Kapitel 1
Riley
Immer, wenn irgendwo jemand ein Märchenbuch aufschlägt und die drei magischen Worte „Es war einmal …“ liest, wird ein paar Stunden später meine Oma gefressen. Märchenskinder, das nervt.
Bin ich froh, dass die heutige Morgenvorstellung endlich vorbei ist. Ich zwänge mich durch den Spalt der schweren Eingangstür in Aschenputtels Palast und schließe sie hinter mir, so leise es geht. Ein dumpfes Rummms hallt trotzdem im ganzen Palast wieder. Mit eingezogenem Kopf lege ich schnell einen Finger an meine Lippen. „Schhht!“
Ja, Türen hören tatsächlich zu. Manchmal sprechen sie sogar, doch das könnte auch nur ein Gerücht sein, das Alice aus dem Wunderland mit nach Hause gebracht hat.
Neben dem Kleiderständer öffne ich meine Schnürsenkel, trete mir mit einem Fuß hinten auf die Ferse des anderen und schlüpfe aus meinen Stiefeln. Nach dem heutigen Abenteuer klebt noch der halbe Waldboden an den Sohlen und ich will diesen glänzenden Palast nicht verschmutzen. Meinen Bogen aus Eibenholz und den Köcher nehme ich ebenfalls ab. Die zwölf Zedernpfeile klappern darin, als ich beides an einen Haken hänge. Man schneit nicht einfach so bewaffnet in eine Teeparty – zumindest bekomme ich das immer wieder zu hören. Meine Kapuze streife ich auch noch zurück, aber den roten Umhang lasse ich an.
Je zwei Stufen auf einmal nehmend, flitze ich über die weite Marmortreppe nach oben und folge dann dem Gang nach links. Aus dem Salon dringt das Lachen meiner Freundinnen und verrät mir, wo sie zu finden sind.
Vier Prinzessinnen sitzen um ein rundes weißes Kaffeetischchen, das mit Frühstückstee auf einem edlen Porzellanservice gedeckt ist. Wieder einmal sind sie alle in wunderschöne, farbenprächtige Kleider gehüllt. Zur Begrüßung winke ich nur kurz in die Runde und steuere dann auf Schneewittchen zu. Die Prinzessin mit dem rabenschwarzen Haar hasst ihren süßen Namen genauso sehr wie Äpfel und meinte einmal, sie würde viel lieber Rocking Thunder heißen. Seither nennen wir sie nur noch Schneechen.
Ich lasse mich neben sie auf das blaue Sofa fallen, das durch seine goldenen Stickereien noch vornehmer wirkt, als es ohnehin schon ist. Ihr Rock kommt dabei versehentlich unter meinen Hintern. Als sie daran zupft, hebe ich kurz meine rechte Pohälfte und befreie den Zipfel. Dann ziehe ich meine Beine auf das Sofa, schlinge meine Arme samt Umhang um meine Knie und imitiere einen knallroten Eisberg inmitten des Adels.
Prinzessin Cinderella schiebt mir eine Tasse mit Erdbeertee über den Tisch entgegen. „Hey, Riley, was hat dir denn die Suppe versalzen?“ Ihr makelloses Püppchengesicht verzieht sich zu einem Grinsen, als sie sich nach vorne lehnt und dabei kurz die warmen Sonnenstrahlen blockiert, die durch die fünf riesigen Fenster den Raum fluten. „Hat dich der Wolf mal wieder in den Arsch gebissen?“
Okay, vielleicht war das, was ich vorhin über „Es war einmal …“ gesagt habe, nicht die ganze Wahrheit. In manchen Märchen stolpert das Mädchen auch über einen Prinzen, der sie küsst, sich in sie verliebt, sie heiratet und ihr am Ende einen riesigen Schrank voll schöner Kleider in seinem Palast schenkt. Zumindest ist es so bei Schneewittchen und Cindy. In Bellinas Geschichte auch. Verdammt, Dornröschen aka Rory muss für ihr eigenes Happy End nicht einmal viel tun. Gegen Ende ihres Märchens haut sie sich einfach eine Weile aufs Ohr und Phillip regelt den Rest. All meine Freundinnen werden ständig geküsst und verlieben sich immer und immer wieder. Nur ich nicht.
„Mann! Wisst ihr überhaupt, wie gut ihr es habt? Ich will auch einen Prinzen!“ Ich nehme die Tasse mit dem Sprung samt Untersetzer hoch. „Die beißen wenigstens nicht.“
Bellina versteckt ein Kichern hinter einem Keks, während eine leichte Röte um ihre Nase aufblüht. Okay, ihr Prinz vielleicht schon, aber ich glaube, das stört die Schöne nicht.
„Na, aber hallo.“ Mit einem neugierigen Funkeln in den grünen Augen wirft Rory ihr wallendes goldenes Haar zurück. Sie richtet sich in ihrem Stuhl auf, damit sie mich besser sehen kann. „Hast du nicht immer gesagt, Jungs seien für überhaupt nichts zu gebrauchen, und dass du kein Interesse an ihnen hast? Wann hat sich das denn geändert?“
Tja, wann bloß? Muss wohl passiert sein, kurz nachdem ich mitten in der Nacht auf dem feuchten Waldboden ausgerutscht bin, weil irgendein seltsames Kind im weit entfernten Land namens Die Realität nicht warten konnte, bis es hell wird, um sein neues Märchenbuch zu lesen. Im Morgengrauen hat mich dann auch noch ein Ungeheuer von einem Wolf beinahe gefressen, da er wohl immer noch hungrig war. Kaum ist meine Oma in Sicherheit, bin ich diejenige, die sich vor wilden Bestien in Acht nehmen muss. Die neuen Bissspuren auf meiner linken Pobacke leuchten mindestens noch eine Woche lang!
„Diese ganze Sache mit den Märchen ist total unfair! Von uns allen habe ich doch die Arschkarte gezogen.“ Ich schnüffle kurz am Tee und bete, dass ich nicht gleich als Riese an die Decke schieße. Solche Dinge sind in diesem Schloss schon vorgekommen, vor allem, wenn die blaue Raupe und der irre Hutmacher ebenfalls zu Besuch waren. Seit jenem irren Nachmittag vergewissere ich mich jedes Mal, dass auf dem Kleiderständer unten in der Halle kein Hut Größe 10/6 hängt oder einhundert Paar Raupenschühchen in der Ecke stehen, ehe ich irgendetwas Essbares in diesen Gemäuern anfasse. Nach dem ersten vorsichtigen Schluck Tee kneife ich die Augen zu und warte eine panische Sekunde lang, was passiert. Aber alles ist gut. Puh! Wieder etwas entspannter nehme ich noch einen weiteren Schluck. „Ich will mein eigenes Happy End. Ein richtiges! Mit einem echten Prinzen, der mich küsst und liebt und mich mit in sein Schloss nimmt.“ Mit dem Silberlöffel rühre ich den Tee um und sehe zu, wie das rosa Wasser im Kreis wirbelt. „Nicht so einen Kerl, der im Regen nach nassem Hund stinkt und lieber ins Bett meiner Großmutter steigt als in meins.“
Nicht, dass ich Jack jemals in meinem Bett haben möchte. Iiih! Bei dem Gedanken jagt mir ein gruseliger Schauer über den Rücken. Na schön, vielleicht sieht er ja irgendwie ganz gut aus – zumindest dann, wenn er nicht gerade im Wolfsfell vor mir steht und mich anstarrt, als wäre ich das Hauptgericht auf seiner Speisekarte. Aber diese Momente sind selten und selbst dann ist er kaum der Richtige zum Küssen und Heiraten. Dafür fehlen ihm einfach die guten Manieren. Und offensichtlich die Krone.
„Du glaubst also, die wahre Liebe findet man nur mit einem Prinzen?“ Rory verdeckt ein Gähnen mit ihrer Hand. Sie musste heute wohl ebenfalls ihre Geschichte spielen und leidet nun an den Nachwirkungen ihres langen Schlafs. „Warum denkst du, dass sie für die Liebe besser geeignet sind als andere Jungs?“
„Na, das liegt doch wohl auf der Hand.“ Ich setze meine Tasse zurück auf den Tisch, werfe ihr einen bedeutungsvollen Blick zu und zähle dabei die unwiderlegbaren Argumente an meinen Fingern ab. „Du hast einen Prinzen. Schneechen hat einen Prinzen. Cindy hat einen Prinzen und Bellina auch.“ Zugegeben, Dominic mag manchmal vielleicht ein bisschen haarig sein, dennoch gehört er zu den Blaublütern hier in Märchenland.
Schneewittchen träufelt etwas Honig in ihren Tee und leckt den Rest genüsslich vom Löffel. „In deinen Augen kommt Liebe also mit einem Adelstitel und einem Schloss daher? Aber es gibt doch tausende Geschichten auf der Welt und nicht alle beinhalten einen Prinzen.“
„Genau das versuche ich ja die ganze Zeit zu sagen!“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Peter Pan ist kein Prinz und Wendy ist immer noch Single. Das ist der Beweis.“
„Hm. Deine Logik ist unanfechtbar.“ Cindy tippt sich mit dem Finger an die Unterlippe und blickt dabei grübelnd an die Decke. „Alice und der Hutmacher wurden auch nie wirklich warm miteinander.“
„Na bitte! Und ihr alle kennt doch Dorothy, die nur eine Vogelscheuche, einen Blechmann und einen feigen Löwen bekommt? Sie schlägt jedes Mal die Hacken zusammen und kehrt zurück nach Kansas.“ Ich mache ein ernstes Gesicht. „Also … kein Prinz, keine Romantik.“
„Warte mal. Was ist mit Aladdin und Jazzie?“, meint Dornröschen. „Aladdin ist ein Dieb und trotzdem können die beiden ihre Finger nicht voneinander lassen.“
„Ääh! Jazzie ist eine Prinzessin“, werfe ich ein. „In deren Geschichte sind nur die Rollen vertauscht.“
Schneechen kratzt sich am Kinn. „Stimmt. Jazz hatte schon immer die Hosen an, auch lange bevor sie Al getroffen hat.“
„Du verfolgst hier vielleicht tatsächlich eine heiße Spur“, unterstützt mich Bellina und zieht die Augenbrauen tiefer, während sie mit dem Teelöffel auf mich zeigt. Dann steht sie auf und beginnt im Zimmer auf- und abzulaufen. Ihre hohen Absätze klackern dabei auf dem steinernen Fußboden unter dem weiten Rock des bildhübschen cremefarbenen Kleides. Sie kann niemals lange still sitzen, besonders nicht, wenn sie nachdenkt. „Die Liste der royalen Liebesgeschichten in diesem Land ist lang. Sogar das rothaarige Fischmädchen …“ Sie wirbelt zu uns herum. „Wie ist noch gleich ihr Name?“
„Avalyn!“, stöhnen wir alle gleichzeitig und bewerfen sie mit müden Blicken. Aus irgendeinem Grund kann sie sich den Namen der Meerjungfrau einfach nicht merken.
„Ah ja, richtig. Also, sie bekommt Prinz Sebastian, nicht wahr? Ann-Marie heiratet den Froschkönig. Und Rapunzel ist selbst eine entführte Prinzessin.“
„Seht ihr?“ Beide Augenbrauen hochgezogen, gestikuliere ich wild mit den Armen. „Liebe passiert nur, wenn einer von beiden ein Royal ist. Noch nie hat jemand über ein Mädchen aus dem Wald gelesen, das sich in einen flohverseuchten Pudel verliebt.“
Mit gerümpfter Nase schiebt Dornröschen ihren Kuchen beiseite und wischt ein paar Krümel von ihrem rosa Kleid. „Iiih, denkst du, dass Jack Flöhe hat?“
Ich zucke nur mit den Schultern. „Manchmal sehe ich, wie er sich mit der Pfote hinterm Ohr kratzt, wenn er gerade der Wolf ist, aber das kann auch nur Gewohnheit sein.“ Er macht das ziemlich oft, wenn er nervös ist. Und er wird immer nervös kurz vor Ende unserer Geschichte. Wäre ich wahrscheinlich auch, wenn der Jäger mit seinem großen Messer meinen Bauch aufschneiden würde, um mein letztes Mittagessen zu befreien.
Aschenputtel ignoriert unsere Spekulation über Jacks Hygiene und lehnt sich zu mir über den Tisch, um meinen Arm zu tätscheln. „Dann enden eben nicht alle Märchen mit einer Romanze. So ist das Leben.“
„Ja, schon, aber wenn nicht, dann dürfen diese Figuren wenigstens etwas echt Cooles in ihren Geschichten machen.“ Ich umfasse meine Knöchel, die Füße immer noch flach auf der Couch. „Nimm Hänsel und Gretel zum Beispiel. Keine Liebesgeschichte, aber dafür ein ganzes Haus voll Süßigkeiten. Und was bekomme ich? Wein und einen mickrigen Kuchen, den ich nicht einmal essen darf, weil der Korb für meine Oma ist.“
Cindy neigt den Kopf und presst die Lippen aufeinander. Keine Ahnung, was der Blick gerade zu bedeuten hat. Fünf Sekunden später greift sie nach dem Teller auf dem Tisch und hält ihn mir mit einer hoffnungsvoll hochgezogenen Augenbraue entgegen. „Macaron?“
Mit lautem Ächzen schlage ich meine Stirn auf die Knie.
*
„Lass den Kopf nicht hängen, Herzchen.“ Prinzessin Cinderella umarmt mich fest in der großen Halle. Die anderen Mädchen sind schon vor einer Stunde gegangen, so blieb mir noch ein bisschen Zeit allein mit meiner besten Freundin, um über die heißen Typen in der neuesten Ausgabe des Character Magazine zu schmachten und die letzten Eskapaden in Märchenland zu lesen. Die Lieferwiesel sind im Wald immer so leicht abgelenkt und verlegen gerne mal ein Paket. Mir fehlen bereits die Exemplare der letzten beiden Monate, deshalb muss ich mir hier bei Cindy meinen wöchentlichen Celebrity-Kick holen. Ihr charmanter Ehemann nimmt das Heft jeden Dienstag direkt von der Magischen Presse für sie mit, gleich nachdem es frisch aus dem Druck kommt.
Noch ein Vorteil, wenn man einen Prinzen hat. Ich sag’s nur …
Während ich mir die Stiefel schnüre, geht Cindy vor mir in die Hocke und legt mir eine Hand unters Kinn, damit ich in ihre strahlenden Sternenaugen blicke. „Du weißt, dass du nicht die schlechteste Geschichte hier im Wald erwischt hast.“
Sie hat leicht reden. Sobald diese monsterschwere Tür hinter mir ins Schloss gefallen ist, hüpft sie fröhlich zu Prinz Jason ins Wohnzimmer und kuschelt sich vor dem Heimkino an ihn.
Das Einzige, woran ich mich kuscheln kann, ist die alte Flickendecke auf meiner Couch. Oder Jack Wolf, der kürzlich mal wieder meine Großmutter gefressen hat. Da bevorzuge ich doch lieber die Decke.
Trotzdem nicke ich kurz und lächle tapfer für meine Freundin. Als wir beide aufstehen, reicht sie mir den Bogen samt Köcher.
„Du hast ja recht.“ Meines ist nicht das mieseste Märchen, sondern nur eines ohne Romantik. „So betrachtet könnte ich wohl auch eine grüne Hexe sein und jedes Mal am Ende der Geschichte von einem Haus zerquetscht werden, oder?“ Das würde mir den Tag dann echt versauen.
Cindy lacht zwar, doch die Gänsehaut, die sich bei Erwähnung der Hexe des Westens über ihre Arme ausbreitet, ist nicht zu übersehen. Diese Gifthexe ist echt ein mürrischer, alter Haken, und das nicht nur in ihrer Geschichte.
„Kommst du morgen mit auf den Markt?“, wechselt Cindy das Thema und öffnet mir die Tür.
„Klar“, rufe ich über meine Schulter und winke zum Abschied, als ich Adelsburg, den Heimatort der meisten meiner Freundinnen, verlasse. „Wir treffen uns am Brunnen!“
Sie musste mich gar nicht fragen, ob ich kommen würde. Montagmorgens mit meiner besten Freundin durch den Markt in Grimwich zu schlendern, ist genauso eine unabänderliche Tradition wie die Märchen, die wir alle spielen. Obwohl sie üblicherweise die Einzige von uns beiden ist, die dort auch etwas einkauft. Aber das kommt eher daher, dass ich keine Schatzkammer besitze, die bis obenhin mit Goldmünzen gefüllt ist. Ich hab ja auch kein Schloss, wisst ihr noch?
Aber das ist schon okay. Der Wald bietet mir, was immer ich zum Überleben brauche: Nahrung, Holz und Felle. Das raue Leben in der Wildnis hat aus mir eine erstklassige Bogenschützin gemacht und ich kann wunderbar für mich selbst sorgen. Außerdem ist Oma eine tolle Schneiderin. Manchmal näht sie mir neue Kleider, einfache Sachen aus Leinen und Leder, das ich ihr bringe, wenn ich wieder einmal einen Hirsch erlegt und gehäutet habe.
Dieser hübsche Kapuzenumhang war eins der ersten Dinge, die sie jemals für mich gemacht hat. Angeblich hat ihr eine Fee vor vielen, vielen Jahren den roten Stoff dafür geschenkt und gemeint, er solle mich fortan immer vor Unheil bewahren. Letzten Sommer habe ich mir das Handgelenk gebrochen – so viel dazu. Trotzdem nehme ich ihn niemals ab. Na ja, doch – zum Schlafen, aber das war’s dann schon.
Deshalb werde ich auch von allen Rotkäppchen genannt.
Für Schuhe muss ich leider doch Geld ausgeben. Ich blicke runter auf meine Füße, während ich durch den Wald der Morgenröte stapfe. Diese Stiefel sind kaum zwei Jahre alt, praktisch noch brandneu. In jedem Fall gut genug, um noch ein weiteres Jahrzehnt darin zu laufen. Um mir dieses Paar leisten zu können, musste ich alle weißen Rosen der Herzkönigin in ihrem wunderlichen Garten rot streichen, kein Scheiß! Danach hatte ich noch wochenlang Farbe unter den Fingernägeln.
Hinter einer Zeile aus Haselsträuchern vor mir erkenne ich bereits das Strohdach meiner kuscheligen Holzhütte. Ein dünner Rauchfaden steigt noch aus dem Schornstein. Bei diesem Anblick breitet sich in mir ein warmes Gefühl aus. In meinem Haus gibt es kaum nennenswerte Beute für Diebe, darum stehen die blumengeschmückten quadratischen Fenster auch den ganzen Sommer über offen. Als ich näherkomme, begrüßt mich bereits ein Rotkehlchen, das sich unter dem Dach eingenistet hat und gerade fröhlich auf der Fensterbank zwitschert. Ich pflücke eine Himbeere vom Strauch, der sich am Geländer der Veranda hochrankt, und lege sie lächelnd vor meinen kleinen Freund. „Lass es dir schmecken.“
Egal, wie sehr ich mir manchmal auch ein anderes Ende für meine Geschichte wünsche, so seufze ich trotzdem jedes Mal tief und zufrieden auf, wenn ich durch meine Tür trete. Es mag hier drin vielleicht keine Marmortreppe in den zweiten Stock führen – meine Güte, es gibt nicht einmal ein zweites Stockwerk – aber für mich ist es mein Zuhause.
Ich lasse meine Stiefel hinter der Tür stehen und pflanze mich auf die gemütliche Couch. Vor einigen Jahren hat mich Tinker Bell überredet, ihren alten Flachbildfernseher zu adoptieren, als sie mit Däumelinchen, Humpty Dumpty und Hans im Glück in eine WG in Grimwich gezogen ist. Ich schätze mal, sie hatte irgendwie Mitleid mit mir, als sie meine winzige Hütte gesehen hat.
Ohne Kabelanschluss hier draußen im Wald klang der Fernseher eher nach einem schlechten Scherz. Das habe ich ihr aber natürlich nicht gesagt. Man sollte die Gefühle einer kleinen Elfe lieber nicht verletzen. Ganz dumme Idee, glaubt mir. Zudem war es ja auch eine nette Geste und darum staubt das Gerät nun in meinem Keller ein, bis sie sich das nächste Mal für einen Besuch anmeldet – was zum Glück nicht allzu oft passiert. Beim letzten Mal, als ich dieses sauschwere Ding die Treppe hochtragen musste, habe ich mir den kleinen Finger zwischen Türrahmen und Gerät eingeklemmt. Womit wir wieder beim Umhang wären…
Ohne den herkömmlichen Luxus, den die Leute im Dorf genießen, greife ich mir meine alternative Unterhaltung vom Couchtisch: Harry Potter und der Gefangene von Askaban. Das Buch ist Eigentum der Grimwich Bibliothek und, Himmel nochmal, dieser Junge hat in seiner Welt echt eine harte Geschichte zu spielen.
Ich blättere vor zu Seite 302, weil ich letzte Nacht dort stehen geblieben bin, als der Drang eingesetzt hat, hinauszugehen und mit Jack zu spielen. Tief in die Kissen gekuschelt ziehe ich meine Knie an, lehne das Buch gegen meine Oberschenkel und lese die ersten Zeilen auf der Seite. Oh Harry, in welchen Schlamassel hast du dich da nur wieder geritten?
Nach dem zweiten Absatz schließe ich das Buch und lege es zurück auf den Tisch. Die frühe Nachmittagssonne fällt wie ein strahlendes Lächeln durchs Fenster direkt in mein Gesicht. Ich erhebe mich von der Couch und packe vorsichtig eine Flasche Rotwein und Marmorkuchen in mein geflochtenes Weidenkörbchen. Obenauf kommt noch ein besticktes Deckchen, um die Sachen vor neugierigen Vögeln oder anderen hungrigen Mäulern im Wald zu beschützen.
Vor der Tür schlage ich noch kurz meine Stiefel zusammen, damit der getrocknete Schmutz von vorhin abfällt, ehe ich hineinschlüpfe. Dann hänge ich mir wieder Bogen und Pfeilköcher um, schließe die Tür und spaziere durch die Bäume den schmalen Pfad entlang, der zu Großmutter führt. Den langen Weg vertreibe ich mir damit, ein Kinderlied zu summen. Erst als ich anfange, dazu auch noch munter zu hüpfen und fröhlich den Korb neben mir zu schwingen, kommt es mir plötzlich so vor, als hätte ich das alles heute schon einmal gemacht.
„Was zum Jabberwocky –“ Abrupt bleibe ich stehen, hebe den Kopf und schreie zu den Baumwipfeln hoch: „Wollt ihr mich verarschen?!“ Heiliges Märchenbuch, es ist doch noch keine zwölf Stunden her, seit ich diesen Weg zum letzten Mal entlanggelaufen bin und meine Geschichte mit Jack und Oma begonnen habe. Die können doch unmöglich von uns erwarten, heute ein zweites Mal zu spielen.
Dass ich nicht sofort begriffen habe, was vor sich geht, ist nicht ungewöhnlich. Wenn der vertraute Ruf der Geschichte einsetzt, ist es anfangs immer etwas schwer zu unterscheiden, was nun meine wirklichen Gedanken sind und was zur Geschichte gehört. Einmal kam es sogar vor, dass ich überhaupt nicht gemerkt habe, was abgeht, bis Jack vom Bett meiner Großmutter aus nach mir geschnappt hat und fast meinen Umhang zerrissen hätte.
Das war ein ziemlich hartes Erwachen.
Weil der Drang so intensiv ist, bleibt mir gerade nichts anderes übrig, als einfach weiterzugehen. Aber Kreuz, Birnbaum und Granatapfelstrudel, dieses doofe Lied summe ich dabei ganz sicher nicht. Jack wird sich mit meiner finsteren Miene begnügen müssen. Ich weiß auch genau, wo ich ihn finden werde – an der Wegkreuzung gleich hinter der nächsten Biegung. Er wird am Wegweiser lehnen, die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, ein Bein angewinkelt und die Sohle flach an den Pfosten gedrückt. Seine Augen werden durch die wilden schwarzen und dunkelbraunen Strähnen funkeln, die ihm in die Stirn fallen, während er zusieht, wie ich langsam näherkomme. Er wird ein paar Sekunden warten und mir dann ein kleines, schiefes Lächeln schenken. Weil er das nämlich immer tut … schon seit ich mich erinnern kann.
Kapitel 2
Jack
Ich steh auf die Musik in diesem Pub. Das ist der Grund warum ich so oft hierherkomme. Wegen der Band, dem Scotch und um mit Phil und Sebastian Pool zu spielen.
Mein rechtes Bein wippt auf der Stange unter der Bar zum Takt der Bremer Stadtmusikanten, die ihre Rocksongs auf der kleinen Bühne weiter hinten zum Besten geben. Das Essen ist in diesem Laden für gewöhnlich zwar lausig, aber sie machen gute Pommes. Und ich liebe Pommes. Zu dumm, dass ich heute Morgen keine zu Oma Redcoat hatte. Mit einem Eimer voll Ketchup. Die Alte schmeckt nach Rizinusöl und Haferschleim. Ist immer wieder ein ziemlicher Kampf, sie runter zu würgen.
Ich nehme eine Pommes aus dem Körbchen, das Tweedledee – oder war es Tweedledum? – vor mir auf die Theke gestellt hat. Verdammt, ich kann die zwei nie auseinander halten. Zwischen Zigarettenqualm und dem Geruch von abgestandenem Bier in dieser Spelunke, beiße ich das Ende des Kartoffelsticks ab.
„Whisky und Fritten zum Frühstück?“ Ein kehliges Lachen begleitet die adelige Hand, die mir gerade mein Essen klaut. „Sieht aus, als hättest du eine anstrengende Nacht gehabt.“
Ich drehe meinen Kopf nur halb, um Phillip mit einem Brummen zu begrüßen, und esse dann etwas schneller, weil er so lange in das Körbchen fassen wird, bis es leer ist. Normalerweise macht es mir nichts aus, mit ihm zu teilen, aber heute bin ich am Verhungern. „Hol dir dein eigenes Essen, du elender Königssohn.“
„Geht nicht. Ich bin daran gewöhnt, gefüttert zu werden“, antwortet er und grinst dabei um die Pommes in seinem Mund, während er sich schon zwei weitere krallt.
Ich schiebe den Futterkorb auf die andere Seite, wo er ihn nicht mehr erreichen kann. „Dann geh heim nach Adelsburg und sag deinem Mädchen, sie soll dir was Nettes kochen.“
Meine Lederjacke über dem Barhocker neben mir hat ihm einen Platz freigehalten. Er wirft sie über die Theke, zieht den Stuhl geräuschvoll näher heran und setzt sich. „Mein Mädchen hängt gerade mit deinem Mädchen in Jasons Palast ab. Und ich denke, sie kann nicht mal Rührei machen.“
Ein aufgebrachtes Schnappen nach Luft hinter uns lässt uns beide zu einem versteinerten Humpty mit zwei Gläsern Chardonnay in den bleichen Händen herumwirbeln. Seine Augen und sein Mund bilden drei große O’s.
Ist schon witzig, wie Phillip jedes Mal die Farbe ins Gesicht schießt, wenn er jemandem auf die Füße getreten ist. Harter Junge oder nicht, seine wahren Märcheneigenschaften kann man nicht so einfach abschütteln. „Verzeihung!“, murmelt der Prinz zum exzentrischen Ei und reibt sich dabei den Nacken. Dann sehen wir beide zu, wie Humpty Dumpty mit seinen Drinks davonflittert. Als er sich an einen Tisch zu Christopher, der Zahnfee, setzt, widme ich mich wieder meinem Essen.
„Prinzessinnenstammtisch?“, greife ich unser Thema von vorhin auf, als Phil etwas über unsere Mädels gesagt hat. Schon klar, Riley ist nicht wirklich mein Mädchen, jedenfalls nicht im romantischen Sinne. Aber offiziell ist sie es doch. Das Märchengesetz bindet uns fester aneinander, als jeder oberflächliche Ring an ihrem Finger es jemals könnte.
„Eher Gossip Girls, würde ich sagen.“ Phil schnaubt ein leises Lachen und streift sich durch die blonden Haare, ehe er ein Bier bestellt und sich wieder zu mir dreht. „Die ziehen bestimmt von der ersten bis zur letzten Minute über uns her.“
Dass ich meine Fangzähne heute Morgen in ihrem Po versenkt habe, ist bestimmt etwas, das Riley ihren Freundinnen brühwarm erzählen wird. Es kommt äußerst selten vor, dass ich im Spiel außerhalb meiner Rolle handle. Heute war sie aber die ganze Zeit über so frech und hat mich permanent mit ihrem Lieblingsnamen für mich aufgezogen, dass ich nicht widerstehen konnte, sie daran zu erinnern, was für scharfe Zähne ihr Wölfchen doch tatsächlich hat.
Ein böses Grinsen zupft an meinen Mundwinkeln. Sie hat schon einen klasse Hintern. Den hätte ich gerne mal zwischen den Zähnen, wenn kein Umhang im Weg ist. Wetten, ich könnte sie dazu bringen, wie ein Wolf zu jaulen?
Ich esse mein Frühstück fertig, lasse noch drei Fritten im Korb und schiebe diesen anschließend Phillip rüber. Während er sie gierig verschlingt, spüle ich den würzigen Geschmack auf meiner Zunge mit einem Schluck Scotch runter und wische mir danach den Mund in den Ärmel meines schwarzen BSM Band-T-Shirts. Guter Rock geht doch immer.
Mit dem Ellbogen stoße ich meinen Freund an und deute mit dem Daumen rüber zum Billardtisch. „Lust auf ein Spiel?“
Nickend leckt er sich das Salz von den Fingern. Wir rutschen von unseren Hockern, gehen rüber und ich ziehe an dem Hebel, der die Kugeln freigibt. Ein vertrautes Poltern dringt aus dem Inneren des Tisches, als eine nach der anderen ins Ausgabeloch rollt. Phillip richtet sie mithilfe des schwarzen Plastikdreiecks aus, während ich mir einen Queue schnappe und die Spitze einkreide. Den zweiten Stock werfe ich dem Prinzen in hohem Bogen zu.
Mit einer Hand fängt er ihn auf und spitzt ihn ebenfalls an, als plötzlich die Tür aufgeht und eine uns nur allzu bekannte Stimme unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Endlich gesellt sich auch Sebastian mit einem halb verträumten, halb geistesgestörten Blick zu uns in die Kneipe. Die Uhr über der Tür zeigt halb elf. Phillip tritt mit einem fiesen Grinsen in seinem glattrasierten Gesicht vor mich und rollt sich dabei die Ärmel seines roten Shirts hoch. „Der Verlierer muss Sebastian heute nach Hause bringen.“
Das entlockt mir ein Lachen. Wenn Sebastian an einem Sonntagmorgen so spät erscheint, hat es meist nur eines zu bedeuten: Er wurde von seiner eigenen Geschichte mit der kleinen Meerjungfrau aufgehalten. Der Fluch, den die Meereshexe ihm vor Ende auferlegt, macht ihn immer so fertig, dass er sich danach jedes Mal volllaufen lässt, um auch den letzten Rest davon aus seinem Körper zu schwemmen.
Ich nehme mein Scotch-Glas von der Bar und stelle es auf die Kante des Billardtisches. Dann lehne ich mich für den ersten Stoß nach vorne und grinse. „Geht klar.“
Die Kugeln schnellen auseinander und die rote versinkt in der hinteren linken Tasche. Rot ist immer die Erste, die ich einloche.
„Netter Schuss“, meint Sebastian als Begrüßung und lässt sich auf den Holzstuhl an einem kleinen, runden Tisch in unserer Nähe fallen. Er schenkt sich selbst ein Glas Rotwein aus einer Flasche ein, die er unterwegs an der Bar abgeholt hat, und schüttet sich gleich mal die Hälfte davon in den Schlund. Dann macht er es noch einmal randvoll, wippt mit dem Stuhl zurück und schlägt die Beine auf dem Tisch übereinander, wobei er das Glas in unsere Richtung schwenkt. „Cheers.“
Ich versenke zwei weitere Kugeln und verkacke dann den vierten Stoß. Verdammt. Während Phil sich als Nächster auf dem Tisch austobt, greife ich mir meinen Scotch und setze mich zu Sebastian. Wir stoßen an, dann nehmen wir beide einen Schluck – ich einen kleinen und er inhaliert das ganze Glas.
„Na, na, mach mal langsam, Hoheit!“, lache ich. „Nicht, dass du mir nachher noch auf die Schuhe kotzt.“ Und dem Tempo nach, mit welchem Phil die Kugeln einlocht, ist es sehr wahrscheinlich, dass ich am Ende tatsächlich der Glückliche sein werde, der den bald sturzbesoffenen Prinzen nach Hause bringen muss.
„Ich mache am Nachmittag langsam, wenn ich meinen Rausch ausschlafe“, erwidert Sebastian mit einem höhnischen Grinsen und fummelt sich den obersten Knopf seines weißen Hemds auf. „Was jetzt angeht …“ Er hebt die Weinflasche hoch und ruft zu Maid Marianne hinüber, die unter der Woche hier im Shady Wonders kellnert: „Schätzchen, würdest du mir wohl noch so eine bringen?“
Das Mädchen aus den Highlands mit den wilden dunklen Haaren kennt seine Gewohnheiten genauso gut wie wir alle, weshalb sie sich auch gar nicht erst die Mühe macht, ihm zu erklären, dass die Flasche in seiner Hand noch dreiviertel voll ist. Eine halbe Minute später stellt sie ihm eine zweite Flasche Wein auf den Tisch, wischt sich die Hände an der weißen Schürze ab und klopft ihm dann mit mitleidiger Miene auf die Schulter. „Lass es dir schmecken.“
Ich schnappe mir schnell eine Handvoll von Mariannes grünem Kleid, ehe sie wieder davon schustern kann, und hebe den flehenden Blick in ihr sommerbesprosstes Gesicht. „Kannst du ihm bitte auch einen doppelten Cheeseburger bringen?“ Mir ist wohlbekannt, dass Sebastian auf seiner eigenen Hochzeit niemals ein Stück der Torte erwischt, und für ein Saufgelage, so wie er es im Sinn hat, schadet eine solide Unterlage nicht.
Sebastian straft mich mit einem Blick, als wollte er mir sagen, dass ich nicht sein Kindermädchen bin, aber Sabber tropft bei dem Gedanken an Essen praktisch schon aus seinem Mundwinkel. Nach allem, was wir so mitbekommen haben, befindet sich Avalyn gerade auf einer Mission, ihn zum Vegetarier umzuerziehen. Oh, die kleine Meerjungfrau kann es ja versuchen, doch ich bezweifle, dass sie damit sehr weit kommen wird. Ihre einzige Chance wäre es, Sebastian damit zu erpressen, dass sie … Na ja, sagen wir einfach, sie wird’s nicht schaffen.
Phillip hat inzwischen fünf seiner Kugeln abgeräumt, den letzten Schuss hat er aber verfehlt, also tauschen wir die Plätze. Es gelingt mir, alle ganz-farbigen Kugeln bis auf die schwarze zu versenken, und als er wieder an der Reihe ist, schießt er natürlich eine nach der anderen in die Taschen. „Gut gespielt“, gratuliere ich ihm und werfe einen Seitenblick zu unserem Freund, der sich schneller wegknallt, als gut für ihn ist. Das wird später wohl ein interessanter Spaziergang zu seinem Schloss.
Phil und ich machen noch ein paar Spiele und vernichten dabei langsam unsere eigenen Drinks. Als Sebastian aber mit der Birne auf die Tischplatte knallt und zu schnarchen beginnt, einen Arm vor seinem Gesicht, den anderen schlaff neben sich baumelnd, ist der Spaß für uns gelaufen. „Ist wohl an der Zeit, den kleinen Prinzen ins Bett zu bringen“, scherzt Phil und stellt seinen Queue beiseite. Zum Glück muss der schwarzhaarige Königssohn seine Geschichte nicht allzu oft spielen. Der Fluch der Meereshexe wäre ein verdammter Hasenschiss, verglichen mit der Leberzirrhose, die er sich selbst ansaufen würde.
Ich stelle meinen Stock ebenfalls wieder in die Halterung und werfe das Geld für meine Drinks und die Fritten zusammen mit dem Trinkgeld für welchen der Tweedles auch immer auf die Bar. Dann greife ich mir meine Jacke und gehe rüber zu Phil und Sebastian. „Komm schon, hoch mit dir, Dornröschen“, stöhne ich, während ich unter seinen Arm schlüpfe und ihn auf die Beine ziehe. Phillip übernimmt die andere Seite, damit wir ihn zusammen nach draußen schleppen können. Das Grummeln, das aus Sebastians Kehle dringt, ist der Beweis, dass er zumindest noch am Leben ist.
Phillips dachlose weiße Kutsche mit den beiden prachtvollen Schimmeln im Gespann parkt vor dem Pub. Als wir dort anhalten, zögert er einen Moment und tätschelt Sebastian ziemlich unsanft die Wange. „Hey, alles gut bei dir?“
„Mm-hmm“, dringt die raue Antwort von seinem hängenden Kopf.
Ihn mit dem Cabrio heimzufahren, ginge zwar um Einiges schneller, als den halb bewusstlosen Prinzen durch den Wald runter zu seinem Schloss am Strand zu schleifen, aber ich kann schon verstehen, warum Phillip nicht will, dass Sebastian bei ihm mitfährt. Beim letzten Mal, als wir so blöd waren, hat Sebastian sich während der Fahrt übergeben. Und nicht nur einmal. Egal, wie oft Phillips Bedienstete die Polsterung gereinigt haben, der Gestank blieb und er war bestialisch. Phil musste sich eine neue Kutsche besorgen.
Ich bereite mich schon darauf vor, das ganze Gewicht unserer Schnapsdrossel hier zu übernehmen, damit Phil frei kommt, nur setzt gerade in diesem Moment ein ziemlich unwiderstehlicher Ruf aus dem Wald der Morgenröte in mir ein und bringt eine kleine Planänderung mit sich.
„Tut mir leid, aber Sebastian ist heute dein Job“, entschuldige ich mich und wickle den Arm des sternhagelvollen Prinzen um seinen Nacken.
Phillip stiert mich mit großen Augen an, als plötzlich ein ausgewachsener Mann an ihm hängt, den er festhält wie eine tote Ehefrau. „Warum?“
„Date mit Riley.“ Ich klopfe ihm auf die Schulter und grinse halbherzig dabei.
„Schon wieder?“
Manche Geschichten werden öfter erzählt als andere. Phillip und Dornröschen müssen ihre einmal alle paar Tage spielen. Avalyn und Sebastian haben zwischen ihren Spielen meist sogar einige Wochen Pause. Riley und ich hingegen stehen ganz oben auf Märchenlands Most-Wanted-Liste. Wir bekommen kaum mal einen Tag frei. Aber zweimal innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu spielen, ist sogar für uns eine Ausnahme.
Verwegen wackle ich Phil und seinem Anhängsel mit den Brauen zu. Eine Verabredung mit Rotkäppchen ist auf jeden Fall besser als das hier – aus so vielen Gründen.
Klar bedeutet es, dass ich meinen besten Freund diesen Kampf alleine austragen lasse, obwohl er beim Pool gewonnen hat, doch er weiß, dass keiner von uns dem magischen Ruf widerstehen kann, sobald in der Realität jemand „Es war einmal …“ spricht.
Phil überdreht die Augen und beginnt dann zu lachen. „Scheiße, Jack, wenn du das nur erfunden hast, um abzuhauen, trete ich deinen Arsch bis nach Eldorado.“
Mit erhobenen Händen setze ich eine ernste Miene auf. „Keine Ausrede, ich schwör’s.“ Er hat mich Sebastian schon oft heimbringen sehen. Wenn es um meine Freunde geht, drücke ich mich auch nicht vor unangenehmen Jobs, doch die Geschichte geht in jedem Fall vor.
„Ich glaube dir nur, weil ich weiß, dass du diesen Glanz in den Augen niemals vortäuschen könntest, wenn es um Rotkäppchen geht. Trotzdem schuldest du mir was, Kumpel.“
Der Glanz ist keine Absicht, er kommt von meiner wölfischen Seite. Es gibt da einfach diesen tiefsitzenden, nervigen Drang in mir, die Kleine mit Haut und Haar zu vernaschen, sobald ihr Name fällt. Ich will verdammt sein, wenn sie mich jemals lässt.
„Nächstes Mal ist Sebastian wieder mein Problem, versprochen.“ Ich kratze mich am Kopf. „Du könntest ihn natürlich auch dazu bringen, gleich hier auf den Bordstein zu kotzen und ihn dann mit deiner Schleuder heimbringen. Übrigens“, füge ich hinzu und zeige mit einem Finger auf Sebastians Gesicht, das gegen Phillips Brust gebettet ist, „sabbert er gerade auf dein Shirt.“
Angewidert ruckt Phil ihn ein wenig höher und denkt kurz über meinen Vorschlag nach. Am Ende schüttelt er aber den Kopf. „Nö. Ein kleiner Spaziergang an der frischen Luft wird ihm guttun. Wir sehen uns. Und bestell deinem Mädchen schöne Grüße von mir.“
Ich nicke. „Mach’s gut.“ Dann trennen sich unsere Wege.
Der Ruf wird immer stärker und trägt die Vorfreude auf Riley in sich. Ich weiß, dass ich niemals das mit ihr machen darf, was mir im Sinn schwebt, nicht in unserem Geschichtenaufbau, doch das Band zu unserem Märchen ist manchmal echt schwer aus dem Kopf zu kriegen.
Als das Dorf bereits weit hinter mir liegt und ich die Grenzen in den Wald der Morgenröte überquere, fixiere ich ein Reh und ihr Kitz im Gehölz mit hungrigem Blick und lasse dann ein tiefes, kehliges Knurren ertönen, das sie in Entsetzen davon sprinten lässt – einfach, weil ich es kann.
Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zur Wegkreuzung, unserem üblichen Treffpunkt. Wie immer bin ich der Erste, der dort ankommt. Mit den Händen in den Jackentaschen lehne ich mich an den Wegweiser, der nach Grimwich, zu Großmutters Haus, in den Plüschtierhain und zum Glitzergraben zeigt. Letzteres ist dann auch die Richtung, aus der Riley in ein paar Minuten erscheinen wird. Mit einem tiefen Atemzug filtere ich die Luft durch die Nase und kann sie bereits riechen. Verdammt, ich stehe auf diese Mischung aus Morgentau und Walderdbeeren.
Durch mein hochsensibles Gehör, dank des Wolfs in mir, kann ich auch schon ihre Fußtritte ausmachen. Seltsamerweise gibt’s heute mal kein Lied.
Ein leises Lachen entweicht mir. Ooh, da ist wohl jemand sauer. Das wird bestimmt interessant.
Ich winkle ein Bein an und drücke die Fußsohle an den Pfahl hinter mir, senke das Kinn und halte ein Auge auf den Weg. Sie ist schon sehr nahe, ich kann sie bereits spüren. Ein heißes Kribbeln macht sich in meinem Bauch breit und bringt meine Nackenhaare dazu, sich aufzurichten. Es ist immer dasselbe am Anfang unseres Abenteuers.
Zeit, mich am Riemen zu reißen. Der erste Blickkontakt löst in mir üblicherweise den Impuls aus, mich in den großen, bösen Wolf zu verwandeln und auf das Mädchen zu stürzen. Gleich darauf folgt ein viel tieferes Verlangen, andere Dinge mit ihr anzustellen. Sündhafte Dinge. Solange ich mich erinnern kann, habe ich schon versucht, sie vom rechten Weg abzubringen und in ein Reich zu entführen, in dem es keine Scham oder Reue gibt.
Doch sie kommt niemals mit.
Schade. Nur ein blinder Narr würde ihre unschuldige Schönheit nicht erkennen; ihre reizenden Kurven, die meist leider unter ihrem Umhang verborgen bleiben. Doch ich bin kein Narr. Und der schüchterne Blick, den nur sie allein bei jedem ersten Lächeln, das ich ihr schenke, zustande bringt, ist mein Untergang.
Natürlich ist das alles nur Teil unserer Geschichte.
Selbst, wenn ich zugeben muss, dass ich kurz daran gedacht habe, etwas mit Riley anzufangen, als alles mit uns begonnen hat und wir in dasselbe Märchen geworfen wurden. Sie hat mich einfach niedergebügelt. Vielleicht hätte ich sie auch nicht gleich zu einem Date einladen sollen, nachdem ich ihre Großmutter zum ersten Mal gefressen habe.
Rotkäppchen hat mir keine zweite Chance gegeben. Ich habe auch nie nach einer gefragt. In der Stadt gibt es andere reizende Geschöpfe mit Unterhaltungswert. Gretel war für eine Weile recht nette Gesellschaft und sie ist niemals bis zum Frühstück geblieben, was ich sehr zu schätzen weiß. Was Riley angeht, so muss ich ihr keinen Ring an den Finger stecken oder mein Bett mit ihr teilen, denn es gibt da eine Sache, die nicht einmal sie ändern kann. Sie ist mein Mädchen und das wird sie auch für immer und ewig bleiben.
In der Ferne brechen Zweige auf dem Weg und rufen meine Aufmerksamkeit zum Appell.
Fünf … vier … drei … Sie ist gleich hinter der Kurve. Ein Lächeln stiehlt sich in mein Gesicht. Zwei … eins … Und da kommt sie.
Kapitel 3
Riley
Als ich mich der riesigen Eiche vor der letzten Kurve nähere, steigt gerade eine Schar Rotkehlchen auf und zieht über der Baumkrone wunderschöne Ringe. Magie liegt in der Luft … Tut es immer, wenn die Rotkehlchen im Kreis fliegen. Und der Zauber, den sie ankündigen, wartet gleich hinter der nächsten Biegung. Jack.
Der Wolfsteil in ihm macht ihn zu einem besonderen Charakter hier in Märchenland. Wir haben alles Mögliche an magischen Wesen: Meerjungfrauen, Hexen, Feen und Elfen. Weiter östlich im Wald versteckt sich tagsüber sogar ein Vampir in seinem Schloss und in der Umgebung gibt es auch zahlreiche Formwandler. Mit meinem roten Umhang steche ich vielleicht aus der Menge heraus, aber abgesehen davon, bin ich nichts Besonderes. Nicht so wie Jack. Ich könnte mich nicht einmal in eine dämliche Maus verwandeln, selbst, wenn mein Leben davon abhinge.
Aber Jack ist wirklich gut darin. Er kann sich vor- und zurückverwandeln, wann immer er will. Der mächtige herbstfarbene Wolf mit den Schnee- und Sandsträhnchen im Fell ist ein ziemlich beeindruckender Anblick. Obwohl er mich in unserem Märchen nicht fressen darf, wahre ich lieber eine gewisse Distanz zu ihm. Man weiß ja nie, wann ein wildes Tier wie er plötzlich überschnappt und dich nur noch als fette Schweinshaxe sieht.
Ich greife den Korb für Großmutter etwas fester vor meinem Bauch und hebe mutig das Kinn, während ich die letzten Schritte mache, die mich vors Antlitz des großen, bösen Wolfs führen. Obwohl ich ganz genau weiß, was mich erwartet, jagt ein kleiner Schauer aus Angst durch meinen Körper, als sich unsere Blicke zum ersten Mal in dieser frischen Geschichte treffen.
Groß? Jap. Jack ist einen Kopf größer als ich.
Böse? Oh ja! Man muss ihn gar nicht persönlich kennen, um die Gefahr zu wittern, die er mit jedem Atemzug verströmt.
Wolf? Noch nicht. Dennoch werden meine Schritte langsamer.
„Guten Tag, Rotkäppchen“, schnurrt er und neigt den Kopf dabei ein wenig.
Seine dunklen Augen funkeln bedrohlich im gefleckten Licht, das durch die Bäume dringt, und seine Mundwinkel heben sich nach oben. Eine Sekunde lang weiß ich nicht, ob ich zurücklächeln oder lieber die Flucht ergreifen soll. Er löst zu Beginn immer diesen seltsamen Impuls in mir aus, obwohl ich unser Märchen in- und auswendig kenne. Es ist wie ein Reflex, den ich nicht abstellen kann, auch nicht nach so vielen Jahren. Doch er verschwindet in dem Moment, als ich mich daran erinnere, warum wir hier sind. Zweites Spiel an einem Tag. Und ich bin immer noch sauer auf ihn.
Es trennen uns nur noch drei Schritte. Normalerweise bleibe ich vor ihm stehen, damit er versuchen kann, mich in den dunklen Teil des Waldes zu locken. Nicht, dass er damit schon jemals Glück gehabt hätte. Heute habe ich aber keinen Bock auf unser übliches Gespräch. Ich will nur das Märchen so schnell wie möglich hinter mich bringen, schließlich wartet Harry Potter in meiner gemütlichen Hütte auf mich.
Die Zähne aufeinandergepresst, ziehe ich mir die Kapuze tiefer ins Gesicht und stapfe auf dem Weg zu Omas Haus wortlos an ihm vorbei. Meinetwegen kann er hier rumstehen, bis das weiße Kaninchen kommt. Ist mir doch egal.
Jack lacht hinter mir. „Riley! Komm zurück!“
„Nein.“
„Bitte …“
Ach verflucht, ich hasse es, wenn er wie ein armseliger kleiner Welpe klingt. Er macht das einfach viel zu gut. Aber deshalb hält er mich auch nicht auf. Nicht dieses Mal. „Leck –“ Ein ersticktes Japsen entweicht mir, als ich plötzlich herumgewirbelt werde, wobei mir der Korb aus der Hand fällt und über den moosigen Boden kullert.
Mein Rücken wird gegen einen Baumstamm gepresst und Jack drückt seinen Körper gegen meinen. Ich kann seinen Atem im Inneren meiner Kapuze spüren, als er mir ins Ohr knurrt: „Sprich es aus und ich tu’s.“
Grundgütiger, den Wolf damit herauszufordern, war wohl eine ziemlich hirnlose Idee. Was habe ich mir nur dabei gedacht?
In Gedenken an die Begegnung mit seinen scharfen Zähnen heute Morgen, reibe ich mir die Seite meines Hinterns, was ihm nicht entgeht. Sein Blick fällt auf meine Hüften und wandert dann langsam wieder hoch in mein Gesicht. „Brennt’s noch?“, murmelt er mit einem anzüglichen Grinsen und lässt dabei seine Hand an meiner Seite nach unten streifen.
Was zum Teufel? So geht unsere Geschichte doch gar nicht! Mürrisch stemme ich meine Hände gegen seine Brust. „Verschwinde und such dir ein Eichhörnchen, mit dem du spielen kannst. Ich will jetzt nicht mit dir reden!“
Er lässt zu, dass ich ihn ein Stück von mir drücke, aber nicht weit. Nur ein paar Zentimeter. Gleichzeitig schnellt sein rechter Arm nach oben und er stützt sich neben meinem Kopf am Baumstamm ab, womit er mir den Weg abschneidet. „Du weißt, dass es so nicht funktioniert.“ Seine andere Hand hebt sich an mein Gesicht und er streichelt sanft mit den Fingerknöcheln über meine Wange. Dann streift er mir vorsichtig die Kapuze ab, neigt seinen Kopf zu mir und nimmt meinen Blick gefangen. „Also sei jetzt ein braves Mädchen und lass uns ein bisschen Spaß haben.“
Ein Frösteln durchzieht mich, als ich nach Luft schnappe. In all unserer gemeinsamen Zeit hat mich Jack noch niemals auf diese Weise angefasst. Es fühlt sich … seltsam an. Nicht unangenehm. Er hat mich auch noch niemals so angesehen und eigenartigerweise ist es verdammt schwer, wegzuschauen. Was ist denn heute nur mit ihm los?
„Jack …“, flüstere ich. Plötzlich fällt mir die scharfe Note in seinem Atem auf. Meine Brauen knicken ein und meine Stimme bekommt wieder ihre volle Kraft. „Bist du betrunken?“
Er lehnt sich zu meinem Ohr, wobei seine Bartstoppeln leicht über meine Haut kratzen. „Nur ein ganz klein wenig“, raunt er und beißt mich dann ins Ohr. Der flüchtige Schmerz entlockt mir ein erschrockenes Quietschen, was ihn zum Schmunzeln bringt. „Kommst du jetzt endlich mit mir in den dunklen Wald?“
Jack Wolf ist im Leben noch nicht einmal betrunken zur Arbeit erschienen!
Ich habe keine Ahnung, was er jeden Tag macht, nachdem unsere Geschichte beendet ist, aber er nimmt unsere Aufgabe hier normalerweise sehr ernst. Er wartet immer schon an unserem Treffpunkt, wenn ich ankomme. Er macht es mir für gewöhnlich leicht, seinen Verführungen auszuweichen. Und er zögert auch niemals nur eine Sekunde, meine Oma zu verschlingen, obwohl ich genau weiß, wie sehr er sich vor dem Moment fürchtet, wenn der Jäger kommt, um sie zu befreien.
Klar hat keiner von uns beiden damit gerechnet, dass wir uns heute noch ein zweites Mal hier im Wald begegnen und was er in seiner Freizeit anstellt, geht mich ja nichts an. Aber es ist schon irgendwie komisch, ausnahmsweise einen Einblick in sein Privatleben zu bekommen. Ich frage mich, welchen Drink er wohl hatte. Steht er auf Wodka? Whisky? Oder vielleicht Bier? Ich trinke überhaupt nie, daher würde ich den Unterschied auch nicht kennen. Es muss aber mehr als nur ein Glas gewesen sein, sonst würde er sich jetzt sicher nicht so sonderbar benehmen.
Ein sehr verlockender Gedanke kommt mir in den Sinn. Da wir uns hier praktisch sowieso schon auf Abwegen befinden, warum dann nicht gleich noch ein Stückchen weitergehen? Was wäre denn, wenn wir … sagen wir mal, den Plot ein bisschen abändern?
Welche Antwort Jack auch immer von mir erwartet, um unser übliches Märchen fortzusetzen – und welche mir bis eben auch gewiss noch auf der Zunge gelegen hat – ist verpufft. Ebenso verschwindet meine fassungslose Miene, als eine feste Entschlossenheit in mir hochkommt. Ich schließe meinen halb-offenen Mund. Mein Herz schlägt dabei einen waghalsigen Takt. Dann beiße ich mir auf die Lippe und wage einen tiefen Blick in Jacks dunkle und gefährliche Augen. „Okay …“
Er blinzelt. Langsam. „Wie bitte?“
Mein Blick wankt keinen Millimeter und nimmt dabei zweifellos eine hoffnungsvoll aufgeregte Note an, als mir ein kleines Lächeln ins Gesicht schleicht. „Okay … ich komme mit dir in den dunklen Teil des Waldes.“
Jack macht einen Schritt nach hinten und fixiert mich mit Schlitzaugen. „Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“
Nach zehntausend ersten Begegnungen, in denen er immer versucht hat, mich vom rechten Weg abzubringen, irritiert mich seine Reaktion jetzt doch ein wenig. Ein Schmollmund ersetzt mein abenteuerlustiges Grinsen. „Nein. Ich bin es nur leid, immer wieder dieselbe langweilige Geschichte zu spielen. Du nicht auch? Immer der gleiche Weg, immer ein blutiges Ende. Und in all der Zeit gibt es niemals einen Kuss.“
Sein Stirnrunzeln wird immer tiefer. „Du willst geküsst werden?“
„Na ja … jaa.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Alle meine Freundinnen haben Liebesgeschichten. Sie sind glücklich und toootal romantisiert. Irgendwie.“ Energisch hebe ich das Kinn. „Ich will das auch!“
Jacks normalerweise so selbstsichere Haltung kommt ins Wanken, als er von einem Bein auf das andere tritt. „Und du willst das mit mir?“ Sein Blick schweift an mir vorbei zu den Sträuchern und wieder zurück. „Dort hinten, im Schatten?“
„Nein, Dummerchen.“ Ich verdrehe die Augen. „Natürlich nicht.“
„Natürlich nicht“, wiederholt er meine Worte in einem Grollen, als hätte ich seine Gefühle gerade zutiefst verletzt. All die Jahre zu spielen, hat aus ihm einen teuflisch guten Schauspieler gemacht.
„Zu deiner Information“, sage ich mit hoch erhobenem Haupt, „ich will mir einen Prinzen fangen.“
Und darüber lacht er sich kaputt. „Du willst was?“, bellt er mittendrin und steckt die Hände in die Jeanstaschen.
Ich nagle ihn mit einem beleidigten Blick fest und grummle: „Ja, ja, schon gut. Krieg dich wieder ein, Wölfchen.“ Hätte ich diesen Ausbruch kommen sehen sollen? Wahrscheinlich. Trotzdem wird er mich nicht von meinem Vorhaben abbringen. Ich habe einen Entschluss gefasst und wir ziehen das jetzt durch, egal wie lächerlich er die Idee findet.
Ich stakse zum Busch, unter den vorhin mein Korb gerollt ist, hebe die rausgefallene Flasche Wein auf und stecke sie zurück. Jack steht immer noch mitten am Weg und glotzt mich an, als hätte ich mich in einen dreiköpfigen Troll verwandelt. Ich schreite an ihm vorbei in die entgegengesetzte Richtung von Omas Haus und warte darauf, dass er mir folgt. Tut er aber nicht.
„Kommst du jetzt endlich?“, schnappe ich über meine Schulter.
Ein Moment verstreicht, bevor er sich in Bewegung setzt und zu mir aufschließt. „Wohin?“ Seine Stimme hält immer noch einen Hauch von Zweifel.
„Für den Anfang mal in den dunklen Teil des Waldes. Wo ist der?“
„Keine Ahnung.“
Ich halte an und wirble zu ihm herum. „Du weißt es nicht?!“ Völlig außer mir werfe ich die Arme samt Korb in die Luft. „Du hast eine Ewigkeit versucht, mich dahin zu locken. Was dachtest du denn, wohin wir gehen, wenn ich endlich mal Ja sage?“
Seine Augen funkeln wieder düster und ohne jegliche Belustigung. Seine Stimme wird aber hitziger, genau wie meine. „Das stand außer Frage, also musste ich mir darüber auch keine Gedanken machen.“
„Du bist ein Wolf. Streifst du nicht endlos durch diesen Wald, schnüffelst Hasen nach und markierst Bäume? Du solltest diese Gegend wie deine Westentasche kennen.“
„Ich lebe in einem Apartment über Geppettos Werkstatt im Dorf“, brummt er mich von der Seite aus an. „Ich komme nur hierher, um mit dir zu spielen.“
„Na großartig!“ Schnaubend stapfe ich weiter und entscheide mich erst mal für den Weg in den Plüschtierhain. Dort finden wir zumindest etwas, das mir helfen wird, zu bekommen, was ich will.
Jack liest vom Wegweiser ab, wohin wir gehen, und sein Temperament kühlt ab, als sich eine gewisse Neugier bei ihm ankündigt. „Hast du jetzt vor, die drei Bären zu besuchen?“
„Nein. Ich glaube nicht, dass sie eine große Hilfe sein würden.“ Ich ziehe mir die Kapuze über und grinse ihn dann unter dem roten Stoff heraus verwegen an, weil mein Plan einfach genial ist. „Aber Amors Baum steht dort.“
Jeder weiß um die Besonderheit des Baums, doch so wie Jack gerade auf der Innenseite seiner Wange herumkaut, hat er keinen blassen Schimmer, was wir dort wollen. Gut. Er würde vermutlich nur versuchen, mich aufzuhalten, wenn er es wüsste.
Beim Geräusch von plätscherndem Wasser geradeaus, erfasst mich aber dann doch auch ein mulmiges Gefühl. Der Zeitlose Fluss, der rückwärts vom Meer zur Quelle in den Marmorbergen fließt, schlägt eine Schneise durch den Wald der Morgenröte und unterteilt dadurch die verschiedensten Geschichten in ihre Bereiche. Unser Weg führt uns über eine kleine Holzbrücke. Als wir dieser näherkommen, wird Jack automatisch langsamer. Ich weiß, was ihn zurückhält – dem Zug unseres Märchens zu widerstehen, stellt auch mir die Haare im Nacken auf. Es will, dass wir umkehren und zu Ende bringen, was wir angefangen haben. Sogar der Korb in meiner Hand beginnt zu zittern und zerrt wild an meinem Arm, als wollte er uns zurufen, dass Großmutters Haus in der anderen Richtung liegt.
Ich schließe meine Finger fester um den Henkel, bleibe vor der Brücke stehen und wage einen vorsichtigen Blick in Jacks Gesicht. Schweigend starrt er auf die Grenze zwischen Brücke und Land. „Hast du Angst?“, flüstere ich und bin mir dabei gar nicht sicher, ob die Frage wirklich an ihn, oder doch eher an mich selbst gerichtet ist. Was wird wohl passieren, wenn wir den Fluss wirklich überqueren? Niemand hat bisher jemals versucht, aus seinem Märchen auszubrechen – zumindest ist niemand jemals zurückgekehrt und hätte davon berichtet. Gerüchte gehen allerdings um und die sind alles andere als kuschelig.
Jacks Blick wandert zu meiner Seite, doch der Rest von ihm bleibt wie angewurzelt. Ein Funke Ungewissheit schimmert in seinen Augen. „Und du?“
Ich schlucke. Verflucht nochmal, ja, ich habe schreckliche Angst. Aber wenn wir das jetzt nicht machen, bekomme ich nie mein Happy End. Darum ziehe ich tief die Luft ein, wobei ich ihn kaum ansehen kann, und strecke meinen Rücken durch. „Nein.“ Und mit diesem kleinen Wort mache ich einen Schritt vorwärts auf die Brücke.
Sie trägt mich, ohne vor Schreck zu zerbersten und in den Fluss darunter zu poltern. Puh! Eine Sekunde lang war ich mir echt nicht sicher. Doch bei meinem nächsten Schritt entschlüpft mir der Korb und zischt davon. „Was zum –“ Als ich mich herumdrehe, stelle ich fest, dass er direkt in Jacks Arme geflüchtet ist. Ein leises Wimmern driftet heraus.
„Jetzt hast du ihn zum Weinen gebracht“, meint Jack rührselig und drückt den Korb mit vorgetäuschtem Mitleid an seine Brust, als wäre er ein Wolfsbaby. „Ich bin sicher, er will zum Haus deiner Großmutter losfliegen. Er fürchtet sich davor, wegzulaufen.“
Mit einem Grunzen stapfe ich zu Jack zurück und reiße ihm das Weidenkörbchen aus den Händen. „Jetzt mach dich nicht verrückt! Das ist nur ein Korb!“ Ich ziehe das Spitzendeckchen runter und halte ihm ein Stück vom Kuchen hin, den ich für Oma eingepackt habe. „Siehst du? Ganz normales Essen.“ Um meinen Standpunkt zu verdeutlichen, nehme ich einen Bissen davon. Im nächsten Augenblick verdunkeln düstere Wolken den Himmel über den Baumwipfeln und ein fürchterlicher Donner grollt über uns hinweg.
Heiliger Honigtopf am Ende des Regenbogens!
„Riley?“
Mein Blick zuckt vom aufgebrachten Himmel zu einem aufgebrachten Jack.
„Du solltest den Kuchen jetzt lieber wieder in den Korb legen und zu deiner Oma bringen.“
Ich zögere. „Wenn ich das mache, führen wir weiterhin dieselben bescheuerten Unterhaltungen, Tag ein Tag aus, so lange wir leben.“ Mehr Entschlusskraft wandert in meine Stimme. „Und ich finde die Liebe niemals.“
Seine Augen betteln mich förmlich an. „Es gibt Schlimmeres.“
„Tatsächlich? Macht es dir gar nichts aus, dass dir der Jäger jedes Mal am Ende unseres Märchens den Bauch aufschlitzt?“
Seine Antwort lässt ein paar Sekunden auf sich warten, doch sein Blick bleibt unerbittlich. „Ich bin daran gewöhnt. Ich kann es ertragen.“
„Ach ja? Denn ich kann es nicht“, schnappe ich ihn an. „Ich will mehr von meinem Leben.“
Jack streckt seine Hand nach mir aus. „Gib ihn mir.“
„Nein.“ Ich trete einen Schritt zurück.
Seine Augen werden so dunkel, ich glaube, darin den Nachthimmel zu erkennen, als er brüllt: „Gib mir den verdammten Korb, Riley!“
Sein Befehl ist so fordernd, dass er mich damit beinahe wie an unsichtbaren Schnüren zu sich zieht. Aber das kann ich nicht zulassen. Wir sind schon zu weit gekommen, um jetzt noch umzukehren. Das ist meine Chance. Unsere Chance. Darum starre ich ihm genauso finster in die Augen und stopfe mir dann das ganze Stück Kuchen auf einmal in den Mund. Er bläht meine Backen so sehr auf, dass ich nicht einmal mehr kauen kann.
Beim immer lauter werdenden Donner fällt Jack auf die Knie und wirft sich in wilder Panik die Arme über den Kopf. Zum Glück zuckt kein Blitz auf uns herab. Hah! Ist das etwa schon alles? Den Korb immer noch in einer Hand strecke ich die Arme seitwärts aus und hebe den Kopf zum Himmel. Kuchenkrümel sprühen aus meinem Mund, als ich rufe: „Und was jetzt? Ich gehe nicht mehr zurück, also was willst du tun, häh?“
Ich ersticke beinahe an dem trockenen Klumpen und speichle ihn erst einmal ordentlich ein, damit ich ihn endlich schlucken kann. Junge, der ging hart runter. Ich klopfe mir auf die Brust und huste ein paar restliche Krümel hoch. Als das Krächzen schließlich vorbei ist, ist auch das Donnern zu Ende. Es fällt mir aber nur auf, weil Jack inzwischen in der Sonne kniet und nicht mehr im Schatten der Wolken. Er wagt einen vorsichtigen Blick nach oben, ehe er sich wieder zu seiner vollen, imposanten Größe aufrichtet.
„Siehst du?“, sage ich zuversichtlich und schenke ihm ein triumphierendes Lächeln. „Das war nicht das Ende der Welt.“ Ein paar Krümel kitzeln mich immer noch im Hals, darum greife ich kurzerhand in den Korb nach dem Wein. Mit den Zähnen ziehe ich den Korken aus der Flasche und spucke ihn über das Brückengeländer ins Wasser. Doch bevor der erste Tropfen Wein auch nur meine Zunge berührt, schnellt Jack nach vorn und reißt mir die Flasche aus der Hand.
„Tu das nicht“, warnt er und hält den Wein außerhalb meiner Reichweite. „Du hast vorher noch nie Alkohol getrunken, oder?“
„Nein …“ Meine Brauen fallen zu einem V zusammen, da ich den Sinn seiner Frage nicht ganz verstehe. „Warum?“
„Weil ich nicht will, dass du das“ – er fuchtelt wild mit den Armen um sich – „was auch immer wir hier gleich tun, betrunken durchziehst.“ Dann streift er sich nervös durch die gesträhnten, chaotischen Haare. Ich wette, wenn er könnte, würde er jetzt wie ein feiges Huhn nach Hause rennen. Aber wie würde es denn aussehen, wenn der große, böse Wolf den Schwanz einzieht, während ein kleines, hilfloses Mädchen fest hier stehen bleibt? Das tut er ganz bestimmt nicht. Erst sieht er mich an, dann die Flasche, und am Ende nimmt er einen großen Schluck davon. Ich weiß nicht, ob er das macht, um sich selbst zu beruhigen, oder ob er versuchen will, den Fusel zu eliminieren, ehe ich ihn wieder in die Finger bekommen kann. Doch als sein Blick auf den leeren Korb in meinen Armen fällt, entweicht ihm ein leises Stöhnen.
Ein Anflug von Niederlage streift durch seinen Blick, ehe er die Flasche einfach von der Brücke ins Wasser wirft. Sie dümpelt gemütlich auf und ab, während der Fluss sie hinfort trägt.
Einen unendlich lang erscheinenden Moment stehen wir beide einfach nur auf der Brücke und sehen uns an. Dann drehen wir uns langsam zur anderen Seite, wo sich der Plüschtierhain vor uns erstreckt.
„Du wirst uns so was von in Schwierigkeiten bringen“, meint Jack, als er schließlich vor meinem Plan kapituliert.
Ich eröffne ihm ein strahlendes Lächeln. „Seit wann hast du denn Angst vor Schwierigkeiten?“
Der Schalk blitzt in seinen Augen, als sein rechter Mundwinkel nach oben zuckt und er knurrt. Ich wusste, dass er dieser Herausforderung nicht widerstehen kann. Von einer heranrollenden Welle der Aufregung gepackt, werfe ich den Korb der Flasche hinterher, nehme Jacks Hand und ziehe ihn mit mir in ein spannendes neues Abenteuer.
Kapitel 4
Jack
Sie ist hinreißend, wenn sie aufgeregt ist. Ist mir vorher noch nie aufgefallen. Das ist auch der einzige Grund, warum ich nachgebe und Riley in den anderen Teil des Waldes folge.
Der Plüschtierhain ist ein gefährliches Pflaster. Zu viele Teddys und Häschen leben dort. Da der Ruf unseres eigenen Märchens bereits eingesetzt hat, wird es nicht mehr lange dauern, bis der Wolf in mir raus will zum Spielen. Er hat Hunger. Ich vermute mal, es wird kein allzu großes Problem sein, wenn ich das Mittlere der drei kleinen Schweinchen fresse. Es gäbe dann ja immer noch den Ziegelbauer und eine weitere Sau. Aber falls uns ein gewisses Ferkel oder ein saftiger gelber Bär zum falschen Zeitpunkt über den Weg laufen, könnten die Dinge hier in Märchenland ganz schnell haarig werden.
Das würde ich nur zu gern vermeiden und zurückgehen, um unser Spiel zu beenden. Die alte Mrs. Redcoat wartet bestimmt auch schon auf ihren Kuchen. Sie wird nicht besonders glücklich sein, wenn sie herausfindet, dass Riley sich das ganze Ding in den Rachen geschoben hat. Bei dem Gedanken an ihre prallen Eichhörnchenbacken stiehlt sich ein Lächeln auf meine Lippen. Verrücktes Mädel. Mir war gar nicht bewusst, dass sie so ungestüm sein kann.
„Was willst du denn eigentlich von Amor?“, frage ich, während wir durch den Bilderbuchwald spazieren. Sie hält immer noch meine Hand, an der sie mich den Weg entlang zieht, als hätte sie Angst, ich könnte meine Meinung ändern und in den nächsten fünf Sekunden in die andere Richtung abhauen. Tja, Honeydrop, falls ich das mache, hängst du sicher über meiner Schulter und kommst mit. Versprochen. Keine Chance, dass ich ohne sie zurückgehe. Tatsächlich warte ich nur darauf, dass ihr klar wird, auf welche hirnrissige Mission sie uns beide da geschickt hat, und sie wieder zu Sinnen kommt. Wir können unsere Rollen nicht allzu lange ignorieren, andernfalls wird die Situation ziemlich unschön.
„Von Amor?“ Übermütig sieht sie zu mir hoch, wird aber kein bisschen langsamer. „Nichts. Und ich hoffe ganz stark, dass er nicht in der Nähe ist, wenn wir seinen Baum erreichen.“
Jetzt packt mich die Neugier doch auch an den Eingeweiden. Als sie von Romantik sprach und den Engel in Windeln mit seinem Bogen und den magischen Pfeilen erwähnt hat, dachte ich erst, sie hätte vielleicht von einem Weg gehört, unsere Geschichte ein wenig aufzupeppen. Ob uns der kleine Flatterkerl dabei wirklich helfen kann, bezweifle ich aber. Vielleicht funktioniert es ja mit einer offiziellen Anhörung vor dem großen Geschichtenerzähler. Aber nach allem, was man so über ihn hört, ist er selbst wohl auch nur ein Mythos.
„Hast du vor, ihm ein paar Äpfel zu klauen?“, scherze ich, denn ich kann mir nicht vorstellen, was Riley dort sonst finden will.
„Keine Äpfel …“ Ihr verwegener Blick sucht meinen aus ihrer Kapuze heraus, als der Wald vor uns anfängt, sich zu lichten. Wir kommen auf eine sonnengeflutete Wiese mit einem einzigen riesengroßen Baum in der Mitte. „Nur ein paar Äste.“
„Äste?“ Jetzt muss ich lachen. „Was willst du denn da—?“ Die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich halte schlagartig an und wirble sie zu mir herum. „Warte! Du hast doch wohl nicht vor …“
„Und ob!“ Ihre zarte Hand rutscht aus meiner und sie stemmt beide in ihre Hüften. „Ich habe ein Recht auf Romantik. Und wenn ich es in meine eigenen Hände nehmen muss, dann mach ich das eben.“
„Dieser Baum ist magisch. Es ist verboten, Äste oder auch nur Blätter von ihm abzurupfen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob du ihn überhaupt anfassen darfst.“ Wild fuchtle ich mit den Händen vor ihrem Körper herum. „Außer du hast unter deinem Umhang ein Paar Flügel versteckt, von denen ich nichts weiß.“
„Wann genau bist du denn zum Weichei geworden, Wölfchen?“, zieht sie mich auf. „Ich kenne Leute, die Leute kennen, die Geschichten über dich erzählen … Und dein Ruf spricht für sich selbst.“
Die Ironie ist mir durchaus bewusst. Wann habe ich mich jemals von etwas aufhalten lassen, nur weil es verboten war? Andererseits ist es aber auch nicht lustig, von den Dorfleuten, die mir das Fell über die Ohren ziehen wollen, mit Heugabeln verfolgt zu werden. In Wahrheit bin ich ziemlich froh darüber, dass ich mich in den letzten Jahren bedeckt halten konnte. Außerdem geht es hier um das Mädchen, mit dem ich schon seit Anbeginn der Zeit ein Märchen spiele. Sollte sie tiefere Veränderungen an dem vornehmen, was wir beide haben, würde mir das eher weniger gut gefallen.
„In dieser Geschichte bin ich der gemeine Wolf, schon vergessen? Von mir wird erwartet, böse zu sein. Du aber bist … das brave kleine Rotkäppchen.“ Mit der Betonung der letzten Worte mache ich meinen Standpunkt hier unmissverständlich klar.
Riley grübelt lange darüber nach. Ihre Miene bleibt dabei todernst und sie lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Bis sie sich plötzlich auf die Zehenspitzen stellt, sich ganz nahe zu mir nach vorne lehnt und flüstert: „Angsthase.“
Ein irritiertes Knurren rollt aus meiner Kehle. Das Mädchen braucht wohl dringend etwas Nachhilfe darin, mit welchem Tier sie es hier zu tun hat. Mit festem Griff um ihre Taille ziehe ich sie an mich heran und brumme ihr ins Gesicht: „Wenn ich nicht befürchten müsste, dich bei lebendigem Leib zu fressen, würde ich jetzt den Wolf rauslassen, um diese dumme Unterhaltung ein für alle Mal zu beenden.“
Ein kleines Angstquietschen entweicht ihr durch die leicht geöffneten Lippen und sie drückt gegen meine Brust. Aber der erste Schockmoment ist sofort verstrichen und in ihre Augen tritt ein höhnisches Funkeln. „Werd jetzt bloß nicht zum Macho-Wolf! Komm lieber und hilf mir, ein paar Äste abzubrechen.“
Mir bleibt nicht einmal Zeit, um eine Antwort rauszuhauen, denn sie packt mich schon wieder an der Hand und zieht mich mit ihren so typisch beschwingten Schritten hinüber zum Baum. Was zur Hölle? Wieso lasse ich mich von der Kleinen seit Neuestem ständig herumkommandieren? Noch nie hat mich jemand so überfahren wie sie gerade.
Auf der anderen Seite fühlt es sich aber auch sehr eigenartig an, außerhalb unseres Märchens mit ihr zusammen zu sein. Jede einzelne unserer Zeilen ist vorherbestimmt. Bisher gab es nie auch nur die kleinste Abweichung. Ich kannte dieses Mädchen – jede ihrer Bewegungen und jedes einzelne Wort – in- und auswendig. Aber jetzt, zum ersten Mal seit so vielen Jahren, weiß ich nicht, was ich von ihr erwarten soll.
Unsicherheit hält meine Zunge gelähmt, als ich mich von ihr über die saftige Wiese zerren lasse. Sie ist wie das junge, übermütige Wölfchen, mit dem sie mich so gerne aufzieht.
Unter dem Apfelbaum hält Riley an, nimmt ihren Bogen und Köcher ab, lehnt beides an den Stamm und hebt das Kinn, um in die weit ausladende Baumkrone zu blicken. Die Äste sind etwas zu hoch für sie, um ranzukommen, was ihr ein Seufzen entlockt. Tja, Pech gehabt, kleines Mädchen. Ich schätze mal, sie wird jetzt endlich diese bescheuerte Idee fallenlassen, und wir können zurückgehen.
Oder … sie öffnet den einzigen Knopf am Kragen ihres Umhangs und nimmt ihn ab.
„Mmh, strippst du jetzt?“ Da werden die Dinge doch gleich viel interessanter. „Mach nur weiter!“, fordere ich sie mit einem schiefen Grinsen auf, lehne mich rücklings an den Baum und beobachte sie mit verschränkten Armen und Knöcheln überkreuzt.
„Nein, ich strippe nicht.“ Riley wirft mir einen düsteren Blick zu und schleudert mir dann den zusammengeknüllten Umhang ins Gesicht. Sie zieht auch noch ihre Stiefel aus und stapft dann barfuß auf mich zu. Als sie Nase an Nase vor mir stehen bleibt, habe ich keinen Schimmer, was als Nächstes kommt. Aber ich frage mich …
„Heb mich hoch!“
Ihre Worte lassen meine Gedanken entgleisen. Für einen kurzen Moment bin ich sprachlos. Dann schüttle ich mich. „Was?“
„Hilf mir da rauf!“, befiehlt sie. „Ich muss ein paar gute Äste abbrechen.“
Mit geneigtem Kopf ziehe ich eine Augenbraue hoch. „Du machst Witze, oder?“
„Na, ich kann doch da nicht alleine raufklettern.“ Ihr Blick wandelt sich von gebieterisch zu hilflos und unschuldig in unter einer Sekunde. „Du bist stark und groß. Ich brauche deine Hilfe. Bitte, Jack.“
Ich weiß echt nicht, wie sie es anstellt, aber im nächsten Moment werfe ich ihren Umhang ins Gras, verschränke meine Finger, die Lippen aufeinandergepresst, und gehe leicht in die Knie, damit sie ihren zierlichen Fuß in meine Hände stellen kann. Sie hält sich an meinen Schultern fest, gibt ein kleines Nicken von sich und ich hebe sie an.
„Höher, Jack!“, verlangt sie. Viel höher geht aber nicht mehr. Egal, sie findet trotzdem ihren Weg. Mit den Fingern krallt sie sich in meinen Haaren fest, schiebt ein Knie auf meine Schulter, das zweite kommt auf die andere Seite und dann verschluckt mich ihr Rock.
„Riley …“, entweicht mir ein tiefes, kehliges Stöhnen, als sich mein Kopf plötzlich direkt zwischen ihren Schenkel befindet und meine Nase nur noch zwei Zentimeter von ihrem roten Spitzenhöschen entfernt ist. Verflixter Schatz eines Kobolds, weiß sie überhaupt, was sie hier mit mir anstellt?
Ich schätze mal eher nicht, da ihr Befehl „Halt still, ich hab’s gleich!“ in der folgenden Sekunde durch diesen rotgefärbten Bann, den sie über mich geworfen hat, zu mir dringt. Hinter geschlossenen Lidern rolle ich mit den Augen und bete dabei für die nötige Selbstbeherrschung, um hier nicht gleich etwas Saudummes anzustellen.
Weil sie sich als Nächstes zu einem Stand auf meinen Schultern hochrappelt, halte ich ihre Knöchel fest, damit sie mir nicht runterfällt. Ihre Haut ist warm und zart unter meinen Fingern. Verführerisch. Langsam schiebe ich meine Hände höher und lasse sie dabei über ihre Waden und Schienbeine gleiten. Verdammt, Riley fühlt sich wie verbotene Seide an. Zwischen ihren Beinen gefangen, wandert mein Blick ganz von allein nach oben. Die Belohnung ist ein Ausblick ins Paradies. Direkt über meinem Gesicht befindet sich der verlockende rote Apfel und wartet nur darauf, gepflückt zu werden.
„Jack! Betatscht du mich gerade?“, kommt ein mädchenhaftes Schnauben von oben.
Meine Hände versteinern an Ort und Stelle. „Nein.“
Eine Hand am Baum für den nötigen Halt, beugt sie sich nach unten, rafft das Kleid zwischen ihren Oberschenkeln zusammen und funkelt mir böse ins Gesicht. „Glotz mir nicht unter den Rock, Wolf!“
Ich kann mir ein anzügliches Grinsen gerade schlecht verkneifen. „Dann hör auf, da oben rumzuspielen, und komm endlich runter!“
„Gleich! Ich muss nur noch …“ Da sie offenbar ihr Kleid nicht loslassen will und die andere Hand braucht, um sich, was auch immer sie gerade entdeckt hat, zu greifen, fängt sie an, auf meinen Schultern zu wanken. Selbst mit festem Griff um ihre Beine kann ich sie nicht mehr lange ausbalancieren.
„Riley! Komm runter!“, brumme ich.
Ein Kreischen ertönt, ihr Kleid fächert wieder aus, Holz knackt, als es zerbricht, und im nächsten Moment fällt sie in meine Arme. Sie ist leicht wie eine Feder, praktisch zu halten. Der Schock hat ihr eine zarte Röte in die Wangen getrieben. Ich puste ihr ein paar wilde Haarsträhnen aus dem Gesicht und funkle sie grimmig an.
„Ups“, meint sie nur als Entschuldigung. Dann strecken sich ihre rosigen Lippen zu einem stolzen Grinsen, weil sie in jeder Hand einen Stock hält.
Ich stelle sie auf die Füße und während sie sich die Stiefel wieder anzieht, sehe ich mich rasch um, in der Hoffnung, dass das gerade niemand gesehen hat. Zum Glück sind wir immer noch alleine hier draußen. „Und was jetzt?“ Mein vorwurfsvoller Blick findet wieder zu ihr. „Willst du damit jemandem eins überbraten?“
Wild entschlossen starrt Riley zurück, sinkt dann aber auf einen Felsbrocken im langen Gras in der Nähe des Baums und überrascht mich, als sie aus ihrem rechten Stiefel ein Taschenmesser holt. „Jetzt mache ich mir einen Pfeil.“ Sie klappt die Klinge auf und beginnt damit, ein Ende des geraden Astes anzuspitzen. „Und anstatt hier ständig nur dumme Sprüche zu klopfen, solltest du mir lieber dabei helfen.“ Ganz offensichtlich genervt von meinem fehlenden Enthusiasmus für ihre Mission, springt sie noch einmal auf und stapft auf mich zu, wobei sie mir den zweiten Liebeszweig energisch gegen die Brust drückt. „Ich nehme an, du hast ein Messer. Oder dürfen Wölfchen nicht mit scharfen Gegenständen spielen?“
Argh! Ich schnappe mir den Stock und hole mein Messer hervor, das ich anders als sie lieber in der hinteren Hosentasche trage. Anschließend setzen wir uns beide auf den Felsen, der groß genug für zwei ist, und machen uns still ans Werk.
Immer mal wieder schiele ich zu ihr hinüber, um zu sehen, wie verblüffend gut sie eine Waffe schnitzen kann. „Was willst du denn eigentlich mit den Pfeilen anstellen, wenn sie fertig sind?“, murmle ich nach einer Weile.
„Mir einen Prinzen schießen natürlich.“
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Und dann glücklich mit ihm bis ans Ende eurer Tage leben?“
„M-hm.“ Ihr ganzer Ärger von vorhin ist verflogen und sie arbeitet nur noch voller Ehrgeiz vor sich hin. „Weißt du, Grimm war ein richtiger Bastard.“
„Wieso?“
„Weil er mich nicht in eine schöne, romantische Liebesgeschichte geschrieben hat. Deshalb muss ich mich jetzt selbst darum kümmern.“
Gütiger Himmel, ich war der Meinung, es sei alles nur ein Scherz, als sie darüber geredet hat, dass sie einen Prinzen für sich will. Jetzt steigt aber ein flaues Gefühl in mir hoch. Das kann sie doch nicht wirklich tun, oder? Ich meine, unser Märchen ist in Stein gemeißelt. Sie kann mich unmöglich einfach so durch ein anderes Happy End ersetzen.
Was wird denn aus mir, wenn sie in eine andere Geschichte schlüpft? Ich bin der große, böse Wolf. Für den gibt es nicht allzu viele Optionen in Märchenland. Entweder fange ich an, die Häuser der drei kleinen Schweinebacken umzublasen, oder ich übernehme die Rolle in Peter und der Wolf. Aber Peter ist … Na ja, Scheiße, ich will einfach nicht mit Peter spielen, okay?
Riley bearbeitet bereits das hintere Ende des Pfeils, indem sie einen Schlitz ins Holz schneidet und ein paar kleine Blätter als Federnersatz hineinsteckt. Als sie fertig ist, läuft sie rüber zum Baum, um ihren Bogen zu holen, und spannt ihn zum Test ein. Sieht gut aus. Viel zu gut. Genau genommen so gut, als könnte er tatsächlich zu dem Zweck eingesetzt werden, für den er geschnitzt wurde.
Fertig mit meinem eigenen Pfeil, stehe ich auf und gehe zu ihr, wobei ich den Stock durch meine Finger wirbeln lasse. Eine düstere Note schleicht sich in meine Stimme. „Weißt du überhaupt, wie es funktioniert? Wo du den Prinzen treffen musst, damit er sich in dich verliebt?“
„Ich ziele einfach direkt auf sein Herz.“ In guter Laune und mit ihrem aufgeweckten Grinsen wieder an seinem Platz, dreht sie sich mit gespanntem Bogen zu mir und richtet die Spitze auf meine Brust.
Ich höre auf, den Stock zu kreiseln. Ein gefährliches Knurren kommt aus meiner Kehle. „Ganz schlechte Idee, Honeydrop.“ Mit zwei Fingern schiebe ich ihre Waffe zur Seite. „Wir wollen doch nicht, dass das Ding hier versehentlich losgeht.“
Lachend macht sie einen Schritt zurück und hebt den Bogen wieder an. Gleiches Ziel. „Warum nicht? Hast du Angst, du könntest endlich mal ein wenig Liebe für jemanden empfinden?“
Oh, Rotkäppchen möchte spielen? Dann sollten wir vorher aber auch sichergehen, dass sie die Regeln versteht. „Wenn du jetzt auf mich schießt, bist du die einzige Person weit und breit, in die ich mich verlieben könnte.“ Mit tief gesenktem Kinn und festem Blick auf sie gehe ich mit langsamen, raubtierartigen Schritten auf sie zu. „Also verrate mir, kleine Riley … willst du wirklich einen liebeskranken Wolf an der Backe haben?“
Die Erkenntnis, mit welcher Gefahr sie hier gerade spielt, schillert in ihren Augen. Aber ihr furchtloses Grinsen verfliegt trotzdem nicht. Sie zieht sich nur vorsichtig zurück, behält mein Herz dabei jedoch immer noch im Visier. „Uuh, ein süßes kleines Wölf—whoa!“ Ihre Füße haben sich in dem roten Stoffhaufen hinter ihr verfangen und der Pfeil zischt los, als sie hinfällt.
Dank meiner verteufelt guten Reflexe, fange ich den Stock mit einer Hand auf, ehe sich die scharfe Spitze durch mein Herz bohren kann. Mit etwas Druck meines Daumens breche ich ihn in der Mitte durch und Rileys Mund klappt nach unten. Es ist an der Zeit, Rotkäppchen eine Lektion zu erteilen.
Ich werfe die beiden Enden beiseite und lasse das freche Gör auf dem Boden dabei nicht aus den Augen. Während ich mich langsam auf sie zubewege, verwandle ich mich in den Wolf und spüre das warme Gras unter meinen vier Pfoten. Immer noch liegt sie reglos auf ihrem Rücken und ihre Augen gehen vor Schock weit auf, denn sie hat mir noch niemals zuvor dabei zugesehen. Als ich direkt über ihr stehe, meine Schnauze nur wenige Zentimeter von ihrer Nasenspitze entfernt, fletsche ich die Zähne und schnaube den heißen Atem in ihr Gesicht.
Und jetzt … bettle um dein Leben, Rotkäppchen.
Mein Wolfsgesicht spiegelt sich in ihren großen, ängstlichen Augen. Ihre Wangen haben die Farbe verloren und ihr Atem stößt zittrig aus ihrem Mund. Jap, das ist genau die Reaktion, die ich wollte. Doch dann blinzelt sie ein paarmal und ein viel zu schmeichelhaftes Lächeln vertreibt ihren furchtvollen Blick. „Es tut mir leid, Jack.“
Nein, ich entschuldige das jetzt nicht!
Vorsichtig greift sie hoch und fängt an, die Stelle hinter meinem Ohr zu kraulen. Was zur Hölle?! Ich will nach ihrer Hand schnappen – behutsam natürlich, damit ich sie nicht verletze – doch ihre Finger in meinem Fell sind magisch. Verflucht, fühlt sich das gut an. Sie kitzelt mich und auf einmal kann ich nur noch die Augen zukneifen und mich ergeben.
Meine Knie werden weich. Ja, so ist es gut. Genau da, Baby. Nur nicht aufhören! Mit einem besoffenen Stöhnen sinke ich neben ihr ins lange Gras und lege meinen Kopf auf meine Vorderpfoten.
Riley richtet sich auf und macht mit den Streicheleinheiten weiter. Leise kichert sie dabei. „Gefällt dir das?“
Meine Augen springen auf. Verdammt! Nach einem letzten, launischen Knurren verwandle ich mich zurück und erhebe mich von der Wiese. „Nein.“ Während ich mir den Schmutz von den Jeans klopfe, werfe ich ihr einen warnenden Blick zu. „Und hör auf, mit Pfeilen auf mich zu schießen!“
Heiliger Flohzirkus! Was hat mich denn zu diesem unkontrollierten Fellknäuel gemacht? Ich nutze den Moment, als Riley aufsteht und kurz mal nicht hersieht, um mich zu schütteln. Das war ja vielleicht irre. Bis zum heutigen Tag hat mich noch niemals ein Mensch in meiner Wolfsform angefasst. Außer dem Jäger, aber seine Berührungen sind nicht gerade angenehm – und er hat auch immer ein Messer dabei. Während Riley sich ihr Cape wieder umhängt und am Kragen zuknöpft, beobachte ich sie durch schmale Augen. Dieses Mädchen ist gruselig.
Ich brauche einen Drink. Ohne ein Wort marschiere ich los über die Wiese, hinüber zu den Bäumen, denn von dort führt der kürzeste Weg zurück in die Stadt. Sie folgt mir, nachdem sie den noch heilen Pfeil aufgehoben hat. Mit einem neckischen Grinsen im Gesicht hängt sie sich den Bogen samt Köcher wieder um und springt vergnügt neben mir her. „Wohin gehen wir jetzt?“
„Pub. Ich bin fertig.“
„Was? Nein!“ Schlagartig verschwindet ihre fröhliche Miene und sie fasst meinen Arm, um mich aufzuhalten. „Komm schon, Jack! Lass es uns wenigstens versuchen.“ Gleich darauf packt sie mich am Hemdkragen und zieht sich daran auf die Zehenspitzen. Ihre Nase stupst an meine. „Biiitteee. Wir sind doch schon so weit gekommen. Lass uns einen Prinzen suchen und auf ihn schießen. Vielleicht klappt’s ja.“
Ich runzle die Stirn. „Nun, falls nicht, bist du die neue Todesfee von Märchenland. Dann brauchst du dir zumindest keine Gedanken mehr über dein Liebesleben zu machen.“
„Also kommst du mit?“
Für einen langen Moment sehen wir uns gegenseitig in die Augen. Ihre glitzern wie zwei Honigtropfen in der Sonne. Und plötzlich wird mir bewusst, warum ich dieses Mädchen in all den Jahren niemals fressen konnte. Sie hat mich um den Finger gewickelt. Es sind ihre Augen, ihr unschuldiger Blick. Sie braucht nur einmal dieses hoffnungsvolle Wackeldings mit den Brauen zu machen und ich werde zu Wachs in ihren Händen. Fuck! Wann ist das denn bitte passiert?
Ich schlinge meine Finger um ihre und löse sie sanft von meinem Shirt. „Mmrrr … okaaay.“ Irritiert verdrehe ich die Augen. „Wenn du schon einen Prinzen totschießt, sollte ja zumindest jemand in der Nähe sein, der den Körper verschwinden lässt. Und ich habe heute sowieso schon mein Granny-Meal verpasst.“
„Oh, Jack, du bist der Beste!“ Mit beherzten Hüpfern eilt sie mir ein paar Schritte voraus, wobei ihr Umhang genauso lebhaft wie sie im Wind flattert. Dann bleibt sie stehen und dreht sich erwartungsvoll zu mir um. Ich kann ihren Enthusiasmus leider nicht teilen, tut mir leid. Sie wird sich schon mit meinem launisch langsamen Schlurfen abfinden müssen.
Überraschenderweise tut sie das sogar, ohne sich zu beklagen. Doch während sie neben mir hergeht, ist ihr aufgeregtes Zittern trotzdem zu spüren. Riley ist heute wie ein fluffiger Ball aus Einhornlachen. Wie eine einzelne Person so quirlig sein kann, will mir nicht in den Sinn. Und dennoch bringt sie mich zum Schmunzeln.
Ein paar Schritte weiter drehe ich den Kopf zu ihr und hebe eine Augenbraue an. „Bist du immer so hibbelig außerhalb unseres Märchens?“
Statt mir eine Antwort zu geben, kann ich erkennen, wie sie sich bemüht, ruhiger zu werden. Ohne Erfolg. Letztendlich wandert ihr strahlender Blick wieder zu meinem Gesicht. „Vermutlich.“ Sie umfasst die Sehne ihres Bogens, die quer über ihre Brust läuft, und springt noch einmal ein paar Meter voraus, dann kommt sie wieder zurück. Nun winden sich ihre Hände aufgeregt um meinen Arm. „Stell dir nur vor, heute Abend könnte ich schon mein Happy End gefunden haben. Wir könnten ausgehen, er hält um meine Hand an und am Ende dieser Geschichte feiern wir eine wundervolle Hochzeit in seinem Palast.“ Ihre Augen gehen auf wie Sonnenblumen im Juli. „Wäre das nicht ein bezauberndes Ende?“
Das einzige Ende, das ich gerade vor mir sehe, ist, wie ich die Rolle in Peter und der Wolf spiele und im finalen Viertel die Dorfbewohner mit Mistgabeln hinter mir herjagen. Also nein, das wäre nicht bezaubernd.
Um uns herum wird der Wald wieder dichter. Wir müssen uns bereits in Kansas befinden, denn der Tornado hat hier eine gewaltige Schneise geschlagen. Ein umgestürzter Baum liegt quer über dem Weg und ich helfe Riley darüber. Dorothys Haus steht weit draußen auf dem offenen Feld, das sich links von uns erstreckt, aber da wollen wir nicht hin, teilt sie mir mit. Vor uns befindet sich ein weiterer Wegweiser, zu dem mich mein roter Hüpfball zieht. „Camelot?“, lese ich laut.
„Ja. Die haben doch König Artus. Seine Frau ist mit dem ersten Ritter durchgebrannt, also ist er wieder Single, oder?“ Sie grinst bis über beide Ohren. „Perfekt für mich.“
„Ah, dann ist es dir jetzt also nicht mehr genug, nur Prinzessin in einem gemütlichen kleinen Schloss zu werden?“, lache ich. „Du willst gleich ein ganzes Königreich regieren.“
„Nicht wirklich“, gibt sie nach einem nachdenklichen Moment kleinlaut zurück. „Aber er ist der einzige alleinstehende Royal in Märchenland, von dem ich weiß. Ich will keiner anderen Frau den Prinzen stehlen.“ In der nächsten Sekunde hellt ihre Miene wieder auf. „Und nach allem, was ich im Character Magazine gesehen habe, ist er heiß.“
„Heiß, hm?“
„Ja, na eben echt anziehend, du weißt schon.“ Sie steigt auf einen großen Stein und wirft grinsend ihr Haar über die Schulter, dann kitzelt sie mich an der Stelle hinter meinem Ohr, an der sie mich vorhin als Wolf gekrault hat. „Nicht so wie zottige Wölfchen.“
Hat sie das gerade echt getan? Ich verenge die Augen zu einem verspielt finsteren Gesicht und grinse bedrohlich. „Lauf … Rotkäppchen.“
Als ich dabei auch noch ein Knurren ertönen lasse, flitzt Riley quietschend auf und davon. Ich jage ihr hinterher, aber nicht in Wolfsgestalt, denn das wäre zu einfach. Und zu gefährlich. In der Nähe eines kleinen Baches, der unseren Weg kreuzt, hole ich das Mädchen in Rot ein und packe sie von hinten. Überrascht schnappt sie nach Luft. Weil ich mit ihr nicht ins Wasser fallen will, hebe ich sie hoch und mache einen Satz über den Bach. Auf der anderen Seite purzeln wir beide zu Boden, wobei Riley auf mir landet.
In meinen Armen muss sie so heftig lachen, dass sie kaum von mir runter klettern kann. Der Klang ist interessant – und niedlich. Wie das Wiehern des violetten My Little Pony. Für einen langen Moment sehe ich sie einfach nur an. Ein seltsames Gefühl breitet sich gerade in mir aus und ich hebe die Hand, um ihr mit dem Daumen eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen.
Ihr Gesicht fühlt sich unbeschreiblich weich an und ganz plötzlich möchte ich mehr über dieses Mädchen wissen, von dem ich so lange dachte, ich würde es kennen. Die Seite, die sie mir heute zeigt, ist so vollkommen anders. Gepackt von einer eigenartigen Neugier, führe ich meinen Daumen an den Mund und lecke ihre Träne davon ab.
Rileys Lachen weicht einem ungläubigen Kichern, während sie immer noch auf mir liegt und mir einen Klaps auf die Schulter gibt. „Iiih, Jack! Das ist krass.“
Nein, ist es nicht. Es ist lecker.
„Deine Tränen schmecken wie warmer Honig“, gestehe ich ihr mit einem Lächeln. „Ich sollte dich wohl öfter zum Weinen bringen und mir dann einen Drink daraus mixen.“
„Du spinnst!“ Wieder muss sie lachen, wobei ihr die Kapuze tiefer in die Stirn rutscht und ihre glitzernden Augen samt Nase versteckt. Und plötzlich ist alles, was ich vor mir sehe, ein Paar sinnlicher rosa Lippen. Ich frage mich, was sie wohl tun würde, wenn ich ihr gleich einen Kuss stehle. Schließlich hat sie doch gesagt, sie will geküsst werden, oder etwa nicht? Und ein Kuss ist ein Kuss, egal ob er von einem Prinzen kommt, oder einem Wolf.
Meine Hände auf ihre Hüften gelegt, hebe ich den Kopf ein wenig vom Boden hoch und nähere mich ihr ganz langsam. In diesem Moment schiebt Riley ihre Kapuze nach hinten. Ihr Gesicht wird von ihrem wilden Haar umrahmt und einige Locken fallen über ihre Stirn. Der fröhliche Schimmer in ihren Augen verschwindet schlagartig, als sie in meine blickt. Argwöhnisch verzieht sie die Miene. „Jack! Wolltest du mich gerade küssen?“
Okay, das war wohl ein Reinfall.
Vor Überraschung ganz starr, krümme ich nur die Augenbrauen. „Vielleicht …?“
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für sie, um von mir runterzuklettern. Leider tut sie das aber nicht. Ihr Gesicht befindet sich immer noch zwei Zentimeter vor meinem und ganz offensichtlich versucht sie gerade, irgendwo darin meinen Verstand wiederzufinden. „Warum?“
Mein Kopf kippt zurück auf den Waldboden. Umständlich zucke ich unter ihrem Gewicht mit den Schultern.
Daraufhin sieht sie mich nur grimmig an. „Na, lass das gefälligst! Wie würde das denn aussehen, wenn mein zukünftiger Ehemann mich dabei erwischt, wie ich einen Fremden küsse?“
Meine Augen fliegen weit auf. „Ein Fremder?!“ Ich glaub, mein Wolf pfeift! Immerhin kennen wir uns schon seit Jahrhunderten! Ich hebe sie von mir runter, stehe auf und helfe ihr dann ebenfalls auf die Beine, wobei ich vielleicht ein klein wenig zu fest ziehe, denn sie knallt hart gegen meine Brust. Finster starre ich ihr ins Gesicht. „Was bin ich denn bitte für dich? Bühnenausstattung?“
Sofort erweichen ihre Züge. „Ach, jetzt sei nicht so, Jack. Du weißt, was ich meine.“
Nein, eigentlich habe ich keine Ahnung.
Sie hat meinen fassungslosen Blick wohl richtig gedeutet, denn sie zieht gerade einen verlegenen Schmollmund und meint weiter: „Du bist der große, böse Wolf, der meine Familie frisst. Ganz eindeutig kannst du nicht mein Happy End sein. Aber ich wünsche mir doch so sehr eines. Nicht nur einen Kuss. Eine komplette Geschichte –“
„Mit Prinz und allem drumherum …“, beende ich augenrollend den Satz für sie.
Riley macht einen bedachten Schritt nach hinten und mustert mich durch schmale Augen. „Warum bist du denn auf einmal so empfindlich?“
Ich sammle ihre verstreuten Pfeile vom Boden auf und halte sie ihr brummend hin. „Weil dein königliches Geschwafel ein Haufen Scheiße ist.“
Ihre Kinnlade klappt nach unten.
„Ich will nicht, dass du aus unserem Märchen aussteigst. Vielleicht ist es nicht die beste Geschichte aller Zeiten, aber sie ist gut, so wie sie ist.“
„Nein, ist sie nicht!“, kontert Riley wieder kochend vor Wut, während sie die Pfeile über ihre Schulter zurück in den Köcher steckt. „Es ist keine Liebesgeschichte. Das kann sie auch niemals sein, weil Liebe nun mal nur in Adelskreisen passiert, zu denen leider keiner von uns beiden gehört.“
„Denkst du das allen Ernstes?“
„Die Vergangenheit beweist es.“
„Na schön. Dann geh doch und schieß dir Artus mit Amors Pfeil.“ Ich schwinge einen Arm in Richtung Camelot. „Such dir dort dein kitschiges Ende. Ich bin raus!“ Auf den Hacken wirble ich herum und stapfe den Weg entlang zurück, auf dem wir gekommen sind.
Hinter mir ist es still. Riley steht vermutlich nur wie versteinert da und geht gerade nirgendwo hin, sonst könnte ich ihre Fußtritte hören. Von mir aus kann sie dort Wurzeln schlagen und etwas mit einem Busch anfangen. Ist mir scheißegal!
„Jack, warte!“, folgt mir ihre Stimme nach ein paar Sekunden. Ich denke aber gar nicht daran, darum rennt sie mir hinterher und fällt neben mir in Gleichschritt. Als ich sie keines Blickes würdige, fasst sie mir vorsichtig an den Ellbogen. „Ich möchte nicht, dass du böse auf mich bist.“
Der Zug ist abgefahren.
„Was ist denn das Problem an der Sache?“ Weil ich immer noch schweige und auch kein bisschen langsamer werde, schiebt sie sich schließlich vor mich und zwingt mich mit ihren flachen Händen auf meiner Brust zum Anhalten. „Bitte, lass uns reden!“
Mein bitterböser Blick bringt sie leider nicht dazu, mir aus dem Weg zu gehen, also gebe ich am Ende nach und knurre: „Wie würdest du dich denn fühlen, wenn ich dir aus heiterem Himmel verkünden würde, dass ich dich in unserer Geschichte ersetzen will? Dass ich vorhabe, mir eine“, ich verdrehe die Augen, „besser geeignete Partnerin zu suchen, ohne dabei auch nur einen Gedanken an deine Zukunft zu verschwenden? Als das Mädchen aus dem Wald, schätze ich mal, könntest du dann zumindest noch Draculas Beute spielen.“
„Geht es etwa darum?“ Ihre Miene wird so weich und mitleidig, es ist zum Kotzen. „Hast du Angst, was aus dir wird, wenn ich meine Geschichte verändere?“
Etwas unsanft schiebe ich sie aus dem Weg und marschiere weiter. Sie ist aber sofort wieder an meiner Seite, auch wenn sie von hier an nur noch stillschweigend neben mir hergeht. Als wir am Wegweiser, unserem üblichen Treffpunkt, ankommen, bleibt sie stehen und ich kann spüren, wie mir ihr trauriger Blick folgt, als ich einfach weitergehe. Er spießt mich regelrecht von hinten auf wie eine glühende Lanze.
Meine Schritte werden langsamer und mit den Händen in den Hosentaschen lege ich den Kopf schließlich nach hinten, um in den Himmel hinauf zu seufzen, ehe ich mich umdrehe. Ein klitzekleiner Funken Hoffnung leuchtet in ihren Honigaugen auf. Eine halbe Minute oder so starren wir uns gegenseitig nur wortlos an. Letztendlich macht sie aber ein paar Schritte auf mich zu.
„Wir könnten doch auch für dich ein Happy End finden, wenn du möchtest.“ Ihr Vorschlag kommt überraschend. Und es ist absolut nicht das, was ich will. Einen halben Meter vor mir hält sie an und neigt den Kopf, wobei sie mich unsicher anlächelt. „Leider hast du den zweiten Liebespfeil zerbrochen, sonst hätten wir dir die Herzkönigin schießen können.“
Trotz meiner Frustration entlockt sie mir damit doch ein kleines Schmunzeln. Es verschwindet aber sehr schnell wieder und ich stoße einen langen Atemzug aus. „Ich will keine Königin.“
Alles, was ich möchte, ist ein Mädchen mit rotem Umhang. Auf welche Weise ich sie will, weiß ich im Moment selbst nicht so genau.
„Pass auf dich auf, Riley.“ Ich schiebe ihr meine Hand in den Nacken, um sie näher an mich zu ziehen, und drücke ihre einen sanften Abschiedskuss auf die Stirn. Dann drehe ich mich um und gehe.
Kapitel 5
Riley
Die halbe Nacht konnte ich nicht schlafen, während der Ruf unseres Märchens immer heftiger an mir gezogen hat. Ich hätte nicht gedacht, dass er so schwer zu ignorieren sei. Meine Gedanken kreisten ständig um die Dinge, die ich mit Jack in der Geschichte machen sollte. Und auch mit Oma. Irgendwann in den frühen Morgenstunden habe ich mich dann gefragt, ob es vielleicht doch die bessere Entscheidung wäre, meine Vorstellung von Liebe aufzugeben, einen neuen Kuchen zu backen und einfach zum Haus meiner Großmutter zu laufen, um alles wieder in Ordnung zu bringen.
Aber das geht nicht. Wir sind schon zu weit gekommen, um jetzt noch umzukehren. Der Tag mit Jack gestern war so überraschend anders. Er war lustig, nervig, aufregend und am Ende war er sogar ein wenig traurig. Sollte all das umsonst gewesen sein?
Definitiv nicht. Ich weigere mich, aufzugeben. Irgendwo da draußen wartet ein besonderes Happy End auf mich und ich werde es finden. Mit oder ohne Jacks Zustimmung. Und wenn ich erst einmal mit meinem ganz persönlichen Prinz Charming ausgestattet bin – oder mit König Artus – können wir ja auch nach einer geeigneten Gefährtin für ihn suchen.
Nachdem ich meine morgendliche heiße Schokolade ausgetrunken habe, mache ich mich für den Markt fertig. Den Bogen und Amors Pfeil nehme ich gleich mit, da ich nicht vorhabe, nach dem Treffen mit Cindy noch einmal nach Hause zu kommen. Nach dem Streit mit Jack gestern war mir nicht mehr danach, zurück nach Camelot zu gehen, aber dort wartet immer noch ein König darauf, mitten ins Herz getroffen zu werden.
Montags quillt der Markt in Grimwich immer über vor lauter Leuten. Kleine Obst- und Gemüsestände säumen die Kopfsteinpflasterstraße rings um den mächtigen Springbrunnen in der Mitte des Platzes. François, der Bäcker, wirft mir im Vorbeigehen ein warmes Croissant zu. Das tut er immer zum Dank für die Truthähne, die ich ihm vor Weihnachten im Wald schieße. Lächelnd nicke ich ihm zu und zupfe mit zwei Fingern einen kleinen Bissen aus dem Gebäck, den ich mir dann in den Mund stecke. Mmh, das schmeckt herrlich. Das Einzige, was noch besser schmeckt, ist Vanillepudding. Vanillepudding in diesem Croissant wäre der absolute Hammer.
Als ich beim Messingbrunnen mit den drei Nymphen ankomme, die jeweils einen Krug halten, aus dem eine Fontäne springt, setze ich mich an den Beckenrand und warte auf meine Freundin. Im glasklaren Wasser zieht ein Schwarm Goldfische gemütlich umher. Ein paar Krümel regnen von meinem zweiten Frühstück ins Wasser und sofort schnappen sie mit ihren Klobrillenmäulern danach. Es sieht richtig witzig aus.
„Hi, Herzchen“, ertönt Cindys Stimme hinter mir.
Ich erhebe mich und umarme sie kurz. Sie sieht immer fantastisch aus, egal ob sie gerade eines ihrer vielen Prinzessinnenkleider trägt, oder so wie heute einfach nur enge Jeans und ein hellblaues Tank-Top dazu. Es muss wundervoll sein, solch eine große Auswahl an Klamotten zu besitzen.
Die Umarmungen gehen weiter mit Dornröschen. Sie und ihr hübscher Prinz Phillip haben uns von der anderen Straßenseite aus bemerkt und Rory zieht ihn gerade zu uns rüber. „Ladys“, begrüßt er uns mit einem Lächeln und Kopfnicken, die Hände in die Jeanstaschen gesteckt. Rory hängt dabei immer noch an seinem Arm.
Ich mag Phillip. Von allen Ehemännern meiner Freundinnen ist er der lockerste. Aschenputtels Jason klammert sich immer an die gesellschaftliche Etikette, sogar außerhalb ihres Märchens, was ziemlich lästig ist, denn ich weiß rein gar nichts über königliche Sittenregeln. Bellinas biestiger Prinz Dominic ist manchmal ein bisschen zu sensibel – man muss in seiner Nähe immer aufpassen, wenn man Witze über Haare in der Suppe macht. Und Prinz Finnegan kann seine Hände nicht von Schneewittchen lassen, wenn sie irgendwo zusammen aufkreuzen. Ich habe Phillip mal scherzen gehört, dass Finn sich den Märchenporno für später aufheben soll, wenn sie alleine in ihrem Schlafzimmer sind. Dabei hätte ich mich zwar fast an meinem Tee verschluckt, aber recht hat er. Es ist immer furchtbar anstrengend, wenn die zwei Turteltauben neben einem sitzen und ständig am Knutschen sind, weil man irgendwann nämlich nicht mehr weiß, wo man sonst noch hinschauen soll.
So wie Phillip müsste mein eigener Prinz auch sein. Er ist so wunderbar normal.
„Na, hattest du gestern noch Spaß im Wald mit Jack?“, fragt er, wobei sein warmer Blick auf mir ruht.
Hitze schießt mir ins Gesicht. Himmel, ist Jack sofort losgerannt und hat ihm nach unserem Abschied alles brühwarm erzählt?
Aufgrund meines schockierten Gesichtsausdrucks schmunzelt Phillip und meint noch: „Wir waren gerade zusammen im Pub, als er zum zweiten Mal zu dir gerufen wurde. Das kommt nicht oft vor, oder?“
Ah, das meint er also. „Ähm, ja …“
„Was?“, unterbricht mich Rory. „Ihr musstet gestern noch mal spielen?“ Und dann lacht sie gemeinsam mit Cindy. „Klingt ja nicht gerade so, als hättest du gestern noch eine Chance auf Romantik bekommen.“ Weil ihr Ehemann sie gerade verwundert ansieht, fühlt sie sich total dazu berechtigt, mich vor ihm zu outen. „Riley ist zurzeit auf der Jagd nach der großen Liebe. Sie hat die Schnauze voll davon, immer nur mit einem kläffenden Jack abzuhängen und von ihm in den Arsch gebissen zu werden.“
Phillip zieht eine Augenbraue hoch und fragt mich leise: „Die Schnauze voll?“
„Na ja … ein bisschen Abwechslung wäre schon mal nett“, gebe ich kleinlaut zurück, damit es nicht ganz so gemein klingt. Ich weiß ja, dass er und Jack die besten Freunde sind, und da meine geheimen Wünsche nun schon vor einem Außenstehenden diskutiert werden, kann ich ihnen auch gleich schildern, was gestern Nachmittag wirklich passiert ist. Ich hätte es Cindy später beim Einkaufen sowieso erzählt, aber so geht es auch.
„In Wahrheit haben wir gestern gar kein zweites Mal mehr gespielt.“ Ich spaziere über den Markt und sie alle folgen mir. „Die Dinge haben schon auf sehr komische Weise angefangen, also habe ich Jack darum gebeten, mit mir aus dem Märchen auszubrechen und mir zu helfen, einen Prinzen zu finden.“
Cindys Augen springen weit auf und auch ihr Mund steht offen. „Ist nicht dein Ernst?“
„Doch.“
„Und er hat zugestimmt?“, lacht Phillip, wobei er sogar noch verblüffter aussieht als seine Frau und Prinzessin Cinderella zusammen.
„Ähm … nicht sofort.“ Etwas verlegen richte ich meine Aufmerksamkeit auf eine Steige mit saftigen Pfirsichen an dem Stand, den wir gerade passieren, betaste ein paar und lege sie wieder zurück. „Ich musste ihn überreden. Später hat er mir dann geholfen, einen Ast von Amors Baum zu stehlen und daraus einen Pfeil zu schnitzen.“
Cindy gibt einem Verkäufer zwei Silbertaler für eine neue Diamanthaarspange und fragt mich über ihre Schulter: „Wofür ist der denn?“
„Ich will mir damit einen Prinzen schießen.“
„Oh Mann!“, stöhnt Phillip mit halb entsetztem und halb amüsiertem Blick. Er legt einen Arm um Dornröschens Schultern und zieht sie näher an seine Seite, wobei sein weißes Hemd neben ihrem rosa Sommerkleid in der Morgensonne strahlt. „Und Jack ist mit dem Plan einverstanden?“, vergewissert er sich.
„Nicht direkt“, murmle ich. „Ich glaube, er möchte ungern durch König Artus in unserer Geschichte ersetzt werden.“
„König Artus?“ Jetzt lacht er aus voller Brust und streift sich durch die blonden Haare. „Du machst wohl keine halben Sachen, oder, Riley?“
Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. „Niemals.“
„Was machst du denn, wenn der Pfeil nicht funktioniert?“, spricht Rory ihre berechtigten Bedenken aus. Dann wird ihr Gesicht bitterernst. „Hoffentlich bringst du den armen Artie damit nicht um!“
„Keine Ahnung. Vielleicht lege ich dann eine Spur aus Schokolade zu meinem Haus.“ Ich zucke mit den Schultern. „So weit habe ich noch nicht vorausgeplant.“
Mit nachdenklicher Miene kratzt sich Dornröschen an der Nase. Ich liebe es, wenn sie das macht, denn sie platzt anschließend immer mit den besten Einfällen heraus. Und ein paar Sekunden später hellt sich ihr Blick auch schon auf, als sie sich zu ihrem Mann dreht. „Weißt du was? Kommenden Freitag ist doch dein Geburtstag. Wie wäre es denn, wenn wir unsere alljährliche Kreuzfahrt zur Schatzinsel dieses Wochenende mal absagen und stattdessen eine Party schmeißen?“
„Eine Party?“ Sein argwöhnischer Blick wandert von ihr zu mir, dann weiter zu Cindy und schlussendlich wieder zurück zu Rory.
„Ja. Eine richtig Große. Wir könnten alle unsere adeligen Verwandten und Freunde einladen. Riley braucht sich dann einfach einen Prinzen aus der Menge auszusuchen und müsste ihn nicht gleich erschießen.“
Während Phillip ihren Vorschlag überdenkt und sich dabei die hellen Bartstoppeln am Kinn reibt, platzt es aus mir heraus: „Ich?! In einem Saal voller Prinzen?“ Das wäre wohl nicht sehr hilfreich.
„Ja, warum nicht?“, fragt Rory.
Um das Offensichtliche zu unterstreichen, packe ich meinen roten Umhang und das alte Kleid darunter und erkläre: „Weil ich das Mädchen aus dem Wald bin.“ Zumindest hat Jack mich so genannt. „Ich sehe doch niemals aus wie adeliges Dating-Material. Wenn sie mich überhaupt bemerken, werden sie mich wahrscheinlich nur fragen, ob ich ihnen einen Drink servieren könnte.“ Mit einem magischen Pfeil und meinen Schießkünsten stehen meine Chancen ganz gut. Aber mich rein auf mein Glück verlassen, dass ich in einen Prinzen laufe, der sich daraufhin unsterblich in mich verliebt? Das grenzt jetzt wirklich an ein Märchen.
„Wenn du das anziehst“ – Cindy greift nach meinem Cape und macht ein zerknautschtes Gesicht – „tun sie das wahrscheinlich. Aber wenn du in einem schönen Kleid kommst und dein Haar ausnahmsweise hübsch hochsteckst, würdest du vielleicht aussehen, wie eine echte Prinzessin.“
„Kleid oder nicht, die meisten Leute hier wissen doch sowieso, wer ich bin.“ Ich verschränke die Arme. „Sie würden mich auf den ersten Blick erkennen.“
„Dann machen wir eben einen Maskenball daraus“, schlägt Rory vor. „Jeder muss eine dieser schönen Gesichtsmasken tragen, dann bist du absolut sicher.“ Sie strahlt ihren Ehemann an. „Wäre es nicht wunderbar, wenn Riley in unsere Familie einheiraten würde?“
Cindy klatscht aufgeregt in die Hände und langsam komme auch ich zu dem Schluss, dass die Idee Potenzial hat. Meine Mutter hat mir ein wunderhübsches Gewand hinterlassen, das ich bis jetzt noch niemals getragen habe. Das wäre die perfekte Gelegenheit, um es endlich einmal aus der Kiste zu holen.
„Ihr Mädels seid verrückt!“, sagt Phillip lachend. Dann drückt er Dornröschen einen Kuss auf die Schläfe. „Aber wenn es dich glücklich macht, Schatz, dann geben wir einen Maskenball für deine Freundin.“
Für die Länge des Kusses schließt sie die Augen und grinst mich danach zufrieden strahlend an.
Phillip lässt sie los, wobei er noch einmal charmant in unsere Runde lächelt. „Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, Ladies. Nach diesen Neuigkeiten sollte ich wohl dringend mal jemanden besuchen und herausfinden, wo der Depressionspegel momentan steht.“ Er sagt das zwar im Scherz, aber es schimmert trotzdem ein kleiner Funken Ernsthaftigkeit in seinen Augen, als sein Blick für einen längeren Moment auf mir ruht. Hoffentlich kann er Jack aufheitern.
Die Mädchen und ich ziehen weiter und bewundern dabei die vielen schönen Dinge, die die Verkäufer auf ihren Ständen ausgelegt haben. Rory und Cindy kaufen noch einiges Zeug, während sie alle Details von gestern aus mir herausquetschen, jetzt, da Phillip weg ist. Als ich davon berichte, wie Jack mich gepackt hat und ich nach dem gemeinsamen Sprung übers Wasser auf ihn drauf gefallen bin, werden meine Wangen ganz warm und ich senke den Kopf. „Ich glaube, er wollte mich küssen.“
„Wuuhuu!“, kreischen meine beiden Freundinnen und klatschen begeistert ab. Ich hingegen werfe schnell einen unbehaglichen Blick um mich, in der Hoffnung, dass uns gerade niemand belauscht. Pinocchio zwinkert mir im Vorbeigehen zu, aber der hat wohl als Einziger den Freudenausbruch der beiden Prinzessinnen bemerkt.
„Schhh! Das ist nicht witzig!“, unterbreche ich sie mit unterdrückter Stimme. „Und er sollte so etwas auch nicht tun, nur weil er Angst davor hat, unsere langweilige Geschichte zu verlieren. Er versaut mir noch meine Chancen darauf, einen echten Prinzen abzubekommen.“
„Vergiss den Prinzen und krall dir den sexy Wolf!“, zieht mich Rory auf, aber zumindest versteht sie mein Dilemma und wird schnell wieder ernst.
Cindy fädelt ihren Arm durch meinen und erklärt mit sanfter, beinahe schon beschützender Stimme: „Mach dir keine Sorgen, Riley. Hättest du ihn wirklich geküsst, würde dir das kein Prinz vorhalten. Ist ja nicht so, als würdest du ihm deine Jungfräulichkeit mit einem einfachen Kuss schenken.“
„Nein, das nicht, aber mein erster Kuss sollte schon mit meiner wahren Liebe passieren“, motze ich. „Alles soll perfekt sein.“
Dornröschen macht eine Blase mit dem rosa Kaugummi, den sie sich vorhin in den Mund gesteckt hat. Nachdem sie zerplatzt ist, kichert sie. „Ja, es würde wohl an einen schlechten Scherz grenzen, wenn Jack nach all den Jahren, in denen ihr beide nun zusammengeschweißt wart, derjenige ist, der den Allerersten bekommt.“
Nach dem ganzen Gerede über Jack und auch nach Phillips Reaktion vorhin, frage ich mich, wie es ihm heute tatsächlich geht. Abgesehen vom ständigen Ruf des Märchens, meine ich, denn dieses Gefühl kenne ich inzwischen selbst ziemlich gut. Es ist richtig unangenehm, um nicht zu sagen, eine Qual. Die Hoffnung, dass ein bisschen Ablenkung durch meine Freunde das nagende Gefühl erleichtern könnte, ist inzwischen verflogen.
Die Angst, unsere eigene Geschichte zu verlieren, hat ihm gestern anscheinend sehr zu schaffen gemacht. Wenn er dieses Projekt doch nur mit der gleichen Zuversicht wie ich sehen könnte. Eigentlich sollte er sogar dankbar sein, dass ich den Testlauf mache, denn wenn ich scheitere, passiert ihm ja nichts Schlimmes. Und sollte ich Glück haben, starten wir einen zweiten Lauf und verkuppeln ihn ebenfalls mit seiner wahren Liebe.
Agh, Jungs! Die sind immer so stur, wenn es um großartige neue Möglichkeiten geht!
Prinzessin Cinderella, Dornröschen und ich kehren für eine Tasse Cappuccino in Remys Bistro ein und schmieden dort an einem kleinen runden Tisch weiter unsere Pläne für Phillips Geburtstagsfeier. Natürlich werde ich nachher trotzdem noch Artus jagen gehen, aber für den Fall, dass das in die Hose geht und ich bis Ende der Woche die große Liebe noch nicht gefunden habe, kommt mir der Ball gerade recht.
Wir haben unsere Tassen leer getrunken und Cindy übernimmt netterweise unsere Rechnung, als ein riesiger Vogel nur ein paar Meter von uns entfernt landet. Die eineinhalb Meter Flügelspannweite des Storchs verursachen einen ziemlichen Wind, der die Servietten von den Tischen rings um uns weht. Erschrocken ziehe ich den Kopf ein, bis mich Rory am Ellbogen fasst und meint: „Oh, sieh nur! SMS für dich.“
Als der Wind sich zusammen mit den Flügeln des Vogels gelegt hat, sehe ich verwundert auf. „Was um alles in der Welt soll denn bitte SMS heißen?“
„Short Message Storch“, erklärt sie mir und fuchtelt dabei mit den Armen in Richtung des schwarz-weißen Vogels mit langem orangen Schnabel. „Hast du noch nie eine SMS gekriegt? Diese Nachrichten fliegen in letzter Zeit doch überall herum.“ Lachend verdreht sie die Augen. „Du bist wirklich das Mädchen aus dem Wald, nicht wahr?“
Ich ignoriere ihren Kommentar und schiele zu dem gefiederten Nachrichtenüberbringer, der plötzlich mit seinen langen, steifen Stelzen einen Schritt auf mich zumacht. „Miss Riley Redcoat?“
„Äh … Ja?“
Der Storchentyp salutiert vor mir mit einem Flügel und setzt fort: „Ich habe eine Nachricht für Sie von Großmutter Redcoat.“ Nach einem kurzen Hüsteln spricht er plötzlich mit völlig anderer Stimme weiter. Eine, die mir nur allzu vertraut ist. „Riley, Schätzchen, wo steckst du denn nur? Ich habe gestern auf deinen Besuch gewartet. Solltest du nicht langsam mal vorbeikommen und mir Kuchen und Wein bringen? Der Wolf war auch noch nicht da. Er hat dich doch hoffentlich nicht gefressen?“ Ein Schauer zieht mir über den Rücken. Es klingt, als stünde meine Oma direkt vor mir. Der Storch sieht mir streng in die Augen und fügt noch in Großmutters Stimme hinzu: „Ich warte noch genau zwei Stunden. Wenn ich bis dahin nichts von dir gehört habe, gebe ich bei der Wald-und-Wiesen-Polizei eine Vermisstenanzeige für dich auf.“ Und dann werden seine großen Augen samtweich. „Ich liebe dich. Oma.“
„Wahnsinn.“ Ich starre den Vogel immer noch mit offenem Mund an. Weil er auch nicht weggeht, oder sich irgendwie bewegt, piepse ich noch ein höfliches: „Dankeschön.“
Der Storch breitet seine Schwingen aus und bereitet sich auf den Abflug vor, doch Dornröschen ist schneller und packt ihn am linken Flügel, um ihn am Boden zu halten, womit sie nicht nur ihn, sondern auch mich beinahe zu Tode erschreckt. „Willst du deiner Großmutter keine Antwort schicken?“, fragt sie skeptisch.
„Oh. Ist das denn möglich?“
„Natürlich, Dummerchen. Sag ihm nur, an wen die Nachricht geht, und dann diktiere sie ihm einfach.“
„Okay, dann … ähm …“ Ich räuspere mich vorsichtig und drehe mich mit geradem Rücken zurück zum Storch, dann sage ich laut und deutlich: „Das ist eine Antwort für Großmutter Redcoat.“ Nach diesem Satz komme ich erst einmal ins Stocken. Mist, was soll ich ihr denn überhaupt sagen?
Weil mich der Storch schon ein wenig ungeduldig ansieht, murmle ich rasch: „Oma. Es ist mir leider etwas dazwischengekommen, aber es geht mir gut. Du musst dir keine Sorgen machen. Mit Jack ist auch alles in Ordnung. Ich komme in den nächsten Tagen vorbei und erkläre dir alles.“ Okay, das klang ja schon mal nicht schlecht. Cinderella und Rory beobachten mich immer noch mit Spannung, darum füge ich zum Abschluss hinzu: „Ich liebe dich auch. Riley.“
Stolz nicke ich dem Storch zu, damit er weiß, dass ich fertig bin. Im nächsten Moment hebt er vom Boden ab und zerrauft dabei die Frisur der Ziegenmutter, die gerade mit ihren sieben Geißlein vorbeikommt und das Kleinste von ihnen im Buggy schiebt.
„Junge, Junge, das ist ja vielleicht irre“, sage ich aufgeregt, als meine Freundinnen mich immer noch anstarren, als wäre ich hier der seltsame Teil dieser Situation. „Wer erfindet denn bitte so unglaubliches Zeug?“
„Die böse Königin hat kürzlich ihren Apfel-Lieferservice erweitert. Das Ganze nennt sich jetzt E-Apple“, verklickert mir Cindy. „Nach allem, was Schneechen so erzählt, hat sie sich schon immer mehr für Technik als für Gift interessiert.“
Schneewittchens Stiefmutter steckt dahinter? Das ist ja cool. „Wie funktioniert denn die Sache mit den Störchen? Muss ich mir einen kaufen, um ihn zu benutzen?“
„Nein, Süße, die sind für alle frei.“ Sie zeigt nach oben und ich hebe den Kopf. Ein paar vereinzelte Störche kreuzen gerade den Himmel. „Im Moment ist das Storchennetz noch ziemlich dünn. Sie fliegen nur über dem Wald der Morgenröte, aber E-Apple arbeitet daran, bald das gesamte Märchenland abzudecken. Wenn du eine Nachricht für jemanden hast, brauchst du nur deine Hand zu heben und so zu machen.“ Cinderella tippt zweimal ihren Mittelfinger und Daumen zusammen. „Einer von ihnen kommt dann runter und nimmt deine Nachricht auf.“
„Das ist echt gruselig!“
„Nein. Gruselig ist, dass deine Oma weiß, wie man eine SMS sendet und du nicht.“ Kichernd piekst mich Dornröschen mit dem Ellbogen in die Seite, als wir aufstehen und das Café verlassen. „Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass du aus deinem kleinen Verschlag zwischen den Bäumen rauskommst und in ein richtiges Schloss ziehst. Dein neuer Prinz kann dir dann all die coolen Dinge zeigen, die du verpasst hast.“
Dabei fällt mir mein Date mit König Artus wieder ein. „Du hast recht. Ich sollte mich lieber auf den Weg machen und den neuen Pfeil testen.“ Zuversichtlich streichle ich die Sehne des Bogens, die über meine Brust gespannt ist.
Cindy verzieht das Gesicht. „Tu ihm bitte nicht weh.“
Wir alle umarmen uns zum Abschied und dann lacht Rory, während sie leicht an meinem Haar zieht. „Schick uns nachher eine SMS und sag uns, wie es gelaufen ist.“
Mit einem breiten Grinsen nicke ich, weil ich nur zu gerne noch einmal einen Storch benutzen möchte.
Wir machen uns in unterschiedliche Richtungen auf den Weg. Meiner führt mich aus Grimwich raus und wieder einmal durch den angrenzenden Wald. Es fühlt sich eigenartig an, als ich am Wegweiser vorbeikomme und Jack dort nicht auf mich wartet. Aber genau genommen ging es mir schon die letzten vierundzwanzig Stunden so. Ich sollte mich wohl schnellstmöglich an dieses Gefühl gewöhnen, wenn ich nicht will, dass es mich von meinem Vorhaben ablenkt.
Nur leider ist das leichter gesagt als getan. Natürlich ist es nichts Persönliches und hat ausschließlich mit dem Ruf des Märchens zu tun, doch je tiefer ich in den Wald wandere, umso mehr vermisse ich Jack. Wenn der gestrige Tag eines gezeigt hat, dann doch wohl, dass es viel mehr Spaß macht, zu zweit auf eine Mission zu gehen.
Als ich endlich an Amors Baum auf der saftig grünen Wiese ankomme, hat mich diese bescheuerte Sehnsucht so sehr in der Mangel, dass ich ernsthaft daran denke, umzukehren und dem Wolf stattdessen einen Besuch abzustatten. Er hat gesagt, er wohnt in einem Apartment über Geppettos Werkstatt, kann also nicht allzu schwer zu finden sein.
Dann nimmt auf einmal eine ganz andere Idee in meinem Kopf Form an. Eine, die mir ein kleines Grinsen entlockt. Ich hebe meinen Arm hoch über den Kopf und tippe mit dem Mittelfinger zweimal auf meinen Daumen. Sekunden später drängt mich das kräftige Schlagen von mächtigen Storchenschwingen ein paar Schritte zurück.
„Guten Tag, Meister Storch“, begrüße ich ihn vorsichtig, als er mit erwartungsvollen Augen auf mich zustakst und dabei auf ein Namenschild an seiner blauen Weste zeigt. „Oh. Reginald“, korrigiere ich meinen Fehler höflich.
Er wartet und dabei saust mein Blick erst mal ratlos über die Wiese. „Miss?“, fordert er mich schließlich auf.
„Oh, ja, natürlich.“ Ich räuspere mich energisch und sage dann wieder deutlich, so wie vorhin in Remys Bistro: „Das ist eine Nachricht für Jack Wolf.“ Plötzlich fällt mir ein, dass Reginald vielleicht gar nicht weiß, wo der große, böse Wolf zu Hause ist. Aber wenn ich jetzt danach frage, nimmt er das dann ebenfalls für Jack auf? Schockschwerenot, diese Technik bringt mich zum Verzweifeln! Panisch packe ich den Storch am Schnabel, drücke mit beiden Händen zu und sehe ihn flehentlich an. „Weißt du überhaupt, wo du ihn findest?“
„Mmwwmm“, macht der Vogel und schlägt mir mit den Flügeln immer wieder auf die Hand, bis ich den langen Schnabel loslasse. „Entschuldigen Sie mal, Madame!“ Empört richtet er sich die Weste und renkt sich gleichzeitig den Schnabel mit ein paar Dehnübungen wieder ein. „Störche haben ein photographisches Gedächtnis und E-Apple versorgt uns ständig mit Updates des Landes und seinen Einwohnern. Ich werde den Wolf schon erkennen, wenn ich ihn entdecke.“
„Okay, ja sicher. Tut mir leid. Ähm, tja …“ Mein Gesicht verschrumpelt zu einer hilflosen Rosine. „Sollen wir dann vielleicht weitermachen?“
Er nickt mein verworrenes Gestammel geschäftlich ab.
„Hallo, Jack, hier spricht Riley. Ich habe …“ – mir Sorgen um dich gemacht? Dich vermisst? Eine Panikattacke, weil ich nicht weiß, was ich ganz allein außerhalb unserer Geschichte machen soll? – „mich gefragt, was du gerade so treibst. Gestern war schon irgendwie ein verrückter Tag … findest du nicht?“ Ich stoppe, aber nur ganz kurz. Immerhin soll der Storch nicht denken, dass ich schon fertig bin. „Na ja, wie dem auch sei, ich hoffe, wir sind immer noch Freunde. Und wenn wir das sind, wäre es schön, wenn ich meine … äh … Liebesgeschichte mit dir zusammen finden würde. Nein, nein!“ Hysterisch wedle ich mit den Armen vor dem Lieferstorch, als ob Jack dadurch meine Nachricht besser verstehen würde. „Nicht zusammen zusammen. Nur … Na ja, es wäre einfach nett, wenn du mit mir auf dieses Abenteuer kommen würdest.“ Ich seufze und frage mich sofort darauf, ob das Geräusch später in der Nachricht wohl auch zu hören sein wird? „Alleine ist es langweilig. Wenn du also gerade nichts Besseres zu tun hast, kannst du ja vielleicht nach Camelot kommen. Ich schätze, ich werde eine Weile dort abhängen und den König stalken.“
Okay, das war eine super Nachricht. Gut gemacht, Riley. Aber was sind denn jetzt die richtigen Worte für den Abschluss? Mit „Ich liebe dich auch“ aufzuhören, so wie ich es bei meiner Oma gemacht habe, scheint mir irgendwie der falsche Weg zu sein. Gedankenvoll verenge ich die Augen, doch meine Miene hellt sich sofort wieder auf, als ich mich an den Brief erinnere, den ich einmal an die Magical Press geschrieben habe, um mich über die verschollenen Ausgaben des Character Magazine zu beschweren. Mit fester Stimme füge ich hinzu: „Hochachtungsvoll, R Punkt Redcoat.“
Der Vogel verdreht die Glupschaugen. Wieder total verunsichert, was dieses ganze Nachrichten-sende-Dings angeht, frage ich: „Nicht gut?“
„Perfekt“, antwortet er mit trockenem Sarkasmus und schlägt mit den Flügeln Staub hoch, bis er abhebt.
Mit überstrecktem Nacken sehe ich zu, wie er in den Wolken verschwindet. Er ist schon lange weg, als ich mich endlich wieder auf den Weg durch den Plüschtierhain, quer durch Kansas und weiter nach Camelot mache. Immer wieder schweift dabei mein Blick nach oben, in der Hoffnung, dass Jack mir eine Antwort durch die Lüfte schickt. Aber abgesehen von Nils Holgersson, der mit seinen Wildgänsen gerade auf dem Weg nach Lappland ist, kann ich in dem endlosen Blau nichts entdecken.
Mach dir nichts draus, Riley. Dann ziehst du die Sache eben alleine durch.
Nur war das vorhin leider mein voller Ernst. Alleine ist es nicht halb so aufregend wie zu zweit. Ich wünschte, Jack wäre mitgekommen. Als ich endlich in die Büsche um König Artus’ Burg schlüpfe, hängen meine Schultern genauso zermürbt herab wie meine Mundwinkel.
In meinem Versteck warte ich ein paar Minuten geduckt wie auf der Truthahnjagd. Einfach in die Burg einzubrechen und einen Pfeil auf Artus zu richten, ist bestimmt nicht die klügste Art, um an die Sache heranzugehen. Lieber warte ich, bis er in seinen Garten kommt. Schließlich kann er sich ja nicht ewig hinter diesen dicken Mauern verkriechen, oder?
Eineinhalb Stunden später sieht es aber leider doch sehr danach aus.
Meine Güte, braucht der Mann denn niemals frische Luft?
Gerade, als ich damit rechne, dass ich mein Abenteuer wohl doch noch einmal aufschieben muss, geht das mächtige Burgtor auf und es erscheint ein junger Mann in weißem Hemd und Lederhosen, mit Bart und einer schiefsitzenden Krone, die im warmen Nachmittagslicht funkelt.
Mein Herz schlägt einen dramatischen Takt in meiner Brust. Endlich ist es so weit! Der Moment, der mein Schicksal für immer verändern wird, ist gekommen. Junge, bin ich vielleicht nervös! Meine zittrigen Finger können kaum Amors Pfeil in meinem Bogen spannen, als ich aufstehe und ihn hinter einem Kirschbaum hervor beobachte. König Artus bückt sich und pflückt ein paar Tulpen aus dem majestätischen Blumenbeet zu seinen Füßen. Sehr gut. Die kann er mir dann gleich geben, nachdem ihn mein Pfeil mitten ins Herz getroffen hat und er bis über beide Ohren in mich verliebt ist.
Die Sehne des Bogens knistert, als ich sie noch fester spanne. Ein freudiges Grinsen zieht bereits an meinen Mundwinkeln.
„Nun, Miss Redcoat … da haben wir ja ein nettes Ziel gefunden, wie ich sehe.“
Bei der Stimme hinter mir fahre ich vor Schreck fast aus der Haut. Ich wirble herum und richte den Pfeil direkt auf Jacks Brust.
Kapitel 6
Jack
Wieder einmal befinde ich mich in Rileys Schussfeld. Anstatt den Pfeil aber beiseite zu schieben, hebe ich diesmal nur die Hände und schmunzle dabei.
„Jack!“ Sie lockert den Bogen und senkt ihn samt Pfeil ab. „Du bist ja doch noch gekommen!“ Die Freude in ihrer Stimme und ihren Augen ist aufrichtig. Ich hatte auch nichts anderes erwartet. Nach ihrer skurrilen Nachricht vorhin, war ich mir ziemlich sicher, dass sie mich hier haben will.
Schneller habe ich deswegen trotzdem nicht gemacht. Ich lasse meine Hände wieder absinken und stecke sie in die Hosentaschen. Ehrlich gesagt war der Storch in meinem Fenster eine ziemliche Überraschung, nachdem Phillip gegangen war. Über die Nachricht musste ich lachen. Und gleichzeitig hat sie mich auch ziemlich traurig gemacht. Eine volle Stunde lang bin ich in meiner Wohnung auf- und abgelaufen und habe versucht, dabei eine Entscheidung zu treffen. Sollte ich Riley komplett aus meinem Leben streichen, oder sollte ich etwas gänzlich Neues gemeinsam mit ihr beginnen?
Eine Freundschaft außerhalb unseres Märchens.
Ich denke, das ist es, worum sie mich in ihrer SMS eigentlich gebeten hat – ob wir nicht dieses kleine Etwas zwischen uns passieren lassen könnten, auch wenn wir nun nicht mehr jeden Tag spielen.
Letzte Nacht war hart. Ich musste noch niemals zuvor gegen den Ruf unseres Märchens ankämpfen. Ein eiskalter Entzug. Kurz nach Mitternacht kam ich an einen Punkt, an dem ich Riley für das, was sie mir antut, in die tiefsten Abgründe der Hölle verdammt habe.
Aber ein Leben komplett ohne sie, nachdem wir seit Anbeginn der Märchen so eng aneinandergebunden waren? Das ist kaum vorstellbar.
Tja, jetzt bin ich hier, also dürfte meine Entscheidung wohl klar sein.
Ein Seufzen will mir entweichen, aber ich halte es zurück. „Ich kann doch nicht zulassen, dass mein Mädchen ganz alleine jemanden erschießt, oder?“
Sie lacht. „Dein Mädchen?“
„Das bist du schon seit Jahrhunderten, ja“, antworte ich sentimental. Doch dann lasse ich ein schiefes Grinsen über meine Lippen ziehen, um den lästigen Kloß aus meinem Hals zu vertreiben. „Und ich denke, es gibt mir zumindest ein gewisses Mitspracherecht an deinem Happy End.“
Riley macht einen Schritt zurück und lehnt sich gegen einen Baum, Pfeil und Bogen vor ihren Oberschenkeln gekreuzt. Das rote Cape hebt das schelmische Funkeln in ihren Honigaugen hervor. „Oh, du forderst ein Stimmrecht?“
„So ist es.“ Mit leicht geneigtem Kopf hebe ich die Augenbrauen an. „Und der Typ dort“ – ich nicke zu Artus, der ein paar hundert Meter entfernt steht und völlig unwissend ist, welches Schicksal ihn gleich erwartet – „ist nicht der Richtige für dich.“
„Danke. Deine Bedenken wurden hiermit zur Kenntnis genommen.“ Sie streckt mir die Zunge raus, woraufhin ich ihr am liebsten eine weitere Lektion erteilen möchte. Doch dann dreht sie sich lachend von mir weg, legt den Bogen erneut an und zielt in die gleiche Richtung wie vorhin. „Pech für dich, dass wir nur zu zweit sind. Wenn es unentschieden steht, zählt meine Wahl, da es hier schließlich auch um mein HEA geht.“
„H.E.A?“
„Happily Ever After“, erklärt mir die Kleine den Prinzessinnen-Slang und flucht dann murmelnd vor sich hin.
„Was ist los?“, flüstere ich und dränge mich näher, um eine bessere Aussicht in den Schlossgarten zu bekommen. König Artus ist nicht mehr allein. Einige seiner Ritter, unter ihnen auch Sir Lancelot, haben sich um ihn versammelt. Jetzt noch jemanden mit Liebe zu durchbohren, dürfte schwer sein. Schade.
„Zu dumm. Sieht aus, als starten sie gleich eine neue Geschichte.“ Ich weiß nicht, warum ich gerade grinse wie ein Werwolf bei Vollmond. Okay, das war eine Lüge, ich weiß es sehr wohl. „Das kann Tage dauern, das ist dir doch klar, oder? Und du kannst Artus unmöglich aus seinem Märchen rausschießen.“
„Glaubst du?“ Ihre Frage klingt für mich sehr nach einer kleinen Herausforderung. Den Bogen neben ihrem Kiefer gespannt, ein Auge geschlossen, das andere zum Zielen verengt, zieht sie die Sehne so straff nach hinten, dass sich bereits das Holz biegt. Das Knistern dabei verursacht mir eine Gänsehaut.
Riley ist eine exzellente Bogenschützin. Mühelos schießt sie aus hundert Metern Entfernung eine Kirsche von einem Ast. Zwei Meter wandelndes Königsfleisch in unmittelbarer Nähe sind da kein Problem. Wenn ich sie jetzt diesen Pfeil abfeuern lasse, verliere ich sie. Ich verliere unser Märchen und meinen Job. Verfluchte Scheiße, sie wird mit diesem Schuss mein ganzes Leben auf den Kopf stellen.
In mir steigt Panik auf, heiß wie die Kohlen in Großmutter Redcoats Ofen. Ich kann das nicht zulassen. Nicht so schnell. Nicht heute!
Weil mir in diesem Moment nur Schwachsinn einfällt, lehne ich mich nahe an ihr Ohr, gerade als sie den Pfeil loslassen will, und flüstere: „Man erzählt sich, dass ihm Guinevere abgehauen ist, weil er stinkt wie ein Iltis.“
Ihre Augen zucken beide weit auf und sie versteinert vor Schreck, doch der Pfeil zischt bereits durch die Luft. Panisch halte ich den Atem an, fahre herum und blicke ihm nach. Er verfehlt Artus nur um Haaresbreite, flitzt an seinem Gesicht vorbei und erreicht das Ende seiner Flugbahn in einem Baum hinter ihm. Der Aufprall hallt bis zu uns herüber.
Völlig reglos stehen Riley und ich in den Büschen und starren Artus an wie Gespenster, die man aus ihrem finsteren Schloss ausgesperrt hat. Der König dreht sich inzwischen zu uns, als er die Richtung verfolgt, aus der der Pfeil geschossen kam. Ich weiß nicht, wer gerade schlimmer geschockt ist, er oder wir. Zumindest kommt er schneller wieder zu Sinnen. Mit ausgestrecktem Arm zeigt er auf uns und brüllt seiner Gefolgschaft zu: „Eindringlingeee!“
Im nächsten Moment stürmt auch schon eine Horde Ritter in Blechrüstungen und mit gezogenen Schwertern auf uns zu. Mein Herz schaltet einen Gang höher. Weil Riley immer noch wie angewurzelt dasteht und dem verlorenen Pfeil nachtrauert, schnappe ich mir ihre Hand und ziehe sie mit mir. „Lauf!“
Es dauert eine halbe Sekunde, bis sie in den Fluchtmodus umschaltet und ich sie nicht mehr so sehr ziehen muss. Während wir über das Gehölz springen, hängt sie sich den Bogen um. Nachdem die Waffe aus dem Weg ist, wird sie nun auch endlich schneller. So haben wir zumindest eine kleine Chance, unseren Verfolgern zu entkommen. Doch mit meinem sensiblen Gehör wird mir schnell klar, dass wir bereits ein neues Problem hinter uns haben. Hufschläge. König Artus schickt uns seine berittene Armee hinterher und die kriegen uns in weniger als einer Minute zu fassen.
Na toll! Genau so habe ich mir das gewünscht, als ich mich entschlossen habe, Rotkäppchen hier draußen zu suchen. Selbst zur Zielscheibe werden.
Riley läuft zwar schnell, doch ihre Beine sind viel kürzer als meine. Ich könnte in drei Sekunden hier weg sein. Sie nicht.
„Spring auf meinen Rücken!“, rufe ich ihr zu, als wir den Weg erreichen.
„Was?“
„Tu’s einfach!“ Ich lasse ihre Hand los und hole den Wolf in mir heraus. Aus einem zweibeinigen Sprint falle ich problemlos in einen vierbeinigen und dränge mich näher an Riley. Ein heiserer Schrei entweicht ihr, doch als ich ihre Hüfte mit meiner Flanke anstupse, begreift sie, was ich will und fasst mir ins Fell. Nach zwei weiteren Schritten wirft sie sich endlich auf mich und schlingt die Arme um meinen Hals. Ich lasse ihr noch eine Sekunde, um sich ordentlich festzuhalten, dann gebe ich richtig Gas.
Weil sie mich in einem angsterfüllten Würgegriff hält, bin ich mir sicher, dass sie unterwegs nicht verloren geht, selbst als wir querfeldein flüchten. Es ist unsere einzige Chance, die galoppierende Armee, die mir an den Fersen klebt, abzuhängen. Als wir durch Büsche und über umgestürzte Bäume springen, wimmert mir Riley ins Ohr. „Bist du von allen guten Märchen verlassen? Du wirst uns beide noch umbringen!“
Ihr geliebter König Artus wird uns beide umbringen. Und das ist ganz allein ihre Schuld. Ich weigere mich, heute Nacht als imposantes Wolfsfell die Wand seines kalten Thronsaals zu schmücken.
Mit gutem Vorsprung vor den Reitern halte ich die Augen nach einem Versteck offen und komme schließlich schlitternd zum Stehen, nachdem ich einen Fuchs- oder Dachsbau in den Wurzeln einer gigantischen Zypresse entdeckt habe.
„Warum halten wir an?“, faucht Riley. Es fühlt sich so an, als würde sie sich auf mir nervös nach allen Seiten drehen, um nach unseren Verfolgern Ausschau zu halten.
Da ich in Wolfsform nicht sprechen kann, schüttle ich sie von meinem Rücken. Unter stöhnendem Protest landet sie im Moos. Ich schnüffle inzwischen in der Höhle nach Bewohnern, finde aber nichts. So wie es aussieht, hat sich hier schon seit Wochen kein Tier mehr reingewagt. Ich dränge Riley zum Eingang und als sie sich endlich davor bückt, schiebe ich sie mit meiner Schnauze hinein. Zum Glück ist dieser Bau groß genug für uns beide. Ich folge ihr und gebe dabei Acht, dass mein Schwanz nicht noch raussteht, als kurz darauf die Männer des Königs an uns vorbeigaloppieren.
Zu zweit in die Dunkelheit gepfercht, spähen wir beide nach draußen. Riley zittert neben mir wie Espenlaub. Ihr furchtvoller Atem pafft mir ins Ohr, was aus dieser knappen Entfernung ziemlich unangenehm ist, denn es fühlt sich an, als würde mich der Nimmerwind streifen. Bei jedem Luftzug zuckt mein Ohr unkontrolliert.
Bestimmt hat sie nicht damit gerechnet, dass ihre erste Begegnung mit dem hübschen König in einer tödlichen Verfolgungsjagd endet.
Ein paar Minuten später ist das Geräusch der trampelnden Pferdehufe endlich verstummt und es scheint, als würden keine weiteren Ritter mehr folgen. Puh! Das war knapp.
„Glaubst du, sie sind weg?“, zischt mir Riley ins Ohr.
Darauf war ich nicht vorbereitet. Mit einem gequälten Jaulen zucke ich weg. Sie zuckt ebenfalls und plötzlich bricht ihr Schrei hinter mir durch den Bau. In dem bisschen Licht, das durch den Eingang strömt, sehe ich gerade noch, wie sie fällt.
Ich schnappe nach ihr, bekomme aber nur noch ihren Umhang mit den Zähnen zu fassen. Ich muss alle Viere in den Boden stemmen, damit ich nicht von ihr mit in die Tiefe gerissen werde, die sich unter ihr auftut. Verdammt, ich habe keine Ahnung, wo ich uns da hinein manövriert habe, aber ganz offensichtlich ist das kein Fuchsbau. In der Dunkelheit hinter uns befindet sich ein Abgrund und Riley baumelt hilflos darüber. Nur mein Biss in ihr Cape hindert sie noch daran, in den sicheren Tod zu stürzen.
„Jack! Hol mich hier raus!“, kreischt sie in wilder Panik. Ihr Gewicht zieht mich immer weiter an den Abgrund heran. Ich erhasche einen kurzen Blick nach unten und, heiliger verdrehter Hut des irren Hutmachers, das Loch in der Erde muss mindestens zwanzig Meter tief sein! Unten befindet sich ein Kaffeetischchen mit einer friedlich brennenden Kerze darauf, die den Boden des Abgrunds in sanft goldenes Licht taucht. Der schwarz-weiße Schachbrettboden legt einen quadratischen Raum aus, an dessen linker Wand sich eine kleine Tür befindet.
Wie geil! Ich glaube, wir haben gerade die Höhle des weißen Kaninchens entdeckt.
„Jaaack! Bitteee!“ Der Schrei schmerzt mir so sehr in den Ohren, dass ich sie instinktiv anlege.
Ach ja, richtig. Rotkäppchen! Ich zerre an ihrem Cape, bis sie langsam zurück über die Kante kommt. Ein erleichtertes Seufzen dringt aus ihrer Brust, als sie endlich wieder sicheren Boden unter sich hat. Wir sollten wirklich von hier verschwinden. Der Eingang zum Wunderland ist kein geeigneter Spielplatz. Winselnd senke ich den Kopf und gebe Riley mit der Stirn einen Schubs.
Sie versteht meinen Wink und nickt. Auf Händen und Knien krabbelt sie als Erste aus der Höhle. Weil hier kaum Platz genug ist, um sich zu bewegen, stößt meine Schnauze immer wieder gegen ihren Hintern. In Wolfsform? Das gibt Ärger.
Als mir der süße Duft der Unschuld in die Nase steigt, wird mir fast ein wenig schwindelig. Verrückte Gedanken drängen sich mir auf. Mein Mund wird ganz wässrig. Wenn jetzt nicht ihr Kleid und dieser verflixte Umhang im Weg wären, könnte ich mit der Zunge … Um Himmels willen, Jack! Reiß dich zusammen!
Obwohl der Apfel vor mir eindeutig verboten ist, kann ich den Drang kaum abschütteln. Als Riley vom Eingang verschwindet, werde ich vom hellen Tageslicht geblendet. Einen kurzen Moment lang kann ich rein gar nichts mehr sehen. Verdammt, wo ist sie hin? Ich muss ihren Duft noch einmal aufsaugen. Er ist so unsagbar lecker.
Ich schüttle den Kopf und entdecke sie dann endlich ein paar Meter entfernt, wo sie sich gerade den Dreck vom Cape klopft. Lass nur, Baby, ich steh auf schmutzig. Gegen das dunkle Knurren aus meiner Kehle kann ich nun wirklich nichts mehr tun, als ich langsam auf meine Beute zuschleiche. Eine fürchterliche Hitze strömt durch meinen Körper, die mein Nackenfell zum Stehen bringt und alle meine Sinne in Alarmbereitschaft versetzt. Scheiße, ich muss jetzt unbedingt jemanden besteigen oder fressen. Am besten beides – in genau dieser Reihenfolge.
Rileys misstrauischer Blick findet mich und bleibt an mir haften. Ja, das ist die richtige Mischung. Unschuld und ein Hauch von Furcht. Sie könnte mich unmöglich noch mehr reizen.
„Jack? Ist mit dir alles in Ordnung?“
Das wird es gleich sein, Honeydrop, wenn du dich kurz mal für mich vornüber beugst.
„Könntest du bitte damit aufhören?“ Ihre Hände strecken sich mir abwehrend entgegen, während sie ein paar Schritte rückwärts stolpert, bis sie gegen einen Baum stößt. „Du machst mir Angst.“
Ich werde dir nicht wehtun. Meine Augen werden zu verruchten Schlitzen. Na ja, nicht sehr.
Rücken und Hände flach gegen den Baumstamm hinter ihr gedrückt, sitzt sie in der Falle. Nett. Ein genüssliches Knurren kommt durch meine Zähne. Ich bin wirklich hungrig.
„Okay, hör zu! Das ist nicht komisch!“ Die Wut in ihrer Stimme schafft es nicht, die Furcht in ihren Augen zu übertönen. Und ganz sicher kann sie mich nicht aufhalten. Riley hat mir gestern schon ein ordentliches Oma-Dinner verwehrt, darum ist es wohl auch nur fair, dass ich jetzt stattdessen das kleine Rotkäppchen fresse. Sie sieht sowieso viel zarter aus als die alte Schachtel. Ich wette, sie schmeckt verteufelt gut.
Da ich viel größer als ein herkömmlicher Wolf bin, liegen meine Augen auf Höhe ihrer perfekten apfelförmigen Brüste, als ich mich nähere. Sie heben und senken sich rasch durch ihren panischen Atem. Ein hübscher Anblick und die passende Stelle, um meine Zähne darin zu vergraben. Doch etwas anderes zieht mich gerade noch mehr an.
Ich neige den Kopf nach unten und verfolge den wunderbaren Duft ihrer Unschuld bis zu ihren Lenden. Paaren oder fressen? Wofür entscheide ich mich nur? Wieder läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ob sie wohl schreien würde, wenn ich ihr die Kleider gleich mit den Zähnen vom Leib reiße?
„Verdammt, Jack! Schnüffelst du etwa gerade an mir?!“
Ihre aufgebrachte Stimme hallt überall um uns herum, trotzdem versteh ich kein Wort mehr von dem, was sie sagt. Dieser andere Teil von ihr spricht viel deutlicher mit mir. Okay, dann ist es also entschieden. Schäferstündchen. Mir kribbelt bereits das Fell im Nacken. Endlich habe ich das Mädchen da, wo ich es schon immer haben wollte. Hilflos ausgeliefert vor mir. Und dem quälenden Hunger nach zu urteilen, der in meinen Venen brennt und mein Blut zum Kochen bringt, kann ich nicht mehr versprechen, dass ich geduldig mit ihr sein werde. Sie gehört mir und ich kann alles mit ihr machen, was ich will. Sie nehmen. Mit ihr spielen. Und sie fressen, wenn ich mit ihr fertig bin.
Nur, dass Riley gerade ihren Umhang vor meiner Nase zuzieht und mich aussperrt. „Lass das, du Perverser! Ich bin kein Hund!“ Und dann zuckt mir ein beißender Schmerz durch die Schnauze bis hoch in die Augen, weil sie mich nämlich gerade geboxt hat.
Jaulend vor Qual falle ich auf den Waldboden und kreuze meine Pfoten vor meinem Gesicht. Tränen springen mir in die Augen. Ich habe vergessen, wie sehr so etwas doch wehtut. Wie eine Wurzelbehandlung ohne Narkose. Zumindest hat der Schlag ausgereicht, um den Nebel um meinen Verstand zu lichten. Die Kontrolle über mich selbst liegt wieder in meinen Händen, doch, verflucht noch mal, das war eng.
Als der Schmerz allmählich nachlässt, hebe ich den Kopf zu Riley hoch. Sie drückt sich immer noch an den Baum und auch die Angst in ihren Augen ist noch da. Nur hält sie jetzt ihren Bogen gespannt, den Pfeil darin auf mich gerichtet.
Um ihr zu zeigen, dass sie wieder sicher vor mir ist, verwandle ich mich zurück in den Mann, der ich zu neunzig Prozent meines Lebens bin. Langsam komme ich auf die Beine, wobei mein Blick keine Sekunde von ihr abweicht. Sie ist gut im Fährten lesen – die Aufrichtigkeit in meinen Augen sollte für sie nicht schwer zu finden sein. „Es tut mir leid. Du kannst den Bogen jetzt runternehmen. Ich werde dir nichts tun.“
Ein schwaches, beinahe hysterisches und sehr, sehr unsicheres „hah“ entweicht ihr.
Ich mache einen Schritt auf sie zu und drücke ihren Bogen vorsichtig nach unten. „Versprochen.“
Nach ein wenig Widerstand gibt sie doch mit einem schweren Seufzen nach. Sie streift sich die wilden Haare nach hinten. „Heiliges Schlaraffenland, Jack! Was ist nur in dich gefahren?“
Es macht keinen Sinn, sie zu belügen. Das hier ging gerade ziemlich knapp aus und mit ihrer absurden Idee, in Märchenstreik zu gehen, unterwirft sie mich nicht nur einem schmerzhaften Entzug, sondern bringt auch sich selbst in Gefahr.
„Meine Instinkte nehmen überhand. Es ist ein grausamer Kampf und es tut weh. Ich weiß nicht, wie lange ich dem Ruf des Waldes noch widerstehen kann. Oder dem Märchen.“ Nachdem sie den Pfeil zurück in den Köcher gesteckt hat, nehme ich flehentlich ihre Hand in meine. „Spürst du es nicht auch?“
Ihre Augen gehen weit auf, aber nicht vor Entsetzen wie vorhin. Ich glaube, darin leuchtet gerade Mitgefühl. „Na ja, schon irgendwie. Es fühlt sich seltsam an, als würde ständig jemand versuchen, in meine Gedanken einzudringen, um mich dazu zu bringen, in eine andere Richtung zu laufen, als ich eigentlich will. Aber für dich ist es wohl noch schlimmer als für mich, weil du ja auch gegen den Wolf in dir ankämpfen musst.“ Ihr Blick wird noch eine Spur sanfter. „Es tut mir leid, Jack. Ich wollte dir mit all dem nicht wehtun. Aber ich kann jetzt einfach nicht mehr umkehren. Kannst du das verstehen?“
Ja, das kann ich. Das bedeutet aber nicht, dass es mir gefallen muss. Und da wir offenbar weiter in dieses Abenteuer schreiten, sollten wir ein paar Vorkehrungsmaßnahmen treffen. Regeln für ihre Sicherheit. Denn es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis der Wolf wieder rauskommt, und beim nächsten Mal, da bin ich mir sicher, wird er das Futter dem Schäferstündchen vorziehen.
Ich zerre sie an der Hand mit mir den Weg entlang, der zurück zu ihrer Hütte am Glitzergraben führt. Meine Schritte sind schnell und sie fällt immer wieder mal in ein leichtes Joggen, um mit meiner Geschwindigkeit mitzuhalten. „Wohin bringst du mich?“, will sie schwer atmend wissen.
„Nach Hause.“
„Warum? Ich habe doch meinen Prinzen noch gar nicht gefunden.“
„Es wird schon spät und dein Liebespfeil ist ohnehin futsch“, grummle ich. „Du kannst morgen wieder auf Prinzenjagd gehen.“
Ich weiß nicht, ob es an meiner befehlshaberischen Stimme liegt, dass sie den Mund hält, oder daran, dass sie ein schlechtes Gewissen hat, wegen dem, was ich ihr vorhin gesagt habe. Wie auch immer, ich bin einfach nur froh, dass wir deshalb keine Diskussion führen müssen.
Wenig später taucht ihre Hütte vor uns auf. Ich ziehe Riley die paar Stufen auf die Veranda hinauf, öffne die Tür für sie und schiebe sie durch.
Mit besorgtem Blick schwingt sie zu mir herum. „Was ist denn los?“
Schweißperlen treten mir bereits auf die Stirn. Verflucht! Ich hatte gehofft, ich könnte den Wolf noch etwas länger zurückhalten, doch er rebelliert so stark in mir, dass ich sogar darüber nachdenke, Riley sofort zu fressen, so wie ich bin.
Mit zugekniffenen Lidern schüttle ich einmal den Kopf, dann sehe ich ihr wieder fest in die Augen. „Verriegle die Tür und alle Fenster. Und falls ich heute Nacht zu dir kommen sollte, mach auf gar keinen Fall auf.“
Ihr süßer Mund fällt vor Schreck auf. Gut so. Endlich begreift sie das Ausmaß ihrer Entscheidungen. Krampfhaft bemühe ich mich darum, meine Hand ruhig zu halten, während ich ihr mit den Fingerknöcheln über die bleiche Wange streichle. „Riley?“, knurre ich dabei heiser, weil ich ihre Bestätigung brauche.
Zaghaft nickt sie und gibt mir damit ihr Versprechen. Ein schmerzhafter Atemstoß dringt aus meiner Brust, ehe ich die Treppen hinunterstapfe und mich auf den Weg mache.
„Jack?“
Beim leisen Klang ihrer Stimme halte ich zwar noch einmal an, drehe mich aber nicht mehr zu ihr um, sondern grolle nur: „Mm?“, den verbissenen Blick auf den düsteren Wald vor mir gerichtet.
Ihre sanften Fußtritte auf dem Dielenboden dringen von der Veranda zu mir. „Wirst du klarkommen?“
Ich lasse sie ohne Antwort zurück.
Hoffentlich tut dieses Mädchen einmal das, was man ihr sagt. Da ich unmöglich abschätzen kann, wozu der Wolf imstande ist, wenn er in diesem verstörten Zustand erst einmal freikommt, will ich mit Riley lieber kein Risiko eingehen. Sie ist so unschuldig und zerbrechlich. In ihrer Naivität würde wohl schon eine einfache Lüge ausreichen, damit sie mich reinlässt. Und das wäre dann auch das Ende vom kleinen Rotkäppchen.
Ich möchte sie nicht verletzen. In absoluter Verzweiflung streife ich mir durchs Haar und lasse ein tiefes Knurren aus meiner Brust emporsteigen. Fuck! Es beginnt bereits. So kann ich nicht in mein Apartment zurückkehren, denn eine abgeschlossene Schlafzimmertür wird mich nicht lange aufhalten.
Der Wald verschwimmt vor meinen Augen, als ich die Abzweigung nach Adelsburg nehme und mich weiter durch das Unterholz kämpfe. Ich torkle von einer Seite auf die andere und bekomme hin und wieder den knorrigen Stamm eines Baumes zu fassen, an dem ich mich abstützen kann. Die anderen Male falle ich hart auf die Knie. Es erfordert ein unaussprechliches Maß an Willensstärke, den Wolf in mir unter Verschluss zu halten. Jetzt. Noch. Nicht!, schimpfe ich mit dem Wolf in mir.
Mit dem Ärmel wische ich mir den Schweiß vom Gesicht und versuche herauszufinden, wo ich überhaupt bin. Die rosa Turmspitzen eines Schlosses ragen hinter einer Reihe von Eschen empor. Grimm sei Dank, von hier aus ist es nicht mehr weit.
Mein Atem wird immer schwerer, während ich mich weiterkämpfe, bis ich schließlich eine Steinbrücke über einen Burggraben überquere und gegen eine schwere Holztür falle. Mit einer schwachen Faust hämmere ich dagegen, ehe mich all meine Kraft verlässt.
Obwohl es wahrscheinlich nur Sekunden dauert, kommt es mir vor, als müsste ich Stunden warten, bis jemand aufmacht. Ein Vulkan der Erleichterung bricht in mir aus, als ich in die schockierten blauen Augen der einzigen Person in Märchenland blicke, der ich mein Leben anvertrauen würde.
Angeschlagen hänge ich am Türrahmen und ringe nach Luft. „Phil! Du musst mir helfen!“
Kapitel 7
Riley
Stunden später klingt mir Jacks Warnung immer noch im Ohr. Zu ängstlich um auch nur zu blinzeln, liege ich hinter der Couch verschanzt und richte Onkel Elmers alte Schrotflinte auf die Tür. Die einzige Gesellschaft, die mich durch die Nacht begleitet, ist das nervige Ticken der alten Standuhr an der Wand. Manchmal frage ich mich, ob sie mich wohl absichtlich in den Schlaf wiegen will, damit der große, böse Wolf in mein Haus kommen und mich fressen kann.
Aber Jack kommt nicht zurück. Beim Morgengrauen und nach drei Besuchen vom Sandmann verliere ich schließlich den Kampf und mir fallen doch die Augen zu, mein Finger immer noch am Abzug …
Ein Rudel hungriger Wölfe jagt mich im Traum durch den Wald und vorne an der Ecke steht ein hübscher Prinz, der auf mich wartet und mir zuwinkt. Doch egal, wie schnell mich meine Beine auch vorwärts tragen, er schwebt fortwährend außer Reichweite, immer eine Armlänge entfernt.
Als ein schneidendes Klopfen an der Tür ertönt, fahren der Prinz und ich gleichzeitig herum. In meinen Händen geht die Flinte los —
Bei dem monströsen Krach springen meine Augen auf, doch zum Glück ging das Schrot durch die Decke und nicht durch die Tür.
Panik durchflutet mich einen Moment, dass mich Jack nun doch noch holen will. „Wer ist da?“, rufe ich und wische mir dabei den Sabber aus dem Mundwinkel, der sich im Schlaf dort gesammelt hat. Mit dem Gewehr im Anschlag rapple ich mich von der Couch hoch und schleiche durchs Wohnzimmer.
Draußen macht sich anscheinend jemand große Sorgen. „Riley! Ist alles okay?“
Den dreizehn Feen sei Dank, das ist nicht Jack. Ich nehme die rostige alte Flinte runter und eile zur Tür. „Phillip! Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschießen. Ich … bin eingeschlafen. Mit dem Gewehr.“ Okay, das klingt sogar in meinen Ohren seltsam.
Still sinkt sein Blick zu dem dünnen Rauchfaden, der noch aus dem Lauf der Schrotflinte steigt, und klettert dann langsam wieder hoch zu meinen Augen. „Wie ich sehe, hast du dir Jacks Warnung zu Herzen genommen.“
Er weiß, was Jack als letztes zu mir gesagt hat? Andererseits ist das wohl keine große Überraschung. Sie haben sich danach bestimmt noch getroffen. Neben der Tür lehne ich das Gewehr erst einmal an die Wand und mache dann einen Schritt zur Seite, um meinen Besuch hereinzulassen. „Ich glaube, er steht etwas neben sich, seit wir nicht mehr spielen.“
„Oh, du hast ja gar keine Ahnung …“ Phillip tritt durch die Tür und sieht sich neugierig in meinem kleinen aber gemütlichen Zuhause um. Heute ist er zum allerersten Mal hier, was nun doch etwas mein Misstrauen schürt.
„Wie komme ich überhaupt zu der Ehre?“, murmle ich, während ich meinen Arm zur Couch schwenke und ihm einen Platz anbiete. „Hat dich Rory geschickt?“
Nachdem er meine eher unadelige Einrichtung begutachtet hat, schenkt er nun mir wieder seine volle Aufmerksamkeit. Seine Hände verschwinden in den Taschen der dunklen Lederhose und schieben dabei das rote Hemd und die vornehme weiße Weste leicht nach oben. „Niemand hat mich geschickt. Aber du musst unbedingt mit mir kommen, Riley.“ Abgesehen von der Dringlichkeit in seiner Stimme ist mir aufgefallen, dass er mein Angebot, sich zu setzen, dezent ignoriert hat und lieber in der Nähe der immer noch offenen Tür stehen bleibt.
An den Küchentisch gelehnt, umfasse ich die Tischkante an den Seiten meiner Hüften. Meine Stirn liegt in Falten. „Mitkommen wohin?“
„Zu Jack.“ Er macht einen Schritt auf mich zu und blickt mir mit leicht gesenktem Kinn in die Augen. „Er steckt in Schwierigkeiten und ich glaube, du bist die Einzige, die ihm jetzt noch helfen kann.“
„Was?“ Das winzige Wort entweicht mir in einem geschockten Quieken. Meine Finger lösen sich von der Kante und ich ringe meine plötzlich schweißnassen Hände vor meinem Bauch. „Wo ist er? Wurde jemand verletzt? Hat Jack jemanden gefressen?“ Heiliger Honigtopf, wenn er in der Stadt die Kontrolle verloren hat, ist es allein meine Schuld. Obwohl er mir gesagt hat, wie hart es für ihn ist, habe ich ihm dieses Schicksal aufgezwungen. Ich konnte gestern den Kampf in seinen Augen erkennen, bevor er mich alleine zurückgelassen hat. „Ist die Polizei hinter ihm her?“
Phillip legt mir die Hände auf die Schultern und spricht sehr sanft, aber doch mit Nachdruck. „Niemand wurde verletzt. Noch nicht. Aber es ist nur eine Frage der Zeit. Würdest du bitte mitkommen und mir helfen, meinen Freund zu retten?“
In wilder Panik nicke ich und lasse mich von dem Prinzen aus meinem Haus geleiten. Durch das ganze Chaos in meinem Kopf, bemerke ich erst, dass ich ohne Pfeil und Bogen losgegangen bin, als die Tür bereits hinter mir zufällt. Ich will mich gerade wieder umdrehen und die Ausrüstung holen, da zieht etwas anderes meine volle Aufmerksamkeit auf sich.
Da steht ein Pferd vor meinem Haus.
Phillip geht auf das riesige Tier zu, nimmt die Zügel und streckt mir dann eine Hand entgegen. Als Antwort darauf hebe ich beide Arme abwehrend hoch. „Nah-ah!“
„Du brauchst keine Angst zu haben. Ich helfe dir rauf.“
„Ich bin noch nie auf einem Pferd geritten“, gestehe ich in einem furchtvollen Krächzen.
Er schiebt einen Fuß in den Steigbügel des edlen schwarzen Sattels und hievt sich auf den Rücken des Monstrums. Ein lautes Schnauben dringt aus seinen Nüstern, als der Schimmel die gespenstisch weiße Mähne schüttelt. Als Phillip fest im Sattel sitzt, tippt er das Pferd mit den Absätzen leicht in den Bauch, damit es auf mich zukommt.
Ein amüsiertes Funkeln tritt in seine Augen. „Ich habe gehört, du bist gestern auf einem Wolf geritten.“ Er lehnt sich runter, fasst mich am Handgelenk und im nächsten Moment werde ich so rasch hochgezogen, dass jeder Protest in meiner Kehle erstirbt. „Auf einem Pferd zu reiten ist fast dasselbe.“ Seitlich setzt er mich vor sich und drückt mich mit einem Arm beschützend an seine Brust, während er die Zügel in die andere Hand nimmt und dem Schimmel die Sporen gibt. „Hüa!“
Als dieser losgaloppiert, baumeln meine Beine an seiner Seite hinab und Phillip ist plötzlich das Einzige, woran ich mich noch festhalten kann. Das mache ich auch – mit eiserner Umarmung.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich schon jemals zuvor so ängstlich erlebt habe, Rotkäppchen“, schmunzelt er in mein Ohr, während ich mein Gesicht in seinem Hemd vergrabe und die Augen fest zukneife.
„Na, dann kennst du ja jetzt meine Schwachstelle.“
Minuten später ersetzt das Geklapper von Hufen auf Kopfsteinpflaster das Getrampel der Pferdebeine auf dem Waldboden. Ich wage einen kurzen Blick hoch, um zu sehen, wo wir sind. Eigentlich hätte ich erwartet, dass wir durch Grimwich reiten, doch jetzt staune ich, als wir die Brücke über den Graben zu Dornröschens Schloss überqueren.
Die mächtigen Türme ragen hinter einer verwunschenen Dornenhecke empor. Phillip stoppt das Pferd mit einem kurzen, harten Ruck an den Zügeln, dann steigt er als Erster ab und hilft mir mit sicherem Griff an meiner Taille runter.
Bei Pinocchios wachsender Nase, es hat sich noch niemals so gut angefühlt, wieder auf meinen eignen Beinen zu stehen.
Diese magische Hecke bleibt zwar bestehen, aber da wir so einfach durch sie hindurchreiten konnten, weiß ich genau, wo in der Geschichte von Dornröschen das Prinzenpaar gerade steckengeblieben ist. „Schläft Rory noch?“
„Jap. Schon den ganzen Tag.“ Ein Klaps von Phillip auf den Hintern des Pferdes reicht aus, damit es gemütlich davontrabt. Anscheinend kennt der Schimmel den Weg zu den Ställen ganz genau.
„Warum hast du sie noch nicht geküsst?“ Das sollte doch eigentlich das Erste sein, was er macht, gleich nachdem er sich einen Weg durch die gruseligen Dornenbüsche gehackt hat. Und warum sind wir überhaupt hier? Hatte er nicht gesagt, er will mich zu Jack bringen?
„Weil es die Dinge ein wenig einfacher macht, wenn sie noch eine Weile weiterschläft.“ Er öffnet die schwere Tür und zieht mich mit sich in den Palast.
Alles hier drin ist seltsam still. Das ganze Personal döst wohl gerade in der Sonne. Dornröschen sollte ihr Nickerchen in einem Zimmer ganz oben im höchsten Turm machen, doch als wir an der weiten Treppe vorbeilaufen, wird mir klar, dass das wohl nicht der Weg ist, den wir nehmen.
„Ich werde sie bald wachküssen, aber erst müssen wir uns um ein anderes Problem kümmern.“
Wir biegen hinter der Angestelltenküche links ab und Phillip schnappt sich unterwegs eine brennende Fackel von der Wand, ehe wir eine schmale Steintreppe hinuntersteigen. Okay, das Problem muss sich dann wohl im Verlies befinden. Ein kalter Schauer fleht mich an, umzukehren und wegzurennen, denn feuchte Kerker ohne Tageslicht sind niemals ein Ort für schöne Geschichten. Phillip scheint mein Unbehagen zu bemerken und schließt seine Finger etwas fester um meine Hand.
„Ich dachte, wir besuchen Jack? Warum steigen wir jetzt runter ins Verlies?“ Meine Stimme ist kaum hörbar. Keine Ahnung warum, aber dunkle Räume bringen mich immer zum Flüstern.
Er zieht mich einen engen Gang entlang. Im Schein der Fackel führen unsere Schatten einen geisterhaften Willkommenstanz an den Steinwänden auf. Mit ernstem Blick dreht Phillip sich zu mir. „Weil Jack im Verlies ist. Er hat mich gebeten, ihn einzusperren.“
Seine Worte treffen mich wie Maleficents dunkelster Fluch. Mein Mund steht offen, doch es kommt kein Ton heraus. So lange nicht, bis wir um eine Ecke biegen und ich vor uns, in einem Gewölbe hinter schweren Eisengittern, die Umrisse einer Person erkennen kann.
Mein Herz klopft unglaublich schnell. Sofort lasse ich Phillips Hand los und laufe zu dem Gitter. Der Kopf des jungen Mannes darin lehnt an seinem Arm, den er an die kalte Mauer gestützt hat. Obwohl er mir den Rücken zugewandt hat, würde ich ihn überall auf der Welt wiedererkennen. „Jack …“, krächze ich.
Er atmet schwer, das sehe ich von hier. Als er den Kopf hebt, um mich über seine Schulter hinweg anzusehen, dringt ein unmenschliches Geräusch aus seiner Kehle und versteinert mich an Ort und Stelle. Sein Gesicht ist von Schweiß überzogen. Im Licht von Phillips Fackel wird sichtbar, dass auch seine Sachen durchnässt sind. Das feuchte Haar klebt ihm an der Stirn, vereinzelte Strähnen hängen ihm in die düster funkelnden Augen. „Warum hast du sie hergebracht?“, knurrt er so gefährlich, dass eine Gänsehaut meinen gesamten Körper überzieht. Obwohl mir klar ist, dass er mit dem Prinzen hinter mir spricht, durchbohrt sein Blick nur mich allein.
Ich falte die Hände über meinem Mund und versuche verbissen, keine Träne loszulassen, als ich näher an den Käfig gehe. „Jack … was ist passiert?“
Mit gewaltigem Gebrüll springt er von der Wand weg, verwandelt sich dabei explosionsartig in den tödlichen Wolf und kracht nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht gegen das Gitter.
„Waaah!“ Zu Tode erschrocken mache ich einen Satz zurück und knalle dabei gegen Phillip, der beinahe die Fackel fallen lässt. Zum Glück hält das schwere Eisen stand, sodass Jack nicht entkommen kann, auch wenn seine mächtige Tatze durch die quadratischen Löcher im Gitter krallt. Sein rasendes Gekläffe hallt durch sämtliche Tunnel.
Phillip stützt mich und blickt mir besorgt ins Gesicht. „Alles okay? Er hat dich doch nicht erwischt, oder?“
„Äh, ja … nein … Mir geht’s gut“, stottere ich mit weinerlicher Stimme. Selbst, wenn es ihm offensichtlich leicht fällt, Jack zu ignorieren, kann ich das nicht so einfach. Mein starrer Blick kehrt zurück zu dem gequälten Wolf und am liebsten möchte ich laut schluchzen. „Was ist denn mit ihm los?“
Phillip steckt die Fackel in eine Eisenklaue an der Steinwand und legt mir hinterher beide Hände auf die Schultern, wobei er mich sanft nach hinten schiebt, bis meine Kniekehlen gegen etwas Hartes stoßen und ich auf einen Holzstuhl an der gegenüberliegenden Wand plumpse. „Jack kam gestern zu mir. Es ging ihm ziemlich miserabel und er hat mich um Hilfe gebeten.“
„Um Hilfe?“, krächze ich wie ein sterbendes Huhn.
„Die ganze Sache mit der Verweigerung eures Märchens setzt ihm ziemlich zu.“ Mit einer Hand an der Stuhllehne sinkt er vor mir in die Hocke. „Er wusste, dass er den Wolf nicht mehr lange unterdrücken kann, darum hat er mich gebeten, ihn einzusperren und sicherzustellen, dass er nichts Dummes anstellt. Keiner von uns beiden wusste, was uns erwartet. Wir konnten nur hoffen, dass es nach einer Weile vorbeigeht. Ist es aber nicht.“
Ganz allmählich nehme ich nun auch den Rest meiner Umgebung wahr. Neben mir steht ein schmaler, runder Tisch, ebenfalls aus Holz. Eine offene Flasche Wein und ein benutztes Glas deuten darauf hin, dass jemand in der vergangenen Nacht hier Wache gehalten hat.
„Jack wollte nicht, dass jemand mitkriegt, was los ist“, spricht Phillip in ruhigem, aber bestimmtem Tonfall weiter. „Ich durfte es nicht einmal Rory erzählen. Darum schläft sie auch immer noch. Solange es meinem Kumpel nicht besser geht, kann ich mich sowieso nicht auf meine Geschichte konzentrieren.“ Er stößt ein langes Seufzen aus. „Und er hat mir verboten, dich herzubringen.“
„Danke, dass du mich trotzdem geholt hast“, flüstere ich und drehe mich wieder zum Wolf, der immer noch in seiner Zelle randaliert. Sein todbringender Blick spießt mich dabei förmlich auf. Es scheint, als wollte er das Eisengitter in Stücke reißen, nur damit er mich hinterher zerfleischen kann. Sein Gebrüll fährt mir durch Mark und Gebein.
„Keine Angst.“ Phillip deutet meinen entsetzten Gesichtsausdruck vollkommen richtig. „Er kommt da nicht raus. Aber wir müssen uns etwas einfallen lassen, um ihm zu helfen.“
Ich suche seine Augen und als ich wieder ruhig atmen kann, spreche ich jedes Wort mit tiefem Ernst aus. „Natürlich. Wir werden unser Märchen spielen. Jack und ich gehen zu Großmutter und beenden, was wir vor zwei Tagen angefangen haben. Das sollte seine Qualen doch stoppen und wieder alles in Ordnung bringen, nicht wahr?“
Das lange Schweigen des Prinzen macht mich etwas nervös. „Was ist? Denkst du, es wird nicht funktionieren?“
Er stöhnt. „Ich fürchte, dafür ist es inzwischen zu spät. Er ist nicht mehr er selbst. Seit Stunden verwandelt er sich schon unkontrolliert hin und her. Sobald dieses Gitter aufgeht, wird er sich auf mich stürzen.“ Er macht eine kurze Pause. „Gleich nachdem er dich gefressen hat.“
Grundgütiger, ich kann es direkt vor meinen Augen sehen. Wir würden nie zu Omas Haus gelangen. Dem Wahnsinn in seinen Augen nach, schaffen wir es nicht einmal um die nächste Ecke, und Jack würde eine blutige Spur hinterlassen.
„Was schlägst du vor?“, piepse ich und schlucke dabei schwer.
„Es gibt da vielleicht eine Möglichkeit, aber sie ist ziemlich gewagt.“ Er richtet sich auf und beginnt, vor der Zelle auf- und abzulaufen. Die Anspannung in seinem Nacken verdeutlicht, dass er nicht viel Hoffnung in seine Idee setzt.
„Wir haben wohl keine große Wahl. Nun sag schon, was ist diese Möglichkeit?“
Er stößt einen langen Atem aus und dreht sich dabei zu mir. „Dr. Jekyll.“
Ein gespenstischer Schauer läuft mir bei dem Namen über den Rücken. Dr. Henry Jekyll ist ein brillanter HNO-Spezialist und Kinderarzt in der Stadt, doch ich weiß, dass Phillip nicht davon redet, Hustensaft für Jack zu besorgen.
Der Doktor hat auch noch eine dunklere Seite. Der Wissenschaftler braut während seiner Geschichte im Labor ständig irgendwelche gefährlichen Tränke. Sein fragwürdigstes Meisterwerk war ein Elixier, das ursprünglich das Gute vom Bösen in einer Person trennen sollte. Am Ende hat er damit Mr. Hyde erschaffen.
Nun kann ich auch verstehen, warum die Idee Phillip dermaßen abschreckt. „Du willst, dass er Jack etwas von der Mixtur verabreicht. Denkst du denn, das holt ihn zurück?“
„Na ja, viel schlimmer als jetzt kann es wohl kaum noch werden.“ Er deutet auf den Wolf, der wiederholt gegen das schwere Gitter rennt, wobei das düstere Scheppern durch den Untergrund tönt. „Es ist zumindest einen Versuch wert, zumal es auch unsere einzige Chance ist.“ Er zieht eine Augenbraue hoch und neckt mich doch tatsächlich mitten in dieser bedrückenden Situation. „Außer du möchtest Jack gerne mit deinem Bogen von seinen Qualen erlösen.“
Meinen Freund erschießen? „Das ist nicht witzig!“, grummle ich.
Phillip kommt näher und hockt sich wieder vor mich hin, sodass wir auf Augenhöhe sind. „Ich weiß.“ Die Offenheit in seinem Blick verrät mir, dass er mit der Situation einfach genauso überfordert ist wie ich und schlichtweg nicht mehr weiß, was er jetzt tun soll. „Ich würde wirklich gerne nach Grimwich reiten und mir anhören, was der Doktor zu diesem Fall sagt. Würdest du so lange hier bleiben und ein Auge auf Jack haben?“
„Natürlich!“ Mein Herz blutet für meinen Wolfsfreund. Ich gehe nirgendwo hin, bis es ihm wieder besser geht.
Phillip nickt und steht auf. „Ich komme so schnell zurück, wie ich kann.“
Was ich so sehr an ihm schätze, ist, dass er niemals lange fackelt, wenn die Zeit ganz offensichtlich knapp ist. Das Klackern seiner Stiefelabsätze erschallt und wird leiser, als er den Gang entlang zurückeilt und um die Ecke verschwindet.
Mich schüttelt es immer noch am ganzen Leib. Reglos sitze ich da, bis ich schließlich den Kopf wieder langsam zu Jacks Käfig drehe. Er knurrt im flackernden Licht des Feuers. Obwohl er immer noch Gefahr durch jede Körperpore ausströmt, zieht er sich zumindest vom Eisengitter zurück. Für einen endlosen Moment starren wir uns gegenseitig an. Bei allen Regenbögen in Märchenland, ich wünschte, ich könnte etwas für ihn tun.
Das Knurren verstummt. Er fletscht nun auch nicht mehr seine Zähne in meine Richtung. Ohne mich aus den Augen zu lassen, sinkt er auf den kalten Steinboden im hinteren Schatten des Kerkers. Ein Hoffnungsschimmer ergreift mich, dass er sich bald wieder in einen Menschen zurückverwandeln wird und erkennt, dass ich nicht nur ein Stück Fleisch bin, das Phillip vor seiner Nase baumeln lässt.
Langsam und tief ziehe ich den Atem ein, greife die Rückenlehne des Stuhls, stütze mich mit der anderen Hand auf den Tisch und drücke mich hoch. Behutsam nähere ich mich dem Verlies. „Jack? Bist du jetzt da?“ Meine Stimme ist nichts weiter als ein Mäusepiepen in den stillen Gemäuern. „Es tut mir so leid. Du sollst wissen, dass ich niemals –“
Abermals springt das Biest auf mich zu und kracht mit dem Kopf voran ans Gitter. Das wilde Scheppern sprengt mich einen Schritt zurück. Er fällt auf den Boden, wo sein angestrengter Atem seinen Körper schüttelt.
Mit gebrochenem Herzen drücke ich meine geballten Hände an meine Lippen und verziehe das Gesicht.
Autsch.
*
Es müssen schon Stunden vergangen sein, seit Phillip mich hier mit Jack alleine gelassen hat. Mein Rücken tut weh, weil ich die ganze Zeit schon über diesem schmalen Tisch lehne und dabei das Etikett von der angebrochenen Weinflasche schäle. Merlot. Das ist bestimmt eine viel edlere Marke als der billige Fusel, den ich Oma immer bringe.
Jack wurde in der letzten halben Stunde ziemlich still. Er hat eingesehen, dass es nichts bringt, das arme Gitter zu malträtieren. Frei kommt er dadurch sowieso nicht. Jetzt liegt er wieder in der hintersten dunklen Ecke der Zelle. Nur seine Augen funkeln aus dem Schatten.
Ungeduldig stehe ich auf und werfe einen Blick um die Ecke, in der Hoffnung, dass der Prinz bald zurückkehrt, doch der kalte Korridor ist immer noch leer. Mutlos sinke ich wieder auf den Stuhl.
„Weißt du, was ich mich schon die ganze Zeit über frage, Jack?“, murmle ich nach einer Weile und konzentriere mich dabei auf das letzte Fitzelchen des Etiketts auf der Flasche. „Was Oma mit dem ganzen Wein macht, den ich ihr immer mitbringe. Ich meine, ganz offensichtlich kann sie ja nicht sämtliche Flaschen leertrinken, sonst wäre sie wohl schon längst einem Leberschaden erlegen, oder? Wo kommt er also hin? In einen Pool hinterm Haus?“
Schniefend rolle ich das größte Stück, das ich abgeschält habe, zu einem Röhrchen. „Und dann frage ich mich, was du außerhalb unserer Geschichte den ganzen Tag so treibst. Als wir kürzlich zur Doppelvorstellung zitiert wurden, habe ich dich zum ersten Mal betrunken gesehen.“ Okay, er war vielleicht nicht richtig betrunken, nur ein bisschen beschwipst, aber es hat mich trotzdem zum Grübeln gebracht. Über sein Leben, das weder mich noch Großmutter einschließt. Und den Jäger auch nicht. „Jetzt haben wir schon so eine unsagbar lange Zeit miteinander verbracht und trotzdem weiß ich absolut nichts über dich, oder darüber, was du gerne so machst. Ist das nicht irgendwie seltsam? Ich weiß nicht, was du am liebsten isst. Ob du lieber als Wolf oder in Menschenform schläfst. Oder was du dir wünschst, wenn du eine Sternschnuppe siehst.“
Als ein langes, gefährliches Knurren aus der hintersten Ecke des Kerkers über den Steinboden kriecht, ziehe ich instinktiv meine Füße auf den Sitz, als ob mich nur das Geräusch alleine in die düsteren Schatten ziehen könnte. Und dann folgt plötzlich Jacks abschätzige Stimme aus der Dunkelheit. „Ich wünschte, ich hätte dich letztes Mal im Haus deiner Großmutter gefressen.“
Ich erstarre auf dem Stuhl und zucke nur mit dem Kopf hoch. Das Herz schlägt mir dabei bis zum Hals. Er kommt nicht aus dem Schatten hervor, doch seine Augen leuchten nun irgendwie anders. Mehr braun als rabenschwarz.
Erst nach drei nervösen Atemzügen kehrt meine Stimme zurück und ich erhebe mich langsam aus dem Stuhl. „Nein, das meinst du nicht so, Jack.“ Es ist nur ein winziges Flüstern. Ein Flehen. Ich weiß, dass er wegen meiner waghalsigen Entscheidung leidet, aber so sehr kann er mich doch nicht hassen. Oder? „Wir sind doch Freunde.“
Ein Rascheln am Boden verrät, dass er aufsteht. Mir stockt der Atem. Langsam gehe ich näher, immer auf der Hut, doch als er ins Licht der Fackel tritt, gefriert mir das Blut in den Adern.
Mit gesenktem Kinn und die Lippen hasserfüllt zusammengepresst kommt er auf mich zu und funkelt mich durch den Spalt zwischen den Gitterstäben an. Durch die dünne Haut unter seinen Augen verstreben sich schauerlich blutunterlaufene Adern. Schweiß tropft ihm von der Stirn und seine Nasenflügel zittern, als könnte er nicht genug Luft durch sie filtern, um zu überleben.
In seinem Mundwinkel bildet sich Schaum und läuft über sein Kinn nach unten, als er mit giftiger Stimme sagt: „Das glaubst auch nur du.“
Kapitel 8
Jack
Tränen glitzern in Rileys Augen. Gut. Wollen wir mal hoffen, dass sie jetzt endlich wieder abhaut. Schon seit sie den ersten Fuß in die Katakomben hier gesetzt hat, attackiert mich ihr Duft. Es ist ein Geruch, der seltsame Fäden in meinem Kopf zieht. Am liebsten möchte ich meine Fangzähne in ihren Körper schlagen und ihr das zarte Fleisch von den Knochen reißen.
Doch flüchtet sie immer noch nicht vor mir. Stattdessen bleibt sie wie angewurzelt stehen und murmelt irgendwelche unsinnigen Entschuldigungen, die keinen Menschen jucken.
„Öffne die Tür!“, knurre ich und schneide ihr das Wort ab, weil mir diese glöckchenartige Stimme gerade tierisch auf die Nerven geht, ebenso wie ihr verängstigter Blick und am allermeisten ihr Mitleid. Ich war lange genug hier drin. Jetzt muss ich laufen. Jagen. Fressen. Wo zur Hölle steckt nur Phillip? Die beiden haben etwas ausgeheckt, bevor er abgehauen ist – so viel habe ich noch mitbekommen. Doch in meiner Rage, das Mädchen zu erwischen, ist das meiste von dem, was sie gesagt haben, im Lärm untergegangen.
„Jack …“ Ihre Stimme zittert. „Ich kann dich nicht rauslassen. Es ist zu –“
„Öffne dieses gottverdammte Gitter, Rotkäppchen!“ Ich packe die Eisenstäbe und rüttle so hart daran, dass sie den Kopf einzieht und ihre Arme in Panik darüber schlägt. Das macht sie also, wenn sie sich vor etwas schützen will? Armselig. Wenn nicht dieses verfluchte Gitter zwischen uns stünde, wäre sie bereits tot. Wolfsfutter. Scheiße nochmal, ich muss sofort hier raus.
„Na, na, Jack. Nicht so grob.“ Phillips neckender Ton zieht meine Aufmerksamkeit von dem Mädchen auf sich. „Wir schreien in diesem Schloss keine Ladys an.“ Während er gerade um die Ecke kommt, grinst der Bastard, als wäre das hier ein bescheuertes Spiel, das wir treiben, und er hätte es soeben gewonnen, weil er Verstärkung mitgebracht hat.
Wer ist der Kerl im schwarzen Mantel hinter ihm überhaupt? Ich erinnere mich vage an die zerzausten dunklen Haare, aber mir fällt ums Verderben kein Name zu dem großen, schlaksigen Mann mit Ledertasche ein. Seine buschigen Augenbrauen kippen nach unten und treffen sich beinahe in der Mitte über seiner Nasenwurzel, während er mich aus der Ferne beobachtet.
„Hallo, Doktor Jekyll“, empfängt ihn das Mädchen mit einem Händeschütteln und klingt dabei irgendwie erleichtert. „Danke, dass Sie gekommen sind.“
Bei diesem Namen macht etwas in meinem Hirn klick. Mein Griff wird stählern um die Gitterstäbe. „Warum zum Teufel hast du einen geistesgestörten Wissenschaftler hergebracht?“, kläffe ich Phillip an und spucke dabei Schaum.
„Der Doktor ist hier, um dir zu helfen“, antwortet er, als er näherkommt und seinen besorgten Blick dabei fest auf mich richtet.
Verflucht, das kann er sich sparen! Zwischen dem Eisennetz greife ich nach draußen und kralle nach seinem Hemd. Leider bekomme ich ihn nicht zu fassen, weil der Drecksack nach hinten wegspringt.
„Oookaaay …“ Mit erhobenen Händen dreht er sich zu dem Mädchen und dem Irren um. „Sie gehen da wohl besser nicht zu nahe ran, Doc.“
Ich verrenke meinen Nacken, weil das Atmen hier unten plötzlich ziemlich anstrengend wird.
Der Fremde kniet sich auf den Boden und öffnet die schwarze Medizintasche. Mich seitlich im Auge, kramt er darin herum und fragt Phil nebenbei: „Sind Sie sicher, dass es sich hier nur um einen Fall von Märchenentzug handelt und Ihr Freund sich nicht vielleicht doch irgendwo die Tollwut geholt hat?“
„Komm her und ich geb dir Tollwut“, knurre ich und rüttle wieder am Käfig.
Ein Knie immer noch auf dem Boden, konzentriert er sich nun auf die Spritze, die er gerade vor sich mit einer grünen Flüssigkeit aufzieht.
„Was genau ist das?“, will Rotkäppchen wissen. Ihr verängstigter Blick hängt dabei ebenfalls an der Spritze.
Ja, was zur Hölle ist das für ein Zeug? „Hey! Wenn du mich in den grünen Hulk verwandelst, fresse ich dein Herz zum Frühstück und verbuddle deine Eier im Wald, nur damit das klar ist, Psycho!“
Er wirft mir zwar einen kurzen, herablassenden Blick zu, spricht aber mit den anderen, während er die kleine Flasche mit der Flüssigkeit zurück in den Koffer steckt. „Dies ist eine verfeinerte Version meines ursprünglichen Persönlichkeitstrennungselixiers.“ Er schnippt zweimal mit dem Finger gegen die Spritze, Nadel nach oben. „Es wird den guten und den bösen Teil in eurem Freund voneinander isolieren. Ich habe es mit Feenstaub versetzt, deshalb glitzert es auch so. Er sorgt dafür, dass der gute Teil in einer Person am Ende dominiert.“
„Hörst du das, Jack?“ Phil dreht sich in meine Richtung. „Nur ein kurzer Pieks und du bist wieder so gut wie neu.“
Ich springe vom Gitter zurück. „Bleibt weg von mir!“
„Komm schon, es ist ja gleich vorbei. Und danach wirst du dich viel besser fühlen.“
„Ich werde mich besser fühlen, wenn ihr endlich diesen verfluchten Käfig aufmacht.“ Ein seltsamer Schwindel setzt plötzlich ein. Ich drücke beide Hände an die Schläfen und torkle gegen die Wand. Grundgütiger! Vor mir tanzen dunkle Schatten auf dem Boden. „Und macht diese beschissene Fackel aus“, brumme ich. Bei den ganzen wackelnden Gestalten, die hier rumtanzen, kann doch niemand klar im Kopf bleiben!
Die Stirn an die kalte Steinmauer zu lehnen, hilft, das Karussell in meinem Kopf etwas zu verlangsamen. Tiefe Atemzüge blähen meine Brust auf. Oh ja, das fühlt sich gleich viel besser an. Luft. Endlich. Hat eben jemand versucht, mich zu erwürgen? Wo bin ich überhaupt? Ein modriger Geruch steigt mir in die Nase. Ich sehe mich um. Ach ja, richtig, der Kerker. Ich glaube, ich habe die Nacht hier unten verbracht.
Aber wer hat mich denn hier eingesperrt? Und warum? Sollte ich nicht längst draußen sein?
Als ich mich umdrehe, stehen drei Leute auf der anderen Seite des Eisengitters. Keiner von ihnen kommt mir bekannt vor. Sind sie hier, um mich zu besuchen? Zwei Ritter und ein Gnom – ich denke nicht, dass sie zur Familie gehören. Vielleicht sind sie ja gekommen, um jemand anderen zu besuchen. Bestimmt sind hier unten mehrere Zellen.
Der Schlüssel zu meinem Käfig hängt an einem Haken an der Wand. Wenn er nur nicht so weit weg wäre. Ich strecke meinen Arm durch das gewebte Netz aus Eisen – nö. Ich komm nicht ran.
„Hey, du da! Mädchen“, flüstere ich dem roten Gartenzwerg zu. Als ihre Aufmerksamkeit endlich zu mir wandert, zeige ich auf den Schlüsselring aus Messing. „Gib das mal her.“
Sie starrt nur still auf meinen ausgestreckten Arm, dann wieder in mein Gesicht und sieht mich dabei ganz traurig an.
„Mach dir keine Sorgen“, tröste ich sie. „Ich weiß, dass du kurz bist, aber es ist gar nicht so hoch, wie du denkst. Stell dich einfach auf die Zehenspitzen, dann kommst du schon ran.“ Ich schenke ihr ein ermutigendes Lächeln. „Mach schnell.“
„Wie lange wird es denn dauern, bis die Wirkung einsetzt, Doktor?“, fragt das Mädchen einen der beiden Kerle.
Verfluchter Donnerknall, ignoriert sie mich gerade? „Hey, Mädchen! Die Schlüssel!“, befehle ich nun etwas schärfer und wackle auffordernd mit den Fingern.
„Der erste Effekt zeigt sich üblicherweise recht schnell“, erklärt der dunkle Ritter mit Augenbrauen wie Gestrüpp. Er erhebt sich vom Boden und kommt näher, wobei er eine Spritze in der Hand hält.
Whoa! Ich ziehe meinen Arm zurück.
„Es wird Ihren Freund für eine Weile außer Gefecht setzen. Leider hat es auch eine kleine Nebenwirkung, über die Sie Bescheid wissen sollten“, fährt er fort. „Da dies seine erste Erfahrung mit dem Serum ist, könnte er darauf etwas überdreht reagieren, wenn er wieder zu sich kommt. Sein Körper und Geist müssen sich erst daran gewöhnen. Aber nach ein paar Stunden sollte der Effekt nachlassen.“
Oh nein! Bin ich etwa der Freund, von dem er da spricht? Panik steigt in mir auf und schnürt mir die Luftröhre zu. „Sie wollen mich ausknipsen?“
„Nein, wir wollen dir helfen, Jack!“, antwortet der unnütze, kurze Wicht in Rot.
Wie soll eine Spritze denn diesen Käfig hier aufbrechen, das würde mich mal interessieren! „Es tut mir leid, aber ich glaube, Sie irren sich. Hier wohnt kein Jack. Vielleicht versuchen Sie es mal ein paar Zellen weiter hinten im Korridor. Da finden sie sicher, wonach Sie suchen. Und geben sie auf die Riesen Acht.“
„Wir sind hier schon richtig“, meldet sich nun auch der blonde Ritter in rotem Hemd und weißer Weste zu Wort. Er sieht ziemlich erschlagen aus, so wie er dort drüben auf dem Stuhl hängt. Müde lehnt er den Kopf zurück. „Gib dem Doc einfach deinen Arm und dann ist die ganze Sache auch ruckzuck vorbei.“
Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen weiche ich an die hinterste Wand des Kerkers zurück. „Einen Scheiß gebe ich ihm.“
„Hör zu, Kumpel –“
„Nein, warten Sie“, fällt der Dunkle dem Blonden ins Wort. „Es bringt nichts, mit ihm zu diskutieren. Wie es scheint, ist er bereits übergeschnappt und wird nicht mehr kooperieren.“
„Was sollen wir denn jetzt tun?“, wimmert das Mädchen und klingt echt bekümmert.
„Geh nach Hause“, schlage ich ihr sanftmütig vor, „und lass den Schlüssel hier.“ Hoffentlich macht sie das wieder glücklich. Sie wirkt wie die Netteste von ihnen allen.
„Letzte Woche musste ich Tarzan eine Grippeimpfung geben“, erzählt der Mann mit der Spritze in ruhigem Ton, der mir gar nicht gefällt. „Er war auch ein schwieriger Patient. Am Ende habe ich ihm die Injektion mit einem Dartpfeil durch ein Blasrohr verpasst.“
„Meinen Sie, das könnte auch bei Jack funktionieren?“, will das Mädchen wissen und klingt schon viel fröhlicher. Das kommt bestimmt daher, weil ich ihr gesagt habe, sie darf jetzt nach Hause gehen.
„Ja, das sollte es“, versichert ihr der angebliche Arzt. „Ich habe alles hier in meiner Tasche und muss nur den Pfeil in das Serum tunken. Es wird dieselbe Wirkung wie eine Injektion haben.“ Er fummelt an etwas in seinem Koffer herum und hält dann ein kurzes, blaues Rohr samt Pfeil mit buschigen lila Federn hoch. „Würde vielleicht einer von Ihnen schießen? Ich bin nicht sehr gut darin.“ Seine Stirn legt sich in Falten. „Ich musste Tarzan dreimal um das ganze Haus jagen, bis der siebte Pfeil dann endlich sein Ziel erreicht hat.“
„Ich werd’s tun“, meldet sich der rote Gnom freiwillig und greift nach den Sachen. Sie stopft den Pfeil ins Blasrohr, hält es an ihre Lippen und dreht sich zu mir.
Ich reiße die Hände abwehrend in die Luft. „Wehe!“ Meine Zunge trocknet in meinem Mund aus.
„Es tut mir leid, Jack.“ Wieder überziehen Sorgenfalten ihr hübsches Gesicht. Sie wird das jetzt doch nicht wirklich –
Whump!
Ein kurzer Stich über meinem Herzen zieht meine Aufmerksamkeit nach unten. Da steckt ein lila Flauschball in meiner Brust, dessen Nadel sich durch meine Haut gebohrt hat. „Haaahhh“, entweicht es mir entsetzt. Ich ziehe den Pfeil heraus, betrachte ihn einen Moment und hebe dann den Kopf. Alle drei starren mich erwartungsvoll an, doch meine Worte richten sich einzig und allein an das Mädchen. „Ich kann nicht glauben, dass du mich abgeschossen hast.“
Keiner von ihnen sagt etwas. Sie schauen nur drein, als warten sie darauf, dass ich mich gleich in ein Sahnetörtchen verwandle. Und dann setzt plötzlich ein äußerst seltsames Kribbeln in meinen Zehen ein, das sich ziemlich schnell in meinem ganzen Körper ausbreitet. Fühlt sich an wie tausend kleine Käfer, die durch meine Adern krabbeln. Scheiße, was ist das denn?
Zu dem Zeitpunkt, als das Gefühl meinen Hals erreicht, hat es sich schon um ein Zwanzigfaches verstärkt. Meine Zunge klebt am Gaumen fest, meine Augen springen so weit auf, dass sie sich wie kleine Ballons in meinem Schädel anfühlen und in der nächsten Sekunde explodiere ich in den Wolf.
Junge … das hat wehgetan.
Die Welt sieht aus, als wäre sie zur Seite gekippt. Was zur Freakshow soll das denn? Haben die mich unter Drogen gesetzt? Bestimmt haben sie etwas vom Tabak der blauen Raupe geklaut und mir intravenös verabreicht. Ihr dämlichen Menschen! Als ich auf sie zuspringen will, merke ich, wie etwas gegen meine Seite scheuert. Stein. Der Boden? Fuck, ich liege!
Meine Beine rudern in der Luft. Es ist harte Arbeit, aber ich bin der Meister. Ich schaffe alles. Ja, genau, ihr Ratten! Ihr dachtet wohl, ich würde eure fiese Attacke nicht überleben, was?
Endlich wieder in aufrechter Position stehe ich aber schon vor dem nächsten Problem. Die Erde bebt. Himmel, wie soll man denn in dieser wackeligen Zelle stehen bleiben? Verzweifelt scharre ich mit den Pfoten auf dem Steinboden, als ich versuche, die Balance zu halten. Dennoch kippe ich wieder um. Ein Schleier trübt meine Sicht. Und, verflucht noch mal, ist das plötzlich heiß hier drin!
Meine Knie sind so weich, ich kann mich nicht einmal mehr aufrichten, nur noch vorwärts schleppen. Verzweifelt versuche ich, das Gitter zu erreichen, doch ich stürze erneut. Meine Schnauze landet in einer Edelstahlschüssel mit Wasser.
Hilfe! Hilfe! Ich ertrinke!
Weil mein Kopf so schwer ist, kann ich mich selbst nicht aus der tödlichen Falle befreien. Ich paddle mit den Vordertatzen gegen die Schüssel. Mehr Wasser spritzt mir ins Gesicht. Ich kneife die Augen zu und, Grimm sei Dank, kann ich im nächsten Moment endlich wieder atmen. Ja, gut, gerettet! Ich bin in Sicherheit und immer noch am Leben.
Ich drehe die Augen zu den Leuten vor meinem Gefängnis und lasse die Zunge zwischen meinen Fangzähnen raushängen.
Na, ihr Klugscheißer? Konntet mich wohl nicht umbringen, häh? Da müsst ihr euch schon was Besseres einfallen lassen, wenn ihr mich ausschalten wollt.
Und dann wird alles schwarz.
*
Whoa, mir dröhnt der Schädel. Fühlt sich an, als würde darin ein Schwarm Bienen eine Party feiern. Ich lecke mir über die trockenen Lippen. Fangzähne … Okay, der Wolf ist draußen. Aber wo bin ich? Fühlt sich nicht an wie mein Bett – dafür ist es zu hart. Und Riley würde auch nicht neben mir liegen. Sie muss aber irgendwo hier sein, denn ich kann ihr sanftes Murmeln hören.
Was genau sie sagt, weiß ich nicht. Ihre Stimme kommt von sehr weit her. Und doch ist sie in der Nähe, denn ihr lieblicher Duft steigt mir in die Nase. Morgentau und Walderdbeeren. Unverkennbar.
Ein eigenartiges Gefühl verdrängt das Dröhnen aus meinem Kopf. Es ist da, gleich hinter meinem Ohr. Als würden kleine Eichhörnchenfüße durch mein Fell krabbeln. Es fühlt sich nett an – obwohl ich ja stark bezweifle, dass irgend so ein Nager dämlich genug wäre, über einen Wolf zu laufen.
Die kleinen Füße verweilen an derselben Stelle und beginnen, sanft zu treten. Ich raune entspannt.
Ein mädchenhaftes Kichern folgt. „Ja, das magst du, nicht wahr?“
Oh. Dann kommt das sanfte Kraulen also von Rileys Fingern. Sucht sie nach einem Knopf, um meine Schädeldecke zu öffnen und die Bienen rauszulassen? Das wäre echt spitze.
Meine Lider sind zu schwer, um sie zu heben, doch ich rutsche etwas näher dahin, wo ihre Stimme herkommt. Ein scheuerndes Geräusch ertönt dabei, als meine Pfoten auf Stein kratzen. Nein, definitiv nicht mein Bett. Nicht einmal mein Apartment, wenn man nach der modrigen Luft geht, die durch meine Nase strömt. Als meine Schnauze gegen etwas Hartes rammt, öffne ich aber doch endlich die Augen.
Ich kann Riley erkennen. Sie sitzt auf dem Steinboden im warmen Licht der Fackel. Aber eine Art Eisengitter scheint zwischen uns zu stehen. Was um alles in Märchenland …? Ihr Arm reicht durch eines der vielen quadratischen Löcher und sie macht mit dem angenehmen Kraulen hinter meinem Ohr weiter.
Indem ich die Augen von einer Seite auf die andere rolle, untersuche ich erst einmal meine Umgebung. Steinwände ohne Fenster, ein Feldbett in der Ecke und vom blanken Stahl einer umgekippten Wasserschüssel am Boden aus starrt mich die verzerrte Fratze eines Wolfs an. Großer Grimm, ich weiß, wo ich mich befinde!
Erschrocken springe ich auf – oder ich versuche es zumindest. Das Ergebnis ist ein Pfannkuchen á la Wolf.
„Langsam, Jack“, sagt Riley in einem seltsam sanften Ton, den ich von ihr noch nie zuvor gehört habe. „Du warst für einige Stunden ohnmächtig.“
Nach einem heftigen Kampf gegen die Schwerkraft, schaffe ich es endlich, mich zumindest aufzusetzen. So befinden wir uns auf Augenhöhe und sie lächelt durch das Gitter. „Du solltest es ruhig angehen. Ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnern kannst, was gestern geschehen ist, aber du hattest einen ziemlich fiesen Tag.“
Fieser Tag? Ich erinnere mich daran, dass du mich abgeschossen hast, kleine Lady! Da ich aber selbst zu Phil gekommen bin und ihn gebeten habe, mich wegzusperren, hatten sie vermutlich einen guten Grund dafür.
„Ich nehme an, es ist jetzt sicher, dich rauszulassen.“ Riley rappelt sich hoch und richtet sich das Kleid unter dem langen roten Umhang. „Kannst du dich in dich selbst zurückverwandeln?“
Ich versuche, in meinen menschlichen Körper zu schlüpfen. Nichts passiert. Meine Muskeln spannen sich an, als ich mich noch stärker anstrenge, aber der Wolf bleibt zu stark. Mist, warum klappt das denn nicht?
Ein argwöhnisches V bildet sich zwischen ihren Augenbrauen. „Probierst du es schon, Jack?“
Nein, ich will hier ein Ei legen. Was denkt sie denn wohl?
Von Panik ergriffen stehe ich auf und blicke unter meinem Bauch durch meine Beine. Scheiße, da ist noch überall Fell. Wie kann das möglich sein? Ich hatte noch nie Schwierigkeiten damit, mich in eine der beiden Gestalten zu verwandeln.
„Okay, dreh jetzt nicht durch“, meint Riley schnell darauf und streckt mir beschwichtigend die Hände entgegen, „aber bevor Dr. Jekyll gegangen ist, hat er noch gesagt, dass so etwas passieren könnte.“ Mit den Fingern am Gitter hängend, sinkt sie in die Hocke und sieht mir durch den Spalt in die Augen. „Es hat ihn ziemlich überrascht, dass du nach der Impfung überhaupt in den Wolf explodiert bist. Weil das deine erste Bekanntschaft mit dem Hyde-Elixier ist, wird es ein paar Stunden dauern, bis du dich daran gewöhnt hast. Mach dir also keine Sorgen. Du wirst nicht ewig im Wolf steckenbleiben.“
Na fantastisch. Die haben mich mit Monster-Serum ausgeschaltet. Muss ich sonst noch was wissen?
Mit weichem Blick neigt sie den Kopf zur Seite. „Hast du Hunger?“
Meine Zunge rollt aus meiner offenen Schnauze und ich fange an zu hecheln.
Hey! Sofort ziehe ich sie wieder ein und schließe den Mund.
„Okay.“ Sie steht vom Boden auf. „Phil ist schon vor einer Weile gegangen, um das Ding mit Dornröschen fertig zu spielen. Ich möchte nicht ungefragt ihren Kühlschrank plündern. Wie wäre es also, wenn wir beide einen kleinen Streifzug durch den Wald machen? Der Doktor meinte, das sollte jetzt okay sein. Vielleicht finden wir ja einen Hasen für dich. Oder ein Warzenschwein.“
Meine Ohren richten sich aufmerksam in die Höhe und wieder klappt mir die Zunge raus. Huch, das wollte ich doch gar nicht. Aber was noch viel schlimmer ist, mein Hintergestell beginnt gerade zu wackeln. Ich checke kurz mal, was da los ist, und finde meinen Schwanz im Wedelmodus. Heee! Hör sofort damit auf, du dummes, nutzloses Ding!
Ich biege mich nach hinten und versuche ihn zu erwischen, aber meine Zähne bekommen nur Luft zu fassen. Angestrengt verrenke ich mich noch weiter. Da! Gleich! Nur noch ein bisschen! Ich beiße noch einmal zu, doch jedes Mal, wenn ich denke, ich erwische ihn, bewegen sich meine Beine ganz von allein und ich verfehle ihn um wenige Zentimeter. Ich verfolge meinen Schwanz so lange um mich selbst herum, bis Rileys Lachanfall mich schlagartig stoppt.
Hey, nur damit eins klar ist! Ich bin nicht einer dieser hyperaktiven Welpen, die zu dämlich sind, um zu schnallen, dass sie ihren eigenen Schwanz jagen, okay? Ich will ihn nur dazu bringen, ruhig zu sein. Das ist was völlig anderes!
Immer noch bebend vor Lachen, schnappt sich Riley den Schlüssel von der Wand und öffnet das Gitter. „Na komm schon, Junge, komm raus! Bevor dir da drin noch ganz schwindlig wird.“ Sie klopft sich auf den Oberschenkel und ich schwöre, ich kann absolut nichts gegen das freudige Jaulen tun, das mir entfährt, als ich in purer Aufregung um sie herumspringe und meine Zunge wieder einmal aus meinem Maul hängt. Fuuuck!
Sie nimmt die Fackel von der Wand, um uns den Weg zurück aus den Katakomben auszuleuchten, und streift dabei mit den Fingern durch das Fell an meinem Kopf, während ich versuche, mich neben ihr endlich einzukriegen.
Als wir nach draußen ins Sonnenlicht kommen, fühlt es sich an, als wäre ich tagelang unter der Erde weggesperrt gewesen. Was vermutlich sogar der Fall war. Die Schnauze hoch in der Luft, ziehe ich tief den Atem ein. Du lieber Lebkuchenmann, was für eine Wohltat. Bis mich die Sonnenstrahlen des späten Morgens in der Nase kitzeln und ich niesen muss. Zweimal.
„Na los, komm mit, du großes, böses Wölfchen, du!“, neckt mich Riley und rennt über die Wiesen von Adelsburg los in Richtung Wald. Sofort fetze ich ihr hinterher und als ich das quirlige rote Bündel eingeholt habe und ihren Hintern mit meiner Schnauze anstupse, schallt ihr Lachen über die Ebenen.
Hinter den Grenzen des Waldes, wo das Licht etwas kühler ist, verlangsamt sich ihr Tempo zu einem gemütlichen Spaziergang. Sie muss nach dem ganzen Gekicher erst mal wieder zu Atem kommen. Während ich ein paar Schlucke aus dem kleinen Bach neben dem Weg nehme, pflückt Riley einen Apfel vom Baum und wirft ihn ein paarmal in die Luft.
Auf unserem weiteren Weg bleibt mein Blick stets auf den Apfel fixiert. Sie beißt nicht hinein, wirft ihn nur immer wieder hoch. Hoffentlich fällt er bald auf den Boden. Dann gehört er mir.
„Was ist?“, trällert sie lächelnd zu mir runter. Ihre Hand mit dem Apfel sinkt vor meine Nase. „Möchtest du den?“
In heller Aufruhr springe ich vor sie. Ja! Ja! Ja! Ja! Ja!
Ihr Grinsen wird breiter, während sie mit dem Arm weit nach hinten ausholt. „Okay, dann hol ihn dir!“ In der nächsten Sekunde wirft sie den Apfel tief in den Wald und zieht den Arm hinter ihren Rücken.
Junge, oh Junge! Ich zucke herum, sprinte los. Drei Meter, dann bleibe ich stehen und richte den Blick scharf auf das Unterholz. Meine Augen sind weit aufgerissen und mein Herz pocht wie verrückt, doch mein Instinkt treibt mich wieder zu Riley und ich tapse aufgeregt vor ihr hin und her. Hast du ihn geworfen? Hast du ihn geworfen?! Stirnrunzelnd spähe ich noch einmal in die Büsche. Ich konnte nicht hören, wie der Apfel gelandet ist. Sag schon, du hast ihn immer noch hinter dem Rücken, oder? Hast du? Hast du? Zitternd vor Übermut schnüffle ich in ihren Umhang. Wo ist er?
„Bei allen guten Märchen, Jack!“ Riley fällt auf den Boden und kugelt sich. Und da ist auch der Apfel! Immer noch in ihrer Hand. Ich wusste es!
„Wahrscheinlich wirst du mich am liebsten umbringen wollen, wenn du endlich wieder bei Sinnen bist“, zwitschert sie zwischen ihrem Kicherschluckauf, „aber du solltest dich wirklich gerade selbst sehen!“
Ha. Ha. Sehr witzig. Dafür steige ich über sie und lecke ihr Gesicht ab.
„Iiih! Lass das! Du bist widerlich!“ Sie lässt den Apfel fallen, damit sie mit beiden Händen meinen Kopf wegdrücken kann, und dreht ihr Gesicht weg. Das hilft ihr aber gar nichts. Sie bekommt jetzt eine ausführliche Wolfswäsche. Und wenn sie weiter so heftig lacht, muss ich sie am Ende auch noch Mund-zu-Mund beatmen.
Doch dann packt ein Rascheln in der Nähe meine Aufmerksamkeit und ich hebe den Kopf.
Riley hört auf, mich von sich zu schieben, und sieht ebenfalls zu den Büschen hinüber. „Was ist denn?“
Schh.
„Jack?“
Schhhhh!
Da! Zwischen den Haselsträuchern hat sich eindeutig etwas bewegt. Alle Sinne in höchster Alarmbereitschaft, warte ich noch eine Sekunde auf das nächste Rascheln, dann sprinte ich los mit Ziel auf was auch immer sich dort im Dickicht versteckt.
Es riecht nach Wild. Und es hat ein Geweih. Boah! Ein Elch! Bin ich eine Glückssau, oder was?
Entsetzt schreit das Tier auf, als ich von der Seite heranstürme und es umkippe. Wir rollen übers Moos, bis ich wieder obenauf bin und es mit den Tatzen am Boden halte. Okay, es ist kleiner. Vielleicht doch kein Elch. Aber dennoch ein leckerer Happen.
„Jack? Wo steckst du?“, dringt Rileys Stimme durch den Busch zu uns, kurz bevor sie auch schon zwischen den Zweigen erscheint. Sie klopft sich etwas Unkraut vom Cape und kommt dann mit einem stolzen Lächeln herüber. „Ah, du hast dir ja schon ein –“ Ihr Lächeln verschwindet.
Warum schaut sie denn jetzt so böse?
„Ist das Rudolf?“
Rentier? Jap, dem intensiven Geruch nach, könnte es eines sein. Aber mach dir keine Sorgen, wir braten es überm Feuer, dann schmeckt es fantastisch.
„Märchenskinder! Du kannst doch kein Rentier vom Weihnachtsmann fressen!“
Warum nicht? Er hat ja noch genug davon.
„Jack! Lass ihn sofort los! Das ist Rudolf. Der Rudolf!“
Du nennst es Rudolf. Ich nenne es Mittagessen.
Riley tappt ungeduldig mit dem Fuß. Winselnd schüttle ich den Kopf und halte das zappelnde Wollknäuel unter mir gefangen. Sie hat sich sowieso geirrt. Das ist gar nicht Rudi. Wahrscheinlich ist es nur irgendein Kerl namens Matt oder so. Im Wald wimmelt es praktisch nur so vor Rentieren.
Als seine Nase anfängt zu leuchten, schiebe ich unauffällig meine Pfote darüber.
Mit verschränkten Armen räuspert sich Rotkäppchen energisch. „Jaaa-ack!“
OKAY! Augenrollend rutsche ich von dem Rentier runter und setze mich hin. Das Vieh blökt mir griesgrämig ins Gesicht, ehe es von dannen trottet.
Und mir knurrt der Magen. Großartig.
Zumindest kann Riley das Geräusch nicht überhören. Ihre Miene erweicht und sie streichelt mich hinterm Ohr. Mmh, das fühlt sich unglaublich an. Zufrieden grunzend, schließe ich die Augen und drücke meinen Kopf gegen ihre Handfläche. Warte mal! Sollte ich das tun?
Ah, was soll’s …?
„Komm mit, du schlimmes Wölfchen.“ Sie lacht laut zwischen den Bäumen. „Lass uns Oma besuchen. Vielleicht hat sie ja etwas Leckeres im Kühlschrank.“
Mein Hinterteil hebt sich und mein Schwanz fängt schon wieder an, aufgeregt zu wedeln. Uff. Seufzend lasse ich den Kopf hängen. Dieses Mal weigere ich mich aber, dem verräterischen Teil von mir nachzujagen.
Während ich neben Riley herlaufe, verspeist sie den Apfel. Großmutters Haus klingt schon sehr verlockend. Bei der Wegkreuzung, an der wir uns normalerweise zu Beginn unseres Märchens treffen, biegen wir in ihre Richtung ab. Weiter hinten auf dem Weg kommt uns jemand entgegen. Ein gelber Fellball in Stiefeln, Weste und Hut.
Vor Begeisterung werden meine Augen ganz glasig.
Allerdings kann ich nicht sagen, dass sich der gestiefelte Kater ebenso sehr über meinen Anblick freut. Seine Augen werden so groß wie Hühnereier und auf seinem Katzenbuckel stellt sich das Fell wie elektrisiert auf. Fauchend vor Schreck fährt er die Krallen aus.
Im nächsten Moment springt die Katze herum und saust ins Dickicht davon. Donnerwetter, wenn das jetzt keine Einladung war!
Bin gleich wieder da!
~*~
Fortsetzung folgt … wenn ihr wollt. 😉