du? Das ist der Rhode-Charme“, meint Vinnie frech. „Willkommen zurück in unserer Mitte.“

Aus meiner Tasche ziehe ich die Tic Tacs und schütte mir ein paar in den Mund. „Hoffentlich funktioniert’s auch. Ich muss sie unbedingt zurückgewinnen.“

Die Jungs drehen sich zu mir und sehen mich neugierig an.

„Was?“, grummle ich um die Orangenspucke auf meiner Zunge herum.

Beide starren mich noch ein paar Sekunden länger an, was mir langsam ein wenig auf die Nerven geht. Vinnie ist schließlich derjenige, der meint: „Und hier ist noch einmal die Hunderttausenddollarfrage.“ Ein Grinsen kommt über sein Gesicht. „Wegen der Wette … oder weil du sie gern hast?“

Fuck. Darauf habe ich keine Antwort.

Kapitel 13

Brinna

„Was stimmt denn mit dir nicht?“, protestiert Chloe mit einem ungläubigen Kichern, als ich sie hinter mir her in den Lift ziehe und genervt auf den Knopf für das zweite Stockwerk drücke.

Ich wirble herum. „Was stimmt mit dir nicht? Wird das jetzt zur Gewohnheit, dass du mir vor Jace in den Rücken fällst?“

„Wenn dadurch die Chance besteht, dass ein bisschen mehr Action in dein Liebesleben kommt, dann ja, wahrscheinlich.“ Unverhohlen lacht sie mich aus und drückt auf E für Erdgeschoss, sobald der Lift im zweiten Stock angehalten hat. „Du warst ziemlich gemein. Sie wollten doch nichts weiter, als uns zur Schule begleiten. Hast du nicht bemerkt, wie verzweifelt Jace dich angebettelt hat, mitzukommen? Ich wollte ihn am liebsten knuddeln und ihm versichern, dass alles gut wird.“

Der Fahrstuhl hält unten an und die Türen gehen auf, doch ich drücke schnell auf den Knopf für die dritte Etage und blockiere den Ausgang, Arme und Beine weit ausgestreckt. Sie kann ja versuchen, mich wegzuschieben, aber durch diese Tür kommt sie nur über meine Leiche. „Wir gehen da jetzt nicht raus. Unter keinen Umständen dackle ich den ganzen Schulweg neben dem Kerl her, der mich zum Objekt einer dämlichen Wette gemacht hat.“

Chloe lehnt sich an die Spiegelwand und verschränkt ihre Arme, wobei sie mich mit einem tiefen, aber dennoch amüsierten Stirnrunzeln mustert, als wir wieder hochfahren. „Du bist so langweilig, weißt du das? Warum versuchst du nicht einfach herauszufinden, worum es in der Wette überhaupt geht? Schnüffle ein bisschen rum, provoziere ihn. Es könnte Spaß machen.“

„Das werde ich sicher nicht tun.“

„Warum nicht?“

Wir sind schon wieder auf dem Weg nach unten, weil keiner von uns im dritten Stock ausgestiegen ist und offenbar jemand im Erdgeschoss den Lift gerufen hat. Schmollend starre ich auf das Licht, das langsam wieder durch die Knöpfe nach unten hüpft. „Weil er doof ist.“

„Aber niedlich.“

Das ist ihr Argument? Entrüstet werfe ich ihr einen düsteren Blick aus dem Augenwinkel zu.

„Komm schon, sag es!“ Sie knufft mich in die Seite und kichert. „Er ist niedlich. Du weißt es, ich weiß es“ – sie wirft die Arme in die Höhe – „die ganze Stadt weiß es! Du hättest ihn wohl kaum geküsst, wenn es nicht so wäre.“

„Er hat mir den Kuss in einem saublöden Spiel aufgedrängt.“

„Du hast gesagt, du hättest ihn beinahe ein zweites Mal geküsst. Beim Tanzen. War der Kuss dann auch aufgedrängt?“

Ein Brummen kommt aus meiner Kehle. Der Lift hält wieder im Erdgeschoss an und diesmal steigen wir beide aus. Eine grauhaarige Frau mit Einkaufskorb grüßt uns, als sie Platz macht, damit wir aussteigen können, ehe sie selbst in den Lift steigt.

Chloe nickt der Lady hinterher und fragt mich: „Sind wir jetzt fertig, oder willst du noch mal hochfahren?“

Die Jungs haben inzwischen bestimmt genug Vorsprung. „Wir sind fertig. Außerdem muss ich noch in das Café und mir einen Joghurt holen. Los, gehen wir.“

Den halben Block spazieren wir schweigend nebeneinander her, doch an der ersten Kreuzung schlingt Chloe ihren Arm durch meinen und neckt mich: „Sagst du es jetzt endlich?“

„Sage ich was endlich?“

„Dass Jason Rhode niedlich ist.“

„Okaaaay. Ich denke, er ist wirklich, wirklich bescheuert.“ Genervt schnalze ich mit der Zunge, verdrehe die Augen und setze noch ein theatralisches Seufzen obendrauf. „Und vielleicht ein ganz kleines bisschen süß.“

„Total süß.“

„Na schön.“

„Genug, um ihm zu vergeben?“

„Genug, um ihn nicht mit seinem eigenen Gürtel zu erwürgen“, mache ich ein zuckersüßes Friedensangebot, damit wir diese hirnrissige Unterhaltung endlich beenden können. Weil aber meine Gedanken im nächsten Augenblick zu gestern Nachmittag abschweifen, als er mich praktisch nur mit einem starren Blick herausgefordert hat, seine Zahnbürste zu benutzen, zupft ein Lächeln verbissen an meinen Lippen. Okay, er ist nicht komplett bescheuert. Und vielleicht ist er auch ein bisschen niedlicher, als ich bereit bin, laut zuzugeben.

Wir erreichen Mosby’s Coffee ’n Cake und ich versichere Chloe, dass ich in einer Minute zurück bin. Das Café ist genauso leer, wie bei meinem letzten Besuch hier. Soll mich nicht stören. Dadurch muss ich wenigstens nicht lange in der Schlange warten. „Guten Morgen“, platze ich fröhlich heraus.

Meine kürzlich neu gefundene gute Laune macht sich allerdings aus dem Staub, sobald ich den griesgrämigen Verkäufer von letzter Woche hinter der Theke sehe. Sein müder Blick ist eine Mischung aus Coolness, mit ein bisschen „fick dich“ und ganz viel „ich mag hier nicht arbeiten.“

„Ja?“, brummt er nur.

Blinzelnd behalte ich meinen freundlichen Ton bei. „Einen Joghurt mit Erdbeeren bitte.“

„Zum Mitnehmen?“

Ich weiß genau, dass er sich an mich erinnert, denn es kommen bestimmt nicht viele Mädchen mit pinken Haaren hierher. Daher sollte er auch noch wissen, wie ich letztes Mal meinen Joghurt wollte, und mir schon endlich den verdammten Plastikbecher mit Löffel to go geben. Freitag ist doch nun wirklich nicht soo lange her! Ich lasse dieses Mal den Witz übers Laufen und Stolpern und nicke einfach nur. Doch als der Kerl sich bückt, um mein Frühstück aus der Vitrine zu nehmen, beschließe ich, dass jeder hin und wieder einmal lächeln sollte. Und das schließt Zwerg Brummbär hinter dem Tresen mit ein.

Er stellt den Becher auf die Theke und während ich nach dem passenden Kleingeld in meinem Portemonnaie suche, sage ich: „Knock, knock.“

Es kommt keine Antwort. Jesus, wie wäre es denn hier mit ein bisschen Kooperation, bitte? Augenrollend hebe ich wieder den Kopf und lege zwei Dollar zwanzig vor ihn hin. Als er das Geld nimmt und dabei oh-so-geschickt meinen Versuch ignoriert, einen Funken Freude in sein Leben zu bringen, reißt mir die Geduld. „Knock! Knock!“, schreie ich, lese dabei das Namensschild auf seiner Brust und schmettere zweimal hintereinander die flache Hand auf die Theke. „Peter!“

Leicht irritiert glotzt mich der Kerl nur an. Es ist ein unerbittliches Blickduell, das wir hier ausfechten, und dabei bemerke ich zum ersten Mal die kleine Narbe unter seinem linken Auge. Sie macht ihn interessant. Vielleicht ist sie ja ein Souvenir aus einer Schlägerei, aber deswegen ziehe ich den Schwanz auch nicht ein. Letztendlich schweift sein Blick quer durch den Raum, wahrscheinlich um nachzusehen, wie viele Zeugen wir haben – drei, nach dem, was ich beim Reinkommen gesehen habe – und murmelt: „Wer ist da?“

Yay! Er ist kein Roboter! Zufrieden mit seinem Einsatz schenke ich ihm mein breitestes Grinsen. Allerdings kenne ich die Witze gar nicht auf Deutsch, darum mache ich einfach mit dem Original weiter. „Ice cream.“

Er verschränkt die Arme und verdreht beim letzten Wort auch noch die Augen. „Ice cream wer?“

I scream again if you don’t smile right now.“

Das Blickduell geht weiter, nur diesmal nicht ganz so hart wie zuvor. Doch dann passiert etwas Seltsames. Ich weiß nicht, ob er gerade in Panik gerät, dass ich vielleicht die wenigen Gäste des Cafés mit einem weiteren Kreischen vertreiben könnte, oder ob es vielleicht auch nur die Situation an sich ist, weil ihn eine Kundin in aller Herrgottsfrühe schon herausfordert, aber Peters Gesicht erweicht sich zu einem Beinahe-Lächeln. Ein ziemlich skeptisches, wenn man’s genau nimmt, aber es gilt trotzdem. Dann schüttelt er den Kopf und wendet sich ohne ein Wort wieder anderem Kram zu. Unsere Zeit für heute ist wohl abgelaufen.

„Hab noch einen schönen Tag, Peter!“, trällere ich auf dem Weg nach draußen.

Vor dem Café wartet Chloe mit einem geradezu überfahrenen Gesichtsausdruck. Natürlich hat sie alles beobachtet. Ich konnte ihre plattgedrückte Nase vorhin an der großen Fensterscheibe sehen. Da ich nicht stehenbleibe und einfach unterm Gehen anfange, meinen Joghurt zu essen, eilt sie mir nach und deutet mit dem Daumen über ihre Schulter nach hinten. „Was zum Teufel hast du mit dem Typen da drinnen gemacht?“

„Oh, nur ein bisschen Konversation.“ Ich schiebe mir einen weiteren Löffel in den Mund und genieße mein leckeres Frühstück.

Bevor wir die Akademie betreten, werfe ich den Becher in den Müll, dann machen wir uns auf den Weg zu unserer ersten Stunde. Dramaturgie. Es ist so ein trockenes Fach. Gott sei Dank sitzt Chloe neben mir, sonst würde ich todsicher sterben. Worauf ich mich heute aber wirklich schon freue, ist die zweite Stunde: Ausdruck. Es ist zwar nicht viel weniger langweilig, aber Jeremy wird auch da sein. Oh Mann, dieser Vorstellung folgt ein dicker, fetter Smiley in meinem Kopf.

„Treffen wir uns in der großen Pause draußen?“, fragt Chloe nach der ersten Unterrichtseinheit, als wir uns im Gang trennen und jeder in eine andere Richtung muss.

„Klar! Am Tisch bei der Mauer!“, rufe ich hinter ihr her, ehe ich zu Ausdruck im zweiten Stock sause. Ich will früh genug dort sein.

Tief in Gedanken versunken und von Vorfreude gepackt, bemerke ich nur im Augenwinkel ein bekanntes Gesicht, als ich am Klassenraum neben Ausdruck vorbeikomme. Rick muss erst meinen Namen rufen, damit ich anhalte und mich umdrehe.

Er steht in der Tür und, obwohl es mir sofort sauer hochkommt, als ich sehe, wer neben ihm lehnt, würge ich meinen Unmut runter und setze ein höfliches Lächeln auf. „Hey.“ Die Begrüßung gilt Rick. Jace kann mich mal.

Rick löst seine verschränkten Arme und steckt die Hände in die Taschen seiner Skaterhose. „Na, du hast wohl Ausdruck als Nächstes, hm?“

Ich schließe meine Finger fester um die Rucksackträger. „Jap. Leider. Es ist so langweilig.“

„Nächstes Semester wird’s besser, glaub mir.“ Er zieht eine Grimasse, als könnte er total mit mir mitfühlen. „Mehr reden, weniger zuhören.“

„Dann scheint da ja wenigstens ein Licht am Ende des Tunnels“, seufze ich.

Die ganze Zeit über steht Jace nur so da, reglos, sprachlos, und beobachtet mich, als wäre ich eine Wand voll Hieroglyphen, die er entziffern muss. Irgendwie wirkt er dadurch seltsam schüchtern, wie ein Junge, der sofort knallrot im Gesicht wird, wenn er mit jemandem reden muss.

Ich weiß, dass das nicht sein wahrer Charakter ist. Es stand in seinem verschmitzten Blick geschrieben, wann immer wir uns in den letzten Tagen Auge in Auge gegenübergestanden haben. Da hat er mir den Eindruck vermittelt, dass er sich in jegliche Schwierigkeiten hinein- und auch wieder aus ihnen herausreden kann, die ein Tag so mit sich bringt. Ich bin die Einzige, bei der er die Klappe hält. Und das nervt.

„Hast du heute Morgen deinen Schlüssel noch gefunden?“, wechselt Rick das Thema.

„Den Schlüssel … ja.“ Sicher, lasst uns ruhig ein bisschen bedeutungslosen Smalltalk führen, damit ich Jeremy verpasse, wenn er in die Klasse geht. Warum auch nicht? Doch dann kommt mir eine Idee. Ich könnte diese Gelegenheit nutzen, um gleich mal meinen Standpunkt klarzumachen. Betont neige ich den Kopf in Jaces Richtung und lasse bittersüßen Sarkasmus in meine Stimme schlüpfen. „Hat sich rausgestellt, dass wir ganz umsonst zurück nach oben gefahren sind. Der Schlüssel war tatsächlich die ganze Zeit in meinem Rucksack.“ Und mit einem provozierenden Grinsen, füge ich noch hinzu: „Ich Dummerchen.“

In dieser Sekunde verliert Jace plötzlich sämtliche Scheu, die er so gekonnt vorgetäuscht hat, und spiegelt mein Grinsen, meine Haltung, mein Kopfneigen und mein rasches Blinzeln. Als würde er mich auffordern, ihm etwas Neues zu erzählen.

„Ja, warum fällst du nicht einfach tot um, Jason Rhode?“, maule ich.

Rick schüttelt sich vor Lachen, aber Jace schlägt nur beide Hände auf sein Herz und zieht einen verfluchten Schmollmund, den ich ihm am liebsten mit einem alten, stinkigen Geschirrtuch aus dem Gesicht wischen will. Irritiert stöhne ich auf. Diese Unterhaltung ist hiermit beendet. Ich verdrehe die Augen, mache auf dem Absatz kehrt und stapfe zu meinem Unterricht.

Er ist so blöd.

Nur blöd.

Und überhaupt nicht niedlich.

Der Klassenraum für Ausdruck ist wie ein Hörsaal aufgebaut, mit einer Bühne ganz vorne. Es sind nur noch wenige Minuten, bis die Stunde beginnt, und da Jeremy draußen am Gang nirgendwo zu sehen war, nehme ich an, dass er schon einen Platz gefunden hat. Mit annähernd sechzig Studenten hier drinnen will ich nicht einfach dastehen und Ausschau nach ihm halten. Da würde ich ja aussehen wie ein Idiot. Ich lasse von meinem Plan ab, mich in der Nähe der Tür hinzusetzen, um ihn beim Reinkommen zu sehen, weil hier nämlich schon alles voll ist, und schlendere stattdessen nach vorne in die zweite Reihe, um mir da einen Platz zu suchen. Der Professor kommt kurz nach mir herein und fängt auch gleich mit dem Unterricht an.

Ich kaue auf meinem Stiftende und bemühe mich, bei der Sache zu bleiben, obwohl ich gerade nichts lieber will, als nach nebenan zu stürmen und Rick und Jace die Köpfe abzureißen, weil sie mich in der Pause ja unbedingt aufhalten mussten. Das ist die einzige Stunde, die ich heute mit Jeremy habe. Jetzt muss ich bis Mittwoch warten, bis ich ihn wiedersehe. Argh!

Unter dem Vorwand, mir die Stirnfransen aus dem Gesicht zu streichen, neige ich den Kopf zur Seite und versuche unauffällig, einen Blick in die Klasse zu werfen. Aber um hier wirklich jemanden zu finden, müsste ich mich schon komplett umdrehen, was ich keinesfalls machen werde. Mein Bauch fühlt sich an, als hätte er sich selbst aus Frust zu einem Freundschaftsband verknüpft. Ich sinke tiefer in meinen Sitz und strecke die Beine vorne unterm Tisch aus. Meine Wangen verkrampfen sich durch das Unterdrücken eines Gähnens. Ich nehme schnell die Hand hoch, um die Grimasse dahinter zu verstecken, da trifft mich etwas Weiches an der rechten Schulter, prallt ab und landet auf dem Boden.

Überrascht setze ich mich etwas aufrechter hin und lehne mich dann weit auf die Seite, um den Papierball aufzuheben. Mit einem Stirnrunzeln falte ich den Zettel auseinander und lese, was darauf steht.

Hey, hübsches Mädchen,

darf ich dich in der Pause zu einem Kaffee einladen?

Sieh dich nicht nach mir um. Nicke einfach.

Jeremy

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Dann fängt es an, wild zu flattern. Oh Mann, würde es jetzt doof aussehen, wenn ich mir mit dem Sachbuch selbst Luft zufächere? Jeremy ist ja soo süß. Zum Vernaschen – am besten gleich nachher, zusammen mit dem Kaffee, den er mir spendieren will. Mit aller Kraft wehre ich mich gegen den Drang, seine Warnung zu ignorieren und mich trotzdem nach ihm umzusehen, und nicke nur mit einem Grinsen im Gesicht. Heiliger Gaston! Von welchem Ende des Hörsaals sieht er das jetzt wohl?

Ernsthaft, die Stunde könnte sich wohl kaum noch mehr in die Länge ziehen. In Fünfunddreißig-Sekunden-Intervallen blicke ich auf die Uhr und bete, dass ein Feueralarm den Unterricht vorzeitig beendet. Irgendwann läutet dann doch endlich die Pausenglocke. Eine Welle der Erleichterung überschwappt mich, die sich schnell in kaum auszuhaltende Vorfreude verwandelt. Ich stopfe meine Bücher in den Rucksack, rutsche mit dem Stuhl zurück und stehe auf.

Sobald ich mich umdrehe, stockt mir kurz der Atem, weil ich in ein Paar umwerfend schöne Aquamarinaugen blicke, die aus nur einem halben Meter Entfernung auf mich gerichtet sind. Dann kräusle ich neckisch die Lippen. „Machst du das öfter – Papierbälle durch die Klasse zu werfen?“

„Nur, wenn ich die Aufmerksamkeit von jemandem haben will.“ Die Hände in die Hosentaschen geschoben, lächelt Jeremy und nickt zur Tür. „Bereit für einen Kaffee?“

Mit ihm? Immer!

Wir bewegen uns mit der Welle an Studenten nach draußen und stellen uns in die Schlange vor dem Kiosk. Nachdem er für meinen Cappuccino mit extra Zucker und seinen schwarzen Kaffee bezahlt hat, suchen wir uns einen Platz in der Sonne, bei der Steinmauer, wo Chloe und ich immer gerne sitzen, wenn wir Zeit haben.

„Na, wie war dein Wochenende?“, fragt Jeremy und lehnt sich dabei auf der Bank zurück, die langen Arme ausgestreckt und die Finger um den Kaffeebecher geschlungen, der auf der Tischkante steht. „Hat dich der Barkeeper gut nach Hause gebracht?“

Seine leicht abfällige Betonung des Wortes Barkeeper ist nicht zu überhören. Ich verschränke die Knöchel unter der Bank, lehne mich nach vorn und fange an, das Etikett von meinem Plastikbecher zu schälen. „Ja. Wir haben auf dem Heimweg sogar einen verletzten Hund gefunden und ihn zum Tierarzt gebracht. War noch eine ziemlich heftige Nacht, aber dafür war der Sonntag dann gemütlich.“ Ich sehe von den Papierschnitzeln in meinen Händen zu ihm hoch. Seine Augen sind weit, neugierig, aber ich will im Moment nicht über Nibs reden, also frage ich stattdessen: „Und wie war deins?“

Damit hat er jetzt wohl nicht so ganz gerechnet. Er räuspert sich und kratzt sich an der Nase. „Nicht so aufregend wie deines, wie es aussieht.“ Sein Blick sucht meinen für einen intensiven Moment, der aber nur ganz kurz andauert und dann mit der Frage endet: „Willst du nächsten Samstag mit mir ausgehen?“

„Äh – wa –“ Im ersten, verwirrten Reflex ziehen sich meine Brauen zusammen, schieben sich dann aber rasch nach oben, als mein Herz einen Sprung macht. „Zu einem Date?“

Aus irgendeinem Grund, schmunzelt er jetzt. „Ja?“

Ich kämpfe immer noch damit, meine Überraschung und Freude im Zaum zu halten, als er dann noch erklärt: „Tut mir leid, normalerweise schieße ich solche Fragen nicht einfach so schnell ab, aber da hinten kommt deine Freundin“ – sein Blick schweift über meine Schulter und wieder zurück zu meinen Augen – „und ich wollte das noch loswerden, bevor sie hier ist.“

Ich drehe mich um und entdecke Chloe, die auf uns zusteuert, das Lächeln auf ihren Lippen verschwörerisch aber süß. „Hi, Jeremy“, singt sie mit ihrem eigenen Kaffee in der Hand, doch stehen bleibt sie nicht bei uns. Auch nicht, als er auf der Bank ein Stückchen rüberrutscht, um Platz für sie zu machen. Mit einem letzten Blick zu mir, sagt sie nur: „Wir sehen uns im Unterricht“, und geht weiter.

„Ah, ja, okay“, murmle ich und könnte sie gerade nur abknutschen, weil sie mir den Moment mit dem Mann meiner Tagträume alleine gönnt. Dann sage ich mit einem zuversichtlichen Lächeln zu Jeremy: „Sieht aus, als hätte sich dein Problem ganz von allein gelöst.“

Sein leises Lachen klingt schüchtern, aber trotzdem zufrieden. Ich will auch gerade kichern, da packt die Szene hinter ihm meine Aufmerksamkeit und meine Augen verengen sich stattdessen. Chloe war auf dem Weg quer über den Campus, wo ein paar unserer Klassenkameraden sitzen. Als sie aber unterwegs an einem anderen Tisch vorbeikommt, schnellt ein Arm zur Seite, der sich um ihre beiden Oberschenkel schlingt, sie aufhält und fast zum Stolpern bringt.

Vinnie hebt den Kopf zu ihr. Sie sind viel zu weit weg, um etwas zu verstehen, und Lippenlesen kann ich leider auch nicht. Doch als Chloe sich zu unserem Nachbarn und seiner Boyband setzt, ist klar, dass sie sie eingeladen haben. Killian und Lawrence schütteln ihr die Hand und stellen sich vor.

Durch diese epischen Partys, die Vinnie und Rick schmeißen, und weil Jace sowieso an keinem Wesen mit einer Vagina vorbeigehen kann, ohne dass sie ihn von Kopf bis Fuß abcheckt, steht ihre kleine Gruppe bestimmt auf der Most-Wanted-Liste der Schule. Und gerade haben sie meine Freundin gefragt, ob sie sich zu ihnen setzen will. Wenn ich nur daran denke, dass ich die Jungs klar gemacht habe … Das erfüllt mich mit einem kleinen Wölkchen aus Stolz. Auf der Highschool waren es immer Chloe und unsere Freundin Lesley, die entschieden haben, mit welcher Gruppe von Leuten wir gerade abhängen. Kirsten und ich hatten dabei nie etwas mitzureden. Wir haben uns einfach eingefügt. Aber im Moment möchte ich am liebsten ziemlich breit grinsen.

„Also, was meinst du?“, dringt Jeremys Stimme in meine Gedankenblase, während mein Blick immer noch an der Szene hinter ihm festhängt. Jace redet mit Chloe und lacht dabei. Muss wohl eine witzige Unterhaltung sein. Warum kann er nie so mit mir sein? Er sieht umwerfend aus, wenn er lacht.

„Wozu?“, frage ich abwesend. Plötzlich bewegen sich Jaces Augen in meine Richtung und er fängt mich mit seinem Blick ein, als wären unsichtbare Seile zwischen uns über die Entfernung gespannt. Sein Mund schließt sich, ist aber immer noch zu einem leichten Lächeln gekrümmt. Mein Hals trocknet aus.

„Zu dem Date?“

Im nächsten Augenblick zappt meine Aufmerksamkeit zurück zu Jeremy.

Was zur Hölle stimmt mit mir denn nicht? Jeremy ist wundervoll und hat mich gerade gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will, und ich lasse mich von dem dämlichen Jungen ablenken, der nicht mit mir spricht? Ich schlucke, blende die ganze Welt um mich herum komplett aus und konzentriere mich nur noch auf ihn. Meine Beine wippen aufgeregt unterm Tisch auf und ab. „Ja. Ja, ich würde sehr gerne mit dir ausgehen.“

Oje, er sieht gar nicht mehr so amüsiert aus. „Bist du sicher?“

Absolut! Ich nicke, doch das Wippen meiner Beine hat aufgehört.

„Denn … weißt du …“ Er reibt sich den Nacken. „Eben hast du etwas abgelenkt gewirkt. Und ich muss mich nicht erst umdrehen, um zu wissen, wer hinter mir sitzt. Ich habe die Jungs gesehen, als wir hergekommen sind. Und ihn.“

Das letzte Wort fühlt sich wie eine Lanze direkt durch meinen Bauch an. Was bin ich nur für eine bescheuerte Gans, dass ich ihm das antue? Und mir selbst! Ich will unbedingt mit ihm ausgehen. Himmel, darauf habe ich doch schon seit dem ersten Tag gewartet, an dem wir uns kennengelernt haben.

„Es tut mir leid.“ Meine Stimme ist leise, bedauernd. „Sie haben nur gerade Chloe an ihren Tisch gezogen und mit all der Scheiße, die wegen dieser Wette am Laufen ist, war ich neugierig, was sie von ihr wollen.“

Er legt den Kopf schief. „Diese Wette?“

Ach ja, er kann es ja nicht wissen. Nach einem tiefen Atemzug erzähle ich ihm alles, was ich bisher über Jace herausgefunden habe. Vor allem, wie er mich offensichtlich zum Mittelpunkt dieses bescheuerten Spiels gemacht hat. „Keine Ahnung, was er am Ende gewinnen oder verlieren könnte. Jedenfalls spricht er nie mit mir. Aber in Ruhe lassen, will er mich auch nicht.“

„Das ist mir am Samstag auch schon aufgefallen“, schnappt Jeremy beleidigt und verzieht dann aber schnell entschuldigend das Gesicht, als wollte er das gerade eben nicht so schnippisch sagen. „Hör zu, ich bin kein Kerl, der sich Mädchen aufdrängt.“ Seine langen Wimpern verschleiern seine Augen vor mir, während er anfängt, das Etikett seines Bechers abzukratzen. Nur hin und wieder sieht er dabei kurz mal zu mir hoch. „Auf der Party wollte ich beim Flaschendrehen wirklich gewinnen, aber dafür hätte ich nicht geschummelt. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Andererseits hat es ausgesehen, als ob du mit Rhode eine wirklich tolle Zeit auf dem Fußboden hattest. Und dann war da noch euer Tanz …“ Sein Blick kommt wieder nach oben und diesmal bleibt er auf mich gerichtet, als wollte er sagen: Das hätte unser Tanz sein sollen. „Ich wollte schon kommen und dich retten, weißt du? Bis du dann deine Arme um ihn gelegt und klargemacht hast, dass du gar nicht gerettet werden willst.“

Meine Schultern sinken zusammen mit meinem Herz. Ich wollte wirklich so gerne mit Jeremy tanzen. Doch er hat recht. Mit Jace zu tanzen war auch toll. Und ihn zu küssen. Aber das war doch alles, bevor ich von dieser beschissenen Wette erfahren habe.

„Es ist nicht so, wie es aussieht“, murmle ich.

„Wirklich? Denn tatsächlich weiß ich nicht einmal, wie es aussieht.“ Ein leises, verwirrtes Lachen entweicht ihm. „Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich mich niemals zwischen euch beide schieben werde, wenn da was am Laufen ist.“

Ich hasse mich selbst dafür, aber als er das alles gerade sagt, wandert mein Blick ganz von alleine in die Richtung des Unruhestifters am anderen Tisch. So, als wäre Jace ein riesiger Magnet und ich nur ein hilfloser, kleiner Nagel, der dieser Naturgewalt nicht entkommen kann. Verdammt!

Er hat sich nach hinten gelehnt, sein Kinn gesenkt und sein Blick klebt immer noch an mir. In seinem Gesicht ist nicht der kleinste Anschein des vorherigen, süßen Lächelns mehr. Schnell schaue ich wieder zu Jeremy, der gerade ein tiefes Seufzen von sich gibt.

„Da läuft gar nichts zwischen uns. Er nervt mich, das ist alles“, brumme ich, aber sogar in meinen Ohren klingt das wie eine fürchterlich lahme Ausrede. In Wahrheit schafft Jace es, meine Aufmerksamkeit mit seiner Stille stärker anzuziehen, als es je ein Junge mit Worten getan hat.

Das gilt natürlich nicht für Jeremy. Er hat all meine Aufmerksamkeit. Ungeteilt. Gerade bin ich ja sowas von: Jace? Wer zum Geier ist Jace?, als ich meine Lippen zu einem zuversichtlichen Lächeln krümme.

Jeremys Lächeln kommt etwas leichter als mein eigenes zum Vorschein, allerdings trägt es eine bedauernde Note. „Okay, ich sag dir was. Mein Angebot für ein Date am Samstag steht noch. Weil du niedlich bist und ich dich wirklich gerne besser kennenlernen würde.“ Während mein Herz im Geheimen dabei ist, verrückte Purzelbäume in meiner Brust zu schlagen, fischt er einen schwarzen Filzstift aus seinem Rucksack, zieht den Stöpsel mit den Zähnen ab, nimmt meinen Becher und schreibt etwas auf das weiße Plastik, das inzwischen kein Etikett mehr trägt. „Ruf mich an, wenn du weißt, was du willst“, meint er und steckt den Stöpsel wieder auf den Stift. Dann stellt er den Becher vor mich hin. „Bis Freitag sollte lang genug für dich sein, um es herauszufinden, oder?“ Er zwinkert mir zu, steht auf und schlingt sich den Rucksack über eine Schulter, ehe er davonspaziert.

Kapitel 14

Jace

„Bitte eine in Pink“, teile ich der Floristin mit, als sie gerade eine rote Rose aus einem der vielen Eimern im Schaufenster ziehen will. Der intensive Duft in diesem kleinen, überfüllten Blumenladen vergewaltigt meinen Geruchssinn und mir wird davon regelrecht schwindelig.

„Soll ich sie vielleicht ein wenig ausschmücken oder sie in Cellophan wickeln?“, fragt die Frau auf ihrem Weg zurück durch das Labyrinth aus Tischen, die mit Tausenden von Blumen vollgestellt sind. An der Kasse tupft sie den Stiel der Rose mit einem Lappen trocken und schneidet das Ende schief ab.

„Nein, danke. Nichts von beidem.“ Ich will, dass diese Rose so einfach und rein ist wie meine Entschuldigung für Brinna. Zwei Dollar kostet die Blume. Ich lege das Kleingeld auf die Theke und verlasse das Geschäft mit einem Plan.

Es ist schon später Nachmittag. Gleich nach der Schule hatte ich noch keine Zeit, die Blume zu holen, aber jetzt ist ein ebenso guter Zeitpunkt, um an die Tür von 403 zu klopfen, mit dem Wort „Entschuldigung“ zwar nicht auf den Lippen, aber dafür in meiner Hand hinter dem Rücken versteckt.

Zehn Sekunden später erscheint Chloes Gesicht in der Tür, die nur einen Spalt breit aufgeht. Sie öffnet sie ganz, nachdem sie mich entdeckt hat. Anstatt mich jedoch zu begrüßen, sieht sie mir nur mit einem großen Grinsen direkt in die Augen und schreit dabei: „Briiinnaaa! Es ist für dich!“

Ich grinse zurück. Bis Brin an die Tür kommt und genervt die Augen verdreht. Jap, das wischt mir das Lächeln doch gleich wieder aus dem Gesicht.

Sie dreht sich um und will gerade wieder abhauen, doch Chloe blockt sie besser als ein Linebacker. „Lauf nicht weg!“, fleht sie ihre Freundin an. „Gib dem Jungen doch eine Chance!“

Ja, gib mir eine Chance. Bitte …

„Nein.“ Es ist nur ein tiefes, verärgertes Knurren von Brinna. „Und sag mir nicht dauernd, was ich tun soll!“

„Okay, ich werde damit aufhören …“ Für den Bruchteil einer Sekunde zuckt Chloes Blick zu mir und wieder zurück zu ihrer Freundin. „Wenn du endlich aufhörst, so stur zu sein!“ Und damit schiebt sie Brinna rückwärts über die Schwelle zu mir in den Gang und knallt die Tür zu.

Unfreiwillig stolpert die kleine Himbeere gegen meine Brust. Mit meiner freien Hand stütze ich sie am Ellbogen und kriege dabei ein Büschel von ihrem rosa Pferdeschwanz ins Gesicht. Wahrscheinlich zu perplex, um sich zu bewegen, bleibt Brinna gegen mich gelehnt stehen, mit Blick auf die geschlossene Tür. Ihr Körper versteift sich wie eine Eisenstange. Und dann brechen die Worte: „Du fiese Verräterin!“ aus ihrer Kehle.

Jap, so kann man einen Freund auch in die Höhle des Löwen schubsen. Und ich kann Chloe gar nicht genug dafür danken, denn jetzt hat Brinna keine andere Wahl, als mich bis zum Schluss anzuhören. Na ja, nicht wortwörtlich, eher im übertragenen Sinne, aber ich nutze die Gelegenheit und bringe meine zweite Hand nach vorne, in der ich die Rose halte.

Schade, dass ich ihr Gesicht jetzt nicht sehen kann, aber ihre Reaktion zu fühlen, ist sowieso noch hundertmal intensiver. Einen unscheinbaren Moment lang wird ihr Körper wieder weich in meiner Umarmung, zart und entspannt. Ihr Kopf sinkt ein wenig. Ich weiß, dass sie gerade gerührt auf die Blumenentschuldigung starrt. Schließlich stößt sie den Atem in einem sanften Seufzen aus.

Aber falls ich dachte, das wäre Vergebung, habe ich mich schrecklich geirrt. Als sie sich aus meinen Armen befreit und zu mir umdreht, ist ihr Blick wieder hart und ich bin immer noch derjenige, der die Rose hält. Meine Hand sinkt nach unten.

Sie blinzelt ein paarmal und zieht dann meinen Namen in einem müden Jammern in die Länge. „Jaaace…“

Ja? Das Einzige, was ich machen kann, um ihr zu zeigen, wie leid mir das alles tut, ist das Gesicht zu einer mitleidigen Grimasse zu verziehen.

„Was willst du von mir?“

Wieder halte ich ihr die Rose hin.

Nach einem flüchtigen Blick auf die Blume, starrt sie mir in die Augen. Sie beginnt den Kopf zu schütteln. Ich bin am Arsch.

„Hör zu“, beginnt sie, spricht aber dann nicht weiter, sondern massiert sich die Nasenwurzel und kneift die Augen zu. „Ich bin dir wirklich dankbar für das, was du letztes Wochenende getan hast … mit dem Hund und dafür, dass ich bei dir übernachten durfte. Aber ich habe weder die Zeit, noch Lust dazu, das Objekt in euren dummen Männerspielen zu sein. Würdest du dir also bitte, biiiiiitte jemand anderen suchen, mit dem du dieses Spielchen treiben kannst?“

Sie lässt mir gar keine Chance zu antworten, sondern dreht sich einfach um und drückt auf die Klingel.

„Wer ist da?“, ertönt Chloes Singsangstimme hinter der Tür.

Brinna grollt. „Nicht witzig, Summers. Jetzt lass mich rein!“

„Bist du fertig mit Reden?“

„Ja.“

„Jace?“ Ich blicke hoch, als mein Name hinter der Tür fällt. „Bist du fertig mit Reden?“

Brinna wirbelt herum und funkelt mich böse an. Ich beiße mir auf die Lippe, fast schon ängstlich, aber am Ende teile ich Chloe mit: „Nein.“

„Tut mir leid, Schätzchen!“, ruft sie vergnügt heraus und die Tür bleibt zu.

In Brinnas Kiefer zuckt ein Muskel. Ich frage mich, ob sie mir im Moment den Kopf abbeißen will oder lieber ein Loch durch die Wand kauen, um zurück in ihr Apartment zu gelangen. Nach ein paar Sekunden lehnt sie sich aber gegen die Tür und verdreht die Augen zur Decke. Als sie wieder zurück an ihren Platz rollen, fixiert sie mich damit und ächzt: „Ist dir überhaupt bewusst, was du mir angetan hast?“

Dieser Blick. Dieses Stöhnen. Tut mir leid, ich habe keine Ahnung.

Mit dem Rücken rutscht sie an der Tür hinunter, bis sie auf dem Boden sitzt, und verschränkt ihre Beine. „Du hast mir bisher jede Chance mit Jeremy Ward ruiniert, inklusive heute. Und dabei warst du noch nicht einmal an unserem Tisch!“

Meine Mundwinkel fallen nach unten und meine Augenbrauen ziehen sich zu einem V voll Argwohn zusammen. Ja, heute war schon irgendwie komisch. Aus Gründen, die absolut nichts mit der Wette zu tun haben, ist es mir tierisch auf die Nerven gegangen, Brinna mit diesem Vollpfosten zu sehen. Aber warum sagt sie denn, ich hätte etwas für sie ruiniert? Ich hab doch gar nichts gemacht, um die beiden zu unterbrechen. Na ja, zumindest nicht heute.

Ich setze mich neben sie, lege meine ausgestreckten Arme auf meine aufgestellten Knie und fummle am Rosenstängel herum.

„Er hat mich heute Morgen gefragt, ob ich zu einem Date mit ihm gehen möchte“, erklärt Brinna mit viel ruhigerer Stimme als vorher. „Und ich habe nicht sofort ja gesagt.“

Um sie ansehen zu können, muss ich mich leicht zu ihr drehen. Sie atmet ruhig und tief, während ihr Kopf an der Tür lehnt, nur ihre Augen rollen zu meiner Seite. „Ich konnte es nicht. Weil du mich abgelenkt hast.“

Na gut, dann hatten wir eben ein bisschen intensiven Augenkontakt am Vormittag. Und vielleicht habe ich ja wirklich versucht, ihre Aufmerksamkeit von Jeremy Wie-war-noch-gleich-sein-Name wegzulocken. Aber mir die Schuld daran zu geben, dass ihre Dating-Aktivitäten gerade stillstehen, ist unfair. Wenn sie so unbedingt mit ihm ausgehen wollte, wie konnte ich dem dann überhaupt in die Quere kommen? Und noch dazu von so weit weg? So wichtig kann ihr der Bursche also gar nicht sein, oder? Ist bestimmt nur so eine Schulhofschwärmerei, nichts weiter. Bei dem Gedanken, kann ich mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

Brinna hätte den Kerl sowieso von Anfang an alleine draußen sitzen lassen und sich stattdessen zu uns setzen sollen. Das wäre mir sehr viel lieber gewesen, als ich zugeben möchte. Um ehrlich zu sein, konnte ich heute Morgen kaum den Drang abschütteln, meine Hand zu heben und den Finger zu krümmen, damit sie zu uns rüberkommt.

Aber ich will auch nicht, dass sie wegen eines verpassten Dates traurig ist. Und was noch wichtiger ist, sie soll nicht böse auf mich sein. Darum schaue ich sie noch einmal flehend an und halte ihr langsam die Rose hin.

Nach einem langen, gefühlvollen Blick, der wahrscheinlich nichts anderes heißt als: Warum kannst du nicht einfach in ein Loch nach China fallen?, bewegt sich ihre Hand zaghaft nach oben und sie nimmt die Entschuldigung an. „Ich sollte dir mit dieser Blume eins überbraten“, meckert sie dabei.

Wenn sie denkt, es hilft.

Aber sie zieht mir die Rose dann doch nicht über die Birne. Stattdessen riecht sie nur daran. Lange. Und dann seufzt sie. „Was kann ich nur tun, damit du endlich mit mir sprichst?“

Küss mich noch zweimal vor Publikum. Ist das denn zu viel verlangt?

„Okay … hör zu, ich mag dich wirklich. Du bist irgendwie ja ganz nett.“ Sie betrachtet kurz die Rose in ihrer Hand, dann hält sie diese etwas höher. „Das hier ist nett. Und wenn es dir hilft, die Wette zu gewinnen“ – auf extrem süße Weise verdreht sie noch einmal die Augen – „dann können wir auch hin und wieder mal zusammen abhängen. Ich kann dabei reden und du wirst wie immer so gesprächig sein wie ein Stein.“

Mit geschlossenen Lippen lache ich leise.

„Aber wir schreiben morgen einen Test und ich muss jetzt wirklich wieder rein zu meinen Büchern und diesen langweiligen Dramaturgieschmarren lernen. Macht es dir also was aus, wenn wir unser einseitiges Unterhaltungsdings auf irgendwann später diese Woche verschieben?“

Ihre Brauen fahren so hoffnungsvoll hoch, dass ich meine Absicht, sie mit in meine Wohnung zu nehmen und jetzt gleich mit dem Abhängen anzufangen, fallen lasse. Stattdessen nicke ich nur langsam. Morgen ist auch noch ein Tag. Mir bleibt noch genug Zeit, um ihr Vertrauen zu gewinnen, die Wette und ja … nur vielleicht … sogar auch ihr Herz.

Ich rapple mich auf die Beine und greife nach ihrer Hand, um auch ihr aufzuhelfen. Brinna ist ein Mückengewicht und kommt so schnell hoch, dass mir ein Hauch ihres süßen Himbeerdufts direkt ins Gesicht weht. Nachdem ich diesen tief eingeatmet habe, lasse ich sie los und klopfe mit der flachen Hand zweimal an die Tür. „Wir sind fertig mit Reden! Du kannst sie jetzt reinlassen!“

Wir erschrecken beide ein wenig, als die Tür im gleichen Moment aufgeht und uns Chloe entgegen strahlt wie ein radioaktives Teilchen. Da hat wohl jemand gelauscht.

Nach einem abschließenden, warmen Lächeln für Brinna verabschiede ich mich von Chloe und schlendere zurück in mein Apartment. Das Geräusch ihrer zufallenden Tür ertönt hinter mir, noch ehe ich meine eigene erreicht habe.

Tja, das lief ja gar nicht mal so schlecht. Sie hat mir verziehen, das ist zumindest schon mal ein Anfang. Der Rest der Wette sollte eigentlich ein Spaziergang werden. Oder?

Zurück in meinem Wohnzimmer suche ich nach Brinna’s Stundenplan in meinem Rucksack und schaue gleich mal nach, wann sie morgen Dramaturgie hat. Ah, erste Stunde. Ich schätze, ich weiß schon, wo ich morgen vor Unterrichtsbeginn sein werde.

~ ❤ ~

Fortsetzung folgt … wenn ihr wollt. 😉

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