Eloyn

1. Die Engel, die ich rief

In dicken Wollsocken und meinem langen Nachtshirt schleiche ich die Treppe hinunter und in die Küche, weil ich für heute endlich mit Lernen für die Abschlussprüfungen fertig bin und meine Kehle so trocken ist, wie die Topfpflanze in unserem Klo, die meine Mutter regelmäßig vergisst zu gießen. Ich brauche dringend einen Schluck Wasser.

Aus dem Wohnzimmer dringt blau-flackerndes Licht, als ich daran vorbeischleiche. Es ist schon nach 23:00 Uhr und so lange sind meine Eltern normalerweise nie auf, darum werfe ich einen kurzen Blick hinein. Da liegen sie beide zusammengekuschelt auf der breiten Seite der Couch, wo sie tief und fest schlummern, und entlocken mir damit ein Lächeln.

Langsam gehe ich zu ihnen hinüber, werde dabei aber von der ernsten Stimme der Nachrichtensprecherin auf dem Bildschirm abgelenkt. Es klingt, als wäre heute wieder einer jener Tage, an denen die Welt da draußen in Dunkelheit versinkt. Nichts als Krieg ist zu sehen, Tod und Verzweiflung, und eine Welt, die an Korruption kaum noch zu überbieten ist. Die Menschen sind grausam zueinander und Nächstenliebe hat schon lange keinen Platz mehr auf unserer Erde. Einen Atemzug lang stehe ich mitten in unserem Wohnzimmer und mir blutet das Herz.

Ich war immer schon ein Kind der Sonne und der Meinung, man könnte die Welt an nur einem einzigen Tag retten … wenn nur jeder seinen klitzekleinen Beitrag dazu leisten würde. Aber das macht keiner. Oder nur die wenigsten. Der Großteil der Menschheit hat verlernt, in Einklang mit unserem Planeten zu leben. Die Gier nach Macht und Geld schreckt vor keiner auch noch so fürchterlichen Art der Ausbeutung und Zerstörung zurück.

Luzifer hat gewonnen.

Traurig über eine verlorene Welt, die doch eigentlich so wunderschön sein könnte, seufze ich erdrückt und schalte den Fernseher aus. Ich will meine Eltern nicht aufwecken, aber sie sollen auch nicht mit der Geräuschkulisse von Krieg und Leid im Hintergrund weiterschlafen. Und Winnie Puuh im Hundert-Morgen-Wald läuft um diese Zeit leider auf keinem Kanal mehr.

Liebevoll lege ich eine warme Decke über die beiden und hole mir dann endlich ein Glas Wasser aus der Küche. Dabei stolpere ich beinahe über unsere Katze, die mir erst um die Schienbeine streift und sich dann mit ihrem typischen »Bitte, bitte, lass mich raus!« Blick in den Augen vor mich auf den Fliesenboden setzt. Die Nächte verbringt sie lieber im Freien als im Haus, darum begleite ich sie noch zur Eingangstür und lasse sie in den Vorgarten entwischen.

Ein frischer Abendwind weht herein und pustet mir die hellbraunen Strähnen ums Gesicht. Der Wind trägt auch das laute Geschrei unserer Nachbarn zu mir, die sich wieder einmal wie die Wilden über weiß der Teufel was streiten.

Auf merkwürdige Weise geht mir dabei heute die Kraft aus, denn es fühlt sich an, als wäre ich in diesem grauenvollen Strudel aus schwerer Energie mitgefangen und er würde mich erbarmungslos immer weiter nach unten ziehen.

»Mein Gott, Luzifer! Warum machst du das nur?«, lasse ich meinen Frust über diese lieblosen Zeiten in einem Murmeln heraus und blicke dabei von der Türschwelle aus zu den Sternen hoch.

»Willst du darauf jetzt wirklich eine Antwort?«, erklingt im nächsten Augenblick eine ruhige Stimme hinter mir und trifft mich zugleich mit der Urgewalt eines Donnerschlags.

Diese unbändige Kraft fährt mir durch Mark und Gebein und entringt mir ein angsterfülltes Keuchen. Sie lässt mich für eine Schocksekunde an Ort und Stelle erstarren. Meine Finger krallen sich fester um die Türschnalle. Ich kann kaum noch atmen und meine Augen trocknen schmerzhaft aus, weil ich nicht einmal mehr blinzeln kann. Dabei zieht eine Eiseskälte durch meinen Körper und lässt eine Gänsehaut von meinem Nacken bis zu meinen Fußknöcheln zurück.

Grundgütiger! Was habe ich getan?

Sobald meine Angststarre eine kleine Bewegung zulässt, werfe ich die Tür ins Schloss, falle auf die Knie und kneife fest die Augen zu. Dann strecke ich sofort geistig die Hand nach Seraphim Michael aus. Ich muss dabei nicht nachdenken. Es ist wie ein Urinstinkt. Und sofort nehme ich innerlich wahr, wie sich meine Umgebung auf fast magische Weise verändert. Es ist, als würde eine zweite Realität wie ein leichter Sommerwind über die Erde ziehen und dabei zwei Welten für mich vereinen. Die irdische. Und die, die außer mir offenbar niemand erkennen kann.

Mein ganzes Leben lang war Michael der Engel, der mich immer schon auf diese fantastische Art begleitet hat. Er kam früh in meinen Kindheitstagen zu mir und ist seither nie wieder verschwunden.

Ich kann seine Anwesenheit auch sofort spüren. Seine vertraute, lichtvolle Schwingung erfüllt den Flur und legt sich wie ein schützender Mantel um mich. Dennoch schlottern mir die Knie und ich wage es nicht, aufzusehen. Ich habe Angst vor dem, was ich gedankenlos herbeigerufen habe.

Ich habe Angst vor ihm.

»Alles ist gut. Ich bin hier, Eloyn«, sagt Michael sanft. Das ist nicht mein richtiger Name, und doch ist er mir so vertraut wie der Duft von heißem Kakao im Winter und zieht wie ein sanftes Streicheln durch mein ganzes Sein. »Du kannst jetzt mit Luzifer sprechen, wenn du möchtest.«

Hat er den Verstand verloren? Der Teufel ist in mein Haus gekommen und ich soll allen Ernstes eine Unterhaltung mit ihm führen?

Um Himmels willen!

Ich schlucke laut und schüttle den Kopf. Mein Herz pocht wie verrückt und versetzt meinen Körper dadurch in ein Beben, das ich kaum noch kontrollieren kann. Da spüre ich Michaels Hand unter meinem Kinn, die sachte meinen Kopf nach oben neigt.

Natürlich ist es keine menschliche Berührung, sondern eher so, als würde ein warmer Sonnenstrahl auf meine Haut treffen. Doch ich habe in all den Jahren gelernt, durch diese Empfindung die Absichten und Handlungen der Engel zu erkennen und ihnen zu vertrauen. Man könnte sagen, wir haben unsere eigene Lichtsprache entwickelt.

So blicke ich einer Dimension, die außer mir niemand wahrnimmt, zuerst in sein liebevolles Gesicht, das von wilden, blonden Haaren umrahmt ist. Wie immer trägt er den dünnen Brustpanzer aus Silber und dazu den langen königsblauen Umhang, der nach hinten wegfällt. In dieser Erscheinung war er schon in meinen Kindertagen das Sinnbild für Schutz und Geborgenheit für mich, und nicht nur wegen des mächtigen Schwertes, das er zusätzlich an der linken Hüfte trägt.

Doch hinter seiner Schulter entdecke ich den Engel der Finsternis auf den unteren Stufen der Treppe sitzen, und es entsteht ein Kontrast von Licht und Dunkel, der mir die Kehle zuschnürt. Die Ellbogen hat Luzifer lässig auf seine angewinkelten Knie gestützt, die Finger verschränkt, und seine weiten, weißen Flügel hängen kraftlos wie der Umhang eines gelangweilten Königs auf die Stufen. Dass die Federn nicht so schwarz wie sein fingerlanges Haar sind, nehme ich nur am Rande meines akuten Nervenzusammenbruchs wahr, und doch überrascht es mich. Ebenso, dass sein Oberkörper frei ist, aber das hat vermutlich mit den Flügeln zu tun.

Zur offensichtlichen Begrüßung presst er die Lippen in einem schwachen Lächeln aufeinander und zieht einmal die rabenschwarzen Augenbrauen hoch.

Mir gefriert das Blut in den Adern.

Mehrere Sekunden lang ist mein Blick von seinen abgrunddunklen Augen gefesselt. Obwohl sich die Angst vor ihm immer noch in Wellen durch meinen ganzen Körper schiebt, steigt dabei plötzlich ein merkwürdiges Gefühl in mir auf, das meinen Herzschlag verlangsamt und auch meinen Atem allmählich in einen unnatürlich ruhigen Rhythmus zurückholt.

Die Aura, die ihn umgibt, ist pure Eleganz und Erhabenheit, selbst in einer Haltung, die ausdrückt, dass ihn das Schicksal der Menschheit nur ein müdes Lächeln kostet. Eine leidenschaftliche Anziehungskraft kreist um ihn wie die Ringe des Saturn und entfacht in mir den Wunsch, mich für alle Ewigkeit in diese Ringe einzureihen.

Was genau war es noch mal, wovor ich vorhin so große Angst hatte …?

»Genug jetzt, Luzifer!«, schallt Michaels scharfe Stimme in diesem Augenblick durch den Flur und gefühlt auch durch die gesamte Nachbarschaft. Aus meiner Faszination herausgerissen, zucke ich selbst unter den strengen Worten zusammen und sehe dann, wie sein autoritärer Blick über seine Schulter zu dem Engel auf der Treppe zielt.

Luzifer schenkt mir noch ein verschmitztes Grinsen und lässt die dunklen Augen dann in einem gemächlichen Blinzeln zu Michael gleiten. »Was denn? Ich mache doch gar nichts.«

Als Michael sich zu ihm dreht, schwingt sein blauer Umhang über meinen Arm. Die Wärme, die von ihm ausgeht, gibt mir das Gefühl von ‚sicherem Erdboden unter den Füßen‘ zurück, obwohl ich gerade stark befürchten muss, dass ich dabei bin, den Verstand zu verlieren. Denn in so intensiver Deutlichkeit konnte ich die Engel bis jetzt nicht einmal in meinen kühnsten Träumen wahrnehmen. »Wir sind nicht hier, um Spielchen zu spielen«, gibt er knapp von sich.

»Ach?«, erwidert der Engel mit den weißen Flügeln und lässt sein Grinsen für einen Augenblick Schlagseite bekommen. Es ist seltsam, wie wenig Gefühl darin liegt, weder ein freundliches, noch ein bösartiges. Es ist so emotionslos wie das Strahlen der Sonne zu Mittag. Ebenso wie sein Lächeln kippt auch Luzifers Kopf leicht zur Seite. »Ist dir nach so vielen Jahrmillionen nun doch der Spaß daran verloren gegangen, mein Freund?«

Michael entweicht ein schweres Seufzen und er schließt die Augen, während er sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel massiert. Anders als vom Teufel geht von diesem Engel, der sich bei keiner unserer bisherigen Begegnungen mit Flügeln auf dem Rücken gezeigt hat und dies auch heute nicht tut, eine sehr intensive Emotion aus. Die ganze Umgebung füllt sich mit einer Schwere von Bedauern. Nur worüber, das lässt Michael mich nicht erkennen.

Die wunderbare Gabe, zwei Welten miteinander vereinen und Lichtwesen wahrnehmen zu können, hat sich zwar schon vor meinem vierten Lebensjahr entfaltet, und Michael hat mich seither viele Dinge gelehrt, doch er hatte in all der Zeit auch immer wieder seine Geheimnisse vor mir und diese stets unter Verschluss gehalten. Was genau aus den vergangenen Jahrmillionen ihn heute also traurig macht, geht mich offenbar nichts an.

»Und du?«

Mein Kopf zuckt bei Luzifers kühlen Worten herum, die nun zweifellos wieder an mich gerichtet sind.

»Willst du etwa die ganze Nacht dort drüben knien und mich anschweigen?«

Ich öffne seltsam betroffen den Mund, aber mein Hals ist zu trocken, um auch nur ein Wort herauszubekommen. Mir ist klar, dass ich vor wenigen Minuten noch eintausend Fragen an ihn richten wollte, doch keine davon schwebt jetzt noch irgendwo in greifbarer Nähe. Da reicht Michael mir die Hand und hilft mir, aufzustehen. Körperlich wäre das kein Problem. Was mir Schwierigkeiten macht, ist das Gefühl der mentalen Schwere, die mich auf den Boden drückt. Ich bin dankbar für seine erhebende Unterstützung.

Fragen will ich allerdings immer noch nichts.

Stattdessen rattert es wie verrückt in meinem Kopf. Was zur Hölle ist in so einem Moment der angemessene Weg, um das Böse aus meinem Haus zu vertreiben? Oder zumindest mich und meine Familie vor ihm zu schützen?

Ich lasse Michaels Hand los und laufe auf wackeligen Beinen durch den Flur, obwohl laufen in diesem Zusammenhang wohl eine maßlose Übertreibung ist. Es kommt mir vor, als würde ich mich unter Wasser fortbewegen und müsste gegen meine Furcht, die nun wieder in dicken Wogen über mich hereinstürzt, ankämpfen.

Gerade mal so schaffe ich es in die Küche und krame mit zitternden Händen in einer Schublade nach einer Packung Streichhölzer. Michael kann ich permanent um mich herum spüren, doch Luzifer sehe ich nur im Augenwinkel durch die Tür hereinkommen. Ich fühle nichts, als er an mir vorbeigeht und sich dann entspannt aber sichtlich neugierig an den Kühlschrank lehnt und mir zusieht. »Was machst du da?«, will er wissen.

Beinahe schon hyperventilierend schustere ich um die Kücheninsel herum und hole eine dicke Kerze aus dem Regal. Ich muss das Streichholz dreimal über die Seite der Schachtel ziehen, bis der kleine, runde Kopf endlich zischend in einer gelben Flamme aufgeht. Während ich das Feuer an den bereits mehrmals benutzten Docht der regengrauen Kerze halte, krächze ich, ohne dabei zu Luzifer aufzusehen: »Ich zünde eine Kerze an.« Um eine friedliche Energie herbeizuholen und Licht in die Dunkelheit zu bringen. So hat es Michael mir vor vielen Jahren beigebracht. Die Kerze flackert unnatürlich wild im stillen Raum, aber sie brennt. Gott sei Dank! Meine Brust entspannt sich minimal und ich kann wieder atmen. »Für dich.«

In diesem Moment erfüllt Luzifers Lachen die Atmosphäre, und wüsste ich nicht, dass seine Stimme nur in meinem Kopf so laut klingt, hätte ich Angst, er würde auch meine Eltern im Wohnzimmer damit wecken. »Die ist nicht für mich«, sagt er und klingt dabei fast schon herablassend. Aber eben nur fast.

»Wie willst du das wissen?«, frage ich leise und wage es, dabei nun doch vorsichtig den Blick zu heben.

Luzifer mustert mich eine Sekunde schweigend aber eindringlich, dann drückt er sich vom Kühlschrank weg und kommt langsam näher. Seine Flügelspitzen wischen dabei achtlos über den Boden. »Wenn sie wirklich für mich ist, dann puste sie aus!«, fordert er mich in ernstem Tonfall auf.

Was? »Wieso?« Hilfesuchend möchte ich mich lieber zu Michael umdrehen, der sich gefühlt direkt hinter mir befindet, doch ich entkomme dem fesselnden Blick des Teufels nicht, der mir gegenüber auf der anderen Seite der Kücheninsel stehenbleibt.

»Weil ich es dir sage.«

Die Strenge in seiner Stimme macht eigenartige Dinge mit mir. Ich möchte gehorchen. Und gleichzeitig möchte ich schreiend aus dem Haus laufen.

Erst als ich Michaels lichtvolle Hand auf meiner Schulter spüre, bin ich mutig genug, dem Wunsch nachzukommen. Ich lehne mich leicht nach vorn und bete zum Himmel, dass noch genug Luft in meinen Lungen ist, um diese kleine, zappelige Flamme zu löschen. Ich spitze die Lippen, schließe die Augen und puste einmal. Als ich die Lider wieder aufschlage, ist die Kerze aus und Luzifers Augen befinden sich direkt vor meinen. Das dauernde Herzrasen und abrupte Absterben jeglichen Pulses kann nicht gut für meine Gesundheit sein.

»Und jetzt …«, flüstert er, »zünde sie wieder an.«

Ich greife erneut nach der Streichholzschachtel und fische ein Zündholz mit mehr Glück als Geschick heraus. Meine Finger sind in diesem bibbernden Zustand kaum noch zu gebrauchen. Dennoch schaffe ich es, nachdem mir das Streichholz beim ersten Versuch abgebrochen ist, ein weiteres anzuzünden. Als ich es langsam zum Docht führe, legt Luzifer seine Hand um die regengraue Kerze und die Flamme springt über. Das Feuer streckt sich unerwartet hoch, jedoch fast völlig regungslos. Kein Tanzen, kein Zittern mehr. Es ist die entflammte Ruhe des Universums und darin sind tausend Sterne zu sehen.

»Siehst du?«, fragt Luzifer ruhig und nimmt nur langsam seine Hand wieder zurück. Seine Miene bleibt unverändert, und doch hat es den Anschein, als würde ein Lächeln seine dunklen Augen etwas erwärmen. »Jetzt ist es meine.«

Wieder überkommt mich dieses merkwürdig ruhige Gefühl, das ich vorhin schon im Flur hatte, als ich zum ersten Mal in sein Gesicht blickte. Wieder kann ich spüren, wie mich die Saturnringe um ihn herum rufen und mich auffordern, mein Licht für alle Zeit in diese Kreise einzubetten. Was ist das nur?

Michael tritt in diesem Moment an die rechte Seite der Kücheninsel und sofort entsteht ein unsichtbarer Schutzwall zwischen Luzifer und mir, der mir dieses Gefühl der unüberwindbaren Anziehung nimmt. Ein Teil von mir ist dankbar dafür. Ein anderer Teil ist es nicht.

Obwohl Michael kein Wort spricht, scheint aber auch Luzifer zu spüren, dass er soeben in seine Schranken gewiesen wurde, und er lehnt sich süffisant lächelnd zurück. »Na schön«, meint er gelassen und ich weiß nicht, ob er mit mir oder mit Michael spricht. Als er sich jedoch mit einer Schulter wieder an den Kühlschrank lehnt, die Arme verschränkt und die Augen weiterhin auf mich gerichtet hält, ist mir klar, dass ich das Zentrum seiner Aufmerksamkeit bin. So wie er meines ist. »Du wolltest doch etwas fragen. Jetzt hast du die Gelegenheit und Michael verspricht dir, dass dir nichts dabei passiert.«

Mein fragender Blick gleitet zur Seite und findet Michaels ernste, jedoch warme Miene. Er nickt und ich weiß, dass der Engel der Finsternis nicht gelogen hat.

Ist das eine Ausnahme? Ich hatte mir den Teufel immer als verlogene, abscheuliche Kreatur vorgestellt. Aber gerade merke ich, dass auch die Wahrheit eine äußerst verführerische Gefahr darstellen kann.

Ich räuspere mich einmal, um meine Stimmbänder wieder in Gang zu setzen, obwohl das gar nicht nötig ist. Michael hat mir vor langer Zeit erklärt, dass ich niemals laut mit ihm oder irgendeinem anderen Engel reden muss. Eine Seele sendet mit jedem Gedanken eine bestimmte Schwingung aus, die von einem anderen Wesen aufgefangen werden kann und verstanden wird. Anders herum läuft es genauso. Michaels Gedanken an mich sind ebenfalls nur eine besondere Art von Schwingung, die mein menschlicher Verstand für mich in Worte, oder oft auch in Bilder übersetzt.

Luzifers Schwingung ist sehr interessant. Und in ihr steckt eine intensive Aufforderung, der ich sehr vorsichtig nachkomme.

»Warum bist du so böse?«, ist meine erste zaghafte Frage, die ihn erneut zum Lachen bringt. Laut und aus tiefster Seele — falls er denn eine hat.

Er dreht den Kopf zu Michael und übergeht mich für den Augenblick komplett. »Das ist es, was du ihr beigebracht hast?«

Keine Ahnung, was er damit meint. Um ehrlich zu sein hat Michael bisher noch nie über Luzifer mit mir gesprochen. Normalerweise beantwortet er mir immer nur Fragen, die ich selbst aus Neugier stelle. Und Luzifer war für mich noch nie ein Thema, dem ich Raum in unseren Unterhaltungen gegeben hätte.

War das ein Fehler?

»Es gibt keine Fehler«, antwortet Michael nun sanft auf meine stumme Befürchtung und legt seine Hand dabei auf meine. »Es gibt nur Erfahrungen, Bestimmungen und Wege. Du gehst deinen Weg in einem Tempo, das gut für dich ist.«

Ja, solche verwirrenden Dinge kommen öfter von ihm. Meist dauert es ein paar Tage, bis der Sinn seiner Worte auch wirklich in mir angekommen ist.

Luzifer geht durch die Küche hinüber zum Fenster über der Spüle. Er stützt sich mit den Händen auf den Beckenrand, während er den Blick hinauf zum dunklen Sternenhimmel gleiten lässt. Seine majestätischen Flügel hängen schwer über seinen Rücken herab und wirken dabei fast selbst wie eine erloschene Quelle des Lichts.

Erst nach einer Weile sieht er über seine Schulter zu mir. Sein Blick ist dabei nachdenklich und sehnsüchtig in eine weite Ferne gerichtet, die sich allem Anschein nach direkt hinter mir befindet. Eine Sekunde später fokussiert er sich aber doch auf mein Gesicht und meint: »Definiere böse

Hm, das ist gar nicht so einfach, wie ich dachte. »Du verführst Menschen dazu, schreckliche Dinge zu tun«, ist mein erster Ansatz.

Lange Zeit funkeln seine Augen im Schein der Kerzenflamme. Dann neigt er den Kopf. »Ist das so?«

Es kommt mir vor, als würde die Zeit in diesem Augenblick unendlich langsam vergehen und als würden Minuten zwischen jeder Antwort verstreichen, obwohl die Unterhaltung gerade einen angenehmen Fluss entwickelt.

»Wie wäre es denn sonst?«, kontere ich.

Wieder blickt er lange zum Fenster hinaus. »Wenn eine Eule nachts auf die Jagd geht, weil ihr die Dunkelheit den geeigneten Raum dazu bietet, und sie nach einem beharrlichen Flug durch den Wald eine Maus erwischt … wer hat die Maus dann gefressen?« Er dreht den Kopf zu mir und zieht nur leicht aber herausfordernd die schwarzen Augenbrauen höher. »Die Nacht? Oder die Eule?«

Ich lasse dieses Bild einige Minuten wirken. Meine nackten Beine werden dabei kalt und ich kralle in den Socken die Zehen gegen den Boden. Michael kommt einen Schritt näher und sofort wird es um mich herum einige Grade wärmer. Ich mag es, wenn er diese Dinge tut, und ich weiß, er kann meine Dankbarkeit auch spüren. Hier brauche ich nichts zu sagen, darum richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Luzifer, der immer noch mit dem Rücken zu mir steht.

»Also bist du die Nacht?«, frage ich, um sicher zu gehen, dass ich seine Metapher vorhin auch richtig verstanden habe.

»Ich bin der alternative Raum zum Licht, der alles möglich macht«, kommt seine zarte Antwort. »Was der Mensch daraus macht, liegt nicht in meinen Händen. Ihr habt alle euren freien Willen.«

Mir scheint, er verwendet absichtlich diese großzügigen Worte, um das, was er eigentlich ist und tut, schön zu reden. Oder? Herrgott, ich weiß es nicht! Je weiter die Nacht voranschreitet, umso stärker verwirrt mich diese Begegnung. Er kann doch nicht mit ein paar wenigen Sätzen all meine bisherigen Vorstellungen von Gut und Böse über den Haufen werfen. Das ist bestimmt nur eine Illusion und ich bin ein Narr, wenn ich darauf hereinfalle.

Ich verschränke die Arme vor der Brust, fest entschlossen, mich nicht weiter von ihm in die Irre führen zu lassen. Wozu bin ich Mensch, wenn ich meinen klaren Verstand nicht einsetze? »Wenn du ein Herz hättest, würdest du den Raum nicht mehr zur Verfügung stellen!«, gebe ich entschlossen von mir. Ob es so eine gute Idee ist, dem Teufel Vorwürfe zu machen, solange er nur drei Schritte von mir entfernt steht, weiß der Himmel. Aber Luzifer und Michael haben mir beide versichert, mir wird heute nichts passieren, also sage ich, was ich denke. »Dann würdest du nicht mehr zulassen, dass die Menschen sich von der Dunkelheit zu schlimmen Dingen hinreißen lassen.«

Mit einem Lächeln dreht er sich nun zu mir um und lehnt sich an die Kante der Spüle hinter ihm. Die Hände schiebt er dabei in die Taschen seiner schwarzen Lederhose. »Du glaubst, ich habe kein Herz?«

»Ich weiß nicht. Hast du?«

Seine weiche Miene verwirrt mich. Wo vorhin überhaupt kein Gefühl wahrzunehmen war, hängt nun das Knistern von Überraschung und Neugier in der Luft. Doch Antwort gibt er mir keine. Auch Michael schweigt, als mein fragender Blick kurz zu ihm schwenkt. »Warum sagst du nichts mehr?«, richte ich das Wort wieder an den Teufel vor dem Fenster. »Weißt du es selbst nicht?«

Er blinzelt ein paarmal und ich frage mich, welcher Gedanke gerade diese faszinierte Schwingung in den Raum hinauslässt. »Eines Tages wirst du es herausfinden«, verspricht er mir schließlich und beschert mir damit eine kribbelige Gänsehaut im Nacken.

»Wann?«

»Wenn du dazu bereit bist.«

Ich gebe ein trauriges Lachen von mir. »Für die Enttäuschung?«

Da kommt Luzifer um die Kücheninsel herum und meine Arme sacken von der entschlossenen Haltung unsicher nach unten. Auch meine Knie beginnen wieder leicht zu zittern. Nur wenige Zentimeter vor mir bleibt er stehen und sieht mir tief in die Augen, während wir dieselbe Luft einatmen. »Für die Wahrheit«, flüstert er.

Ich höre meinen eigenen Herzschlag zwischen meinen Ohren und schlucke schwer. Bin ich das jetzt noch nicht? Meine Lippen bewegen sich nicht, doch ich weiß, dass alles in mir diese Frage gerade nach außen drückt.

Und Luzifer schüttelt den Kopf.

Dann schließt er für einen Moment die Augen. »Nein …« Als er sie wieder öffnet, sind sie auf Michael gerichtet, der inzwischen direkt an meiner Seite eine beschützende Stellung bezogen hat. Alle Sanftheit ist aus Luzifers Blick gewichen und da ist nur noch Kälte und trauriger Ernst. »Noch lange nicht.«

Mit diesen Worten dreht er sich um und schreitet in geisterhafter Auflösung direkt durch die Spüle und das geschlossene Fenster hinaus in die Nacht. Seine weißen Flügel sind das Letzte, was in der Dunkelheit verschwindet.

»Schatz?«

Die Stimme hinter mir erschreckt mich dermaßen, dass ich gut einen halben Meter in die Luft springe und mit einem erstickten Schrei drei Schritte weiter hinten gegen die immer noch offene Schublade knalle. Heiliger Strohsack!

Nach Atem ringend blicke ich in das verschlafene Gesicht meiner Mutter, die die Decke von der Couch um ihre Schultern geschlungen hat und auf mich zukommt. »Was machst du denn so spät noch auf?«, fragt sie liebevoll und legt mir ihre warme Hand auf die Wange.

Ich suche die Uhr an der Wand über der Tür.

Schlag Mitternacht.

Dann zieht mein Blick durchs Zimmer. Es sind keine Engel mehr da. Nur die Kerze brennt noch still vor sich hin.

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