Bonus: Jona & Julian

Nur wir. Noch einmal.

Lachen liegt wie Musik über den Hügeln des Weinbergs, verwoben mit dem Duft von Lavendel, warmem Brot und der süßen Note zerdrückter Trauben. Die Sonne versinkt gerade hinter den Weinbergen—meine liebste Zeit des Tages. Das Licht fällt lang und honigweich über den Holztisch, an dem wir alle im Garten unter flackernden Lichterketten sitzen, wie in einem dieser Pinterest-Träume.

Nur dass dieser hier echt ist. Jeder einzelne, herrlich absurde Teil davon.

Marie wirft den Kopf zurück und lacht, während Albert sich zu ihr beugt, um ihr ein Blütenblatt aus dem Haar zu ziehen—vermutlich von dem wilden Blumenkranz, den sie heute Nachmittag gebastelt und dann fröhlich wie eine Fee aufgesetzt hat. Er küsst ihre Schläfe, als wäre es Instinkt, als würde er das seit Jahren ohne nachzudenken tun. Ich lächle in mein Glas mit Orangensaft—immer noch mein Lieblingsgetränk, auch wenn alle anderen am Tisch lieber den tiefroten Wein genießen.

Alle…bis auf einen.

Er sitzt direkt neben mir und seine Hand liegt seit über einer Stunde wie selbstverständlich auf meinem Oberschenkel unter dem Tisch. Und ganz ehrlich? Das ist alles, was ich brauche.

Julian war schon immer der Ruhigste in dieser Runde—sowohl damals als auch jetzt, nachdem er seine Flügel am Himmelsschalter abgegeben und die Ewigkeit gegen ein menschliches Leben im stinknormalen Frankreich eingetauscht hat. Mit mir.

Gerade lacht er mit Henry, und mein Gott, ich liebe dieses Geräusch. Manchmal glaube ich, es ist das letzte wahrlich Engelshafte, das ihm geblieben ist. Es ist so leicht, ihn zum Lachen zu bringen, und nicht nur, weil Henry gerade verzweifelt versucht, einen Löffel auf seiner Nase zu balancieren, während Valentine krampfhaft ihre Mordlust unterdrückt. Vor fünf Minuten hat sie ihn schon einmal so fest gegen die Schulter geboxt, dass der Löffel zu Boden gefallen ist. Aber mir entgeht nicht, wie ihre Finger immer wieder ganz zufällig—aber eben nicht wirklich zufällig—seinen Arm streifen. Ehrlich, ich weiß nicht, wie sie ihn aushält. Der Typ hat gerade ein Wortspiel über Wein und himmlisches Tröpfchen gemacht. Es tat fast körperlich weh.

Mir gegenüber lehnt sich Quinn zurück, die Arme verschränkt, sein Grinsen schief wie immer. Sein Blick wandert über den Tisch, als würde er immer noch nicht ganz begreifen, wie er ausgerechnet hier gelandet ist—bei einer französischen Weinberg-Dinnerparty mit vier urkomischen Erwachsenen und zwei schwer verliebten Teenagern—von denen einer mal der Grund für seine schlaflosen Nächte und spontanen Migräneanfälle als Cop in London war.

„Worüber grübelst du nach?“, fragt er und fängt meinen Blick über den Rand seines Glases ein.

„Ich? Über gar nichts.“ Ich blinzele unschuldig und nehme noch einen Schluck Saft. „Ich bin nur hier wegen der gegrillten Käse-Spieße.“

Herausfordernd hebt Quinn eine Braue. „Klar. Und ich bin nur hier, weil ich zufällig in der Gegend war.“

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass du wirklich gekommen bist.“ Ich stupse mit dem Fuß gegen sein Schienbein unter dem Tisch. „Ich dachte, du hättest dich offiziell davon verabschiedet, mich vor schlechten Entscheidungen zu retten.“

„Hatte ich auch. Aber dann dachte ich, ich schulde es dem Mädchen, das ein ganzes Jahr lang nichts geklaut hat. Das ist doch fast ein Rekord.“

„Also technisch gesehen“, murmele ich leise und beuge mich ein Stück zu ihm vor, „habe ich doch was geklaut.“

Quinn neigt überrascht den Kopf. „Und was.“

„Einen Jungen“, flüstere ich, und ein Grinsen krümmt meine Lippen, als sich seine Miene in köstliches Entsetzen verzieht. „Vielleicht hast du von ihm gehört. Blond. Mit regelrecht engelhafter Ausstrahlung.“

Neben mir ertönt das schönste Geräusch der Welt—Julians Lachen. Aber nicht der amüsierte, lockere Laut von vorhin. Dieses hier ist tiefer. Wärmer. Meins.

Der Junge hat dich gestohlen, Montiniere“, sagt Julian, seine Stimme weich wie Dämmerung und Mondlicht. „Verwechsle das mal nicht.“

Ich neige den Kopf zu ihm und mein Herz macht einen Satz. Ich hätte wissen müssen, dass er jedes Wort mitanhört.

Natürlich hat er das.

Jemand schlägt eine Gabel sanft gegen ein Glas, und Albert beginnt eine Geschichte über Marie zu erzählen, wie sie angeblich in ein Weinfass gefallen ist—was sie natürlich nicht ist—und der Tisch explodiert in Lachen und lautem Widerspruch. Ich kichere mit, weil ich sie alle liebe.

Weil ich das hier liebe.

Aber dann zieht sich etwas in meiner Brust zusammen.

Ein Jahr.

Genau ein Jahr ist es her, dass ich dieses Land zum ersten Mal betreten habe—wütend, verschlossen, innerlich schon halb wieder auf dem Rückweg. Ich hatte keine Ahnung, dass es ein Ort werden würde, den ich nie wieder verlassen will. Dass die Menschen an diesem Tisch zu meiner Familie werden würden.

Dass ein Junge, der eigentlich gar nicht bleiben sollte, am Ende nur für mich geblieben ist.

Ein vertrautes Ziehen breitet sich hinter meinen Rippen aus—halb Freude, halb Wehmut. Eine stille Sehnsucht, die ich lange nicht gespürt habe.

Ich stelle mein Glas ab und schleiche mich vom Tisch, bevor jemand fragen kann, wohin ich gehe. Ich brauche nur einen Atemzug. Einen Moment für mich.

Niemand ruft mir hinterher, aber ich weiß, dass sie es alle bemerken. Und genau das schätze ich so an ihnen. Sie geben mir Raum, ohne Fragen zu stellen. Einfach, weil sie wissen, dass ich immer zurückkomme.

Das Gras ist kühl unter meinen nackten Füßen, als ich an den Rebenzeilen vorbeistreife und die Finger über die Blätter gleiten lasse. Das Lachen verblasst hinter mir und wird ersetzt vom Zirpen der Zikaden und dem Flüstern der Dämmerung, die sich sanft über das Land legt. Der Himmel beginnt sich zu verwandeln—Violett schmilzt in Mitternachtsblau. Einer nach dem anderen blinzeln die Sterne hervor.

Ich lege den Kopf in den Nacken und atme tief ein.

Es ist friedlich. Diese Art von Stille, die gleichzeitig deine Lungen und dein Herz füllt.

Und dann—ganz leise, ohne jede Vorwarnung—lächle ich. Weil ich weiß, dass er kommt.

Tut er immer.

Die Sterne sind hier draußen heller. Als würden sie sich jetzt besonders Mühe geben, da die Sonne die Bühne verlassen hat. Eine sanfte Brise streift meine Schultern, kühl und süß wie ein Seufzen. Ich schließe die Augen und lasse sie über mich hinwegziehen.

Vor einem Jahr hätte ich mich hier draußen verloren gefühlt. Wahrscheinlich hätte ich mich irgendwo zwischen den Reben zusammengerollt, die Minuten bis zum Morgen gezählt und ein Dutzend Fluchtpläne geschmiedet.

Und jetzt? Jetzt legt sich die Stille um mich wie ein Zuhause.

Ich lächle in mich hinein und lasse meine Finger über ein weiches Weinblatt gleiten. Es kitzelt in meiner Handfläche, und für einen Moment werde ich zurückversetzt in meine erste Nacht hier. Verbittert. Zerstörerisch. Felsenfest davon überzeugt, dass ich alle hier hassen würde.

Vor allem den Jungen mit den viel zu blauen Augen und der Stimme, als wäre er direkt einem Märchenbuch entsprungen.

Ich atme langsam aus, die Brust eng von einem Gefühl, das keinen Namen braucht.

Damals war er nicht mal menschlich. Nur dieses seltsame, schöne…Wesen. Voller Geheimnisse, Wärme und einer unendlich nervtötenden Geduld.

Und jetzt ist er Fleisch und Blut und Herzschlag.

Und er gehört zu mir.

Hinter mir ertönt das Knirschen leiser Schritte, doch ich nehme es kaum wahr, bis ich spüre, wie sich die Luft verändert.

„Ah, da ist sie ja“, erklingt diese vertraute, samtige Stimme—tief und neckend. Schon allein der Klang entlockt mir ein Grinsen, noch bevor ich mich umdrehe. „Bewundert die Sterne … und überlegt offensichtlich, welchen sie am besten vom Himmel klauen und mitgehen lassen soll.“

Ich werfe einen Blick über die Schulter, und da ist er. Lässig an einen Pfosten gelehnt, die Arme verschränkt, das honigblonde Haar vom Wind zerzaust. Seine Augen funkeln heiter, aber es ist die Wärme darin, die mich wie eine weiche Welle trifft.

Julian stößt sich vom Pfosten ab und schlendert auf mich zu. Seine Stimme wird dabei noch ein wenig tiefer. „Ich wusste, ich hätte die Handschellen mitbringen sollen.“

Ich lache trocken und schaue wieder zum Himmel. „Willst du mich etwa fürs Sterneschauen verhaften?“

„Wegen versuchten himmlischen Diebstahls, ja.“

Direkt hinter mir bleibt er stehen und legt ohne Zögern die Arme um meine Taille. Damit zieht mich an seine Brust, als wäre es der einzige Ort, wo ich hingehöre.

Was er ohne Zweifel ist.

„Wiederholungstäterin. Hat mir den Atem geraubt, den Frieden, meinen Heiligenschein …“

„Du hattest nie einen Heiligenschein“, murmele ich, aber ich grinse dabei wie ein Vollidiot.

„Meinetwegen“, sagt er nachsichtig. „Aber wenn ich einen gehabt hätte, hättest du den auch noch geklaut.“

Ich lehne mich entspannt an ihn und sein Kinn senkt sich auf meinen Kopf, als wären wir zwei Puzzleteile, die mühelos in einander einrasten. So bleiben wir eine Weile stehen—still und warm, eingehüllt in die Ruhe der Nacht. Die Reben rascheln leise um uns, und ich zähle das Heben und Senken seiner Brust an meinem Rücken, genieße, wie sein Atem durch mein Haar streift.

Alles in mir ist immer noch ein bisschen überwältigt davon, dass ich das hier wirklich bekommen habe. Dass er echt ist. Hier. Bei mir.

Vier Monate sind nicht lang. Nicht wirklich. Und trotzdem haben wir in dieser Zeit etwas aufgebaut, das sich anfühlt, als wäre es schon immer da gewesen. Seite an Seite haben wir für die Aufnahmeprüfungen an der Uni gelernt. Wir haben um Mitternacht Pancakes gebacken—und dabei den Rauchmelder ausgelöst. Zweimal. Barfuß sind wir während eines Gewitters durchs Feld gerannt, nur um zu sehen, wer als Erster Unterschlupf findet.

Er hat übrigens gewonnen, aber nur, weil er geschummelt hat. Mit diesem Lächeln.

„Ich mag es, wenn du das machst“, murmelt Julian und reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich neige den Kopf, so gut es in dieser Position geht, und sehe zu ihm hoch. „Ich hab buchstäblich gar nichts gemacht.“

„Genau das ist ja das Gefährliche“, sagt er mit einem verspielt ernsten Nicken. „Zu hypnotisch. Selbst wenn du still bist, bist du eine Katastrophe auf zwei Beinen.“

Ich schnaube. „Große Worte vom abtrünnigen Engel, der wortwörtlich vom Himmel gefallen ist.“

Julian grinst. „Ich hab doch gesagt, du hast mir den Frieden gestohlen.“

„Du hast gesagt, ich hab dir deinen Heiligenschein gestohlen.“

„Ist dasselbe.“

Bevor ich wieder mit den Augen rollen kann, bewegt sich Julian hinter mir. Ein Arm zieht sich fester um meine Taille, der andere gleitet langsam nach vorn, bis sich seine Hand öffnet und etwas Kleines, Silbernes darin sichtbar wird.

Ein zarter Anhänger an einer feinen Kette. Ein Stern.

Er fängt das Mondlicht ein und schimmert in weichem Gold und Silber. Seine Spitzen sind sanft geschwungen, als wäre er einem Traum entsprungen.

„Was …?“ Ich blinzele, sprachlos.

„Für dich“, sagt er leise. „Als Ersatz für all die Sterne, die du nicht stehlen konntest.“

Ich ziehe den Atem ein—tief, scharf, zu viel auf einmal.

„Für das Mädchen“, flüstert er und drückt einen Kuss an meine Schläfe, „das mich an meine eigenen Wünsche glauben ließ.“

Meine Kehle schnürt sich zu. Mit zitternden Fingern greife ich nach der wunderschönen Kette. Einen Moment lang starre ich einfach nur auf den Stern in meiner Hand, und mein Herz hämmert dabei, als hätte es vergessen, wie man sich beruhigt.

Dann drehe ich mich in Julians Armen um und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.

Das entlockt ihm jedoch nur ein Lachen. Er wirft den Kopf leicht zurück, und dieses goldene Geräusch legt sich wie Sonnenlicht um mich.

„Das war alles? Echt jetzt? Nach diesem Geschenk? Etwas mehr hatte ich schon erwartet.“

Ich strecke ihm die Zunge raus. „Was denn, hast du auf ein dramatisches Ohnmachts-Manöver gehofft? Einen tosenden Applaus? Vielleicht einen tränenreichen Monolog?“

Seine Stimme wird tiefer und sein Blick bekommt diesen gefährlichen, aber trotzdem irgendwie noch engelsgleichen Ausdruck, den nur er hinkriegt. „Niiicht ganz …“ Dann schiebt er die Hände um meine Taille und zieht mich ganz an sich, so nah, dass sein Atem meine Lippen streift.

„Eher etwas in der Art“, murmelt er.

Und dann findet sein Mund meinen—mit einer Leidenschaft, die mir den Atem raubt und jeden Gedanken hinwegfegt.

Es ist kein sanfter Kuss.

Es ist die Sorte, die die Welt kippt und die Sterne vom Himmel pflückt. Die Sorte, die in deinem Herzen wohnt, in deinen Zehen kribbelt, und alles neu erfindet, was du bisher über Schwerkraft zu wissen glaubtest.

Julian summt gegen meine Lippen, zieht mich noch enger an sich, und seine Finger verfangen sich in meinem Haar—und plötzlich sind mir die Sterne und Reben völlig egal.

Alles, was zählt, ist das hier.

Ist er.

Irgendwann lösen wir uns voneinander—atemlos und leicht benommen.

„Alles Liebe zum Jahrestag, Jona“, murmelt er an meine Lippen.

Damit bringt er mich zum Schmunzeln. „Du bist so furchtbar.“

„Und du liebst es.“

„Leider ja.“

Er grinst und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Komm mit.“

Ich frage nicht einmal, wohin. Ich folge ihm einfach still, als er meine Hand nimmt und mich durch die Reihen der Reben führt, hinauf zu dem alten Baum auf dem Hügel. Dem Baum, unter dem wir vor einem Jahr gesessen haben, als ich die Wahrheit über ihn erfahren habe. Was er war. Was er aufgeben musste.

Und jetzt…

Jetzt ist er hier.

Immer noch bei mir.

Jeden Tag aufs Neue.

Der Baum wartet schon auf uns, getaucht in silbernes Licht. Und an seinem Stamm, kaum sichtbar im Gras, lehnt etwas Kleines, Rechteckiges, eingewickelt in weichen Stoff und mit einer Schleife verschnürt.

Mein Herz schlägt etwas schneller in meiner Brust, als wir darauf zugehen, und Julian drückt meine Hand. „Na los. Mach’s auf“, flüstert er.

Ich setze mich unter den Baum, das Gras kühl unter mir, die raue, vertraute Rinde in meinem Rücken. Julian lässt sich neben mir nieder und streckt die Beine lang vor sich aus, die Hände hinter sich abgestützt. Seine Augen ruhen auf mir, aber er sagt kein Wort.

Er muss auch nichts sagen.

Ich löse das Band und schlage den Stoff zurück.

Es ist ein Notizbuch, der Einband aus weichem, braunem Leder, an den Kanten abgenutzt, als wäre es schon unzählige Male mitgetragen worden. Langsam lasse ich meine Finger darüber gleiten, unsicher, was mich erwartet.

„Mach es auf“, wiederholt Julian, jetzt mit einem Hauch Ungeduld in der Stimme, als müsste er sich zusammenreißen, es nicht selbst zu tun.

Also gehorche ich.

Die erste Seite ist leer, aber auf der zweiten steht etwas in dunkler Tinte und ausdrucksstarker Handschrift geschrieben: Lies das nicht, wenn ich nicht dabei bin! Ich will dein Gesicht sehen, wenn du es tust! –J.

Ungläubig starre ich ihn an und unterdrücke ein Grinsen. „Du hast mir einen Warnhinweis geschrieben?“

„Eher eine Herausforderung“, sagt er warm und mit diesem typischen Funkeln in den Augen. „Du liebst Herausforderungen.“

„Ich liebe es, sie zu gewinnen.“

Er summt zustimmend. „Ist dasselbe.

Neugierig blättere ich nun weiter.

Und mein Herz stolpert.

Es sind unzählige Seiten voller Einträge. Manche kurz, manche lang. Eine Zeile hier, ein Absatz dort. Kritzeleien in den Rändern. Listen. Daten. Erinnerungsfetzen. Das eine Mal, als ich mit einem Buch auf dem Gesicht auf der Veranda eingeschlafen bin und auf Kapitel sieben gesabbert habe. Eine Skizze meiner Doc Martens neben seiner alten Engelsfeder, die er wie ein Geheimnis mit sich herumtrug. Ein Gedicht mit dem Titel: Katastrophe zum Verlieben, so unbeholfen süß, dass ich fast gleichzeitig lachen und weinen möchte.

Ich schlage die nächste Seite auf.

12. Juni Sie hat dem Bäckerburschen eine verpasst, weil er mit mir geflirtet hat. Nicht hart. Nur ein Warnschlag. Ich war noch nie so geschmeichelt—oder so scharf—wie in diesem Moment.

„Oh mein Gott!“, flüstere ich und halte mir die Hände vors Gesicht.

Julians ruhiges Lachen dringt durch die Nacht. „Er hat’s verdient.“

„Ich hab ihn kaum berührt!“

„Du hast sein Baguette kaputtgemacht.“

Ich brumme leise und blättere weiter, weil ich das Buch unmöglich noch aus den Händen legen kann. Jede Zeile ist eine weitere Erinnerung, ein weiteres Lächeln, ein stiller Beweis dafür, dass er mich beobachtet hat. Mich wirklich gesehen hat. Die ganze Zeit über.

Schon bevor er ganz Mensch war, hat er angefangen, mich Stück für Stück ‚zu sammeln.‘

Und er tut es immer noch.

Schließlich stoße ich nahe dem Ende des Notizbuchs auf eine Seite, die völlig leer ist … bis auf die Überschrift in derselben geschwungenen Handschrift:

Dinge, die ich an Julian liebe
(von Jona Montiniere — wahrscheinlich unter Protest)

Ich blinzele ungläubig. Und Julian hält mir einen Stift hin.

Er fängt mich mit diesem Blick ein—halb Grinsen, halb etwas Zarteres. Frech und ehrlich zugleich. Dann neigt er herausfordernd den Kopf. „Na los. So schwer ist das nicht. Schreib einfach irgendwas. Eine Sache.“

Ich ziehe beide Augenbrauen hoch. „Du willst, dass ich Dinge aufliste, die ich an dir liebe?“

„So steht es da.“

„Wow. Bescheiden.“

Zuversichtlich“, korrigiert er und seine Augen glitzern liebevoll. „Außerdem dachte ich, ich gebe dir einen kleinen Vorgeschmack auf die Uni. Stell es dir einfach als spontanes, kreatives Schreiben vor.“

Ein Schnauben entweicht mir durch die Nase. „Du bist unfassbar.“

„Und du schindest Zeit.“

Mit einem genervten Grunzen und schmalen Augen murmele ich: „Na schön.“ Dann schnappe ich mir den Stift und beuge mich vor.

Julian grinst bereits siegessicher.

Die erste Zeile, die ich schreibe, lautet: Er ist unerträglich selbstgefällig.

Über meine Schulter liest er mit, lacht und sagt dann: „Wow. So viel Tiefe. Ich bin gerührt.“

Also ergänze ich:

– Er macht furchtbare Witze. Wirklich katastrophal.

– Er kennt keine persönlichen Grenzen.

– Er tut so, als wäre er ein Engel, aber nachts klaut er die Decke wie ein Gremlin.

Nun Julian schnappt verspielt nach Luft. „Das Letzte stimmt so überhaupt nicht!“

„Jeden Morgen wache ich auf und klammere mich wie ein Flüchtling an einen Zipfel.“

Er tut so, als wäre er empört—aber es gelingt ihm kein bisschen. „Ich sollte dich so lange kitzeln, bis du endlich zugibst, dass du mich liebst.“

Ich halte ihm die Stiftspitze direkt und ernst vor die Nase. „Wenn du das auch nur versuchst, wachst du morgen ohne Haare auf.“

Sein Blick huscht zu meinem Mund. „Das wäre es wert.“

Die Luft zwischen uns verändert sich. Nur ein wenig. Aber ich kenne diesen Blick. Dieses Brennen in seinen Augen, das zu gleichen Teilen Spiel und Versprechen ist. Ich spüre es in meiner Brust. In meinen Fingerspitzen. Im Nacken.

Dann lehnt er sich ganz langsam vor, streicht mit der Nase über meine und flüstert: „Im Ernst … Du musst nichts schreiben. Ich wollte nur, dass du weißt … dass ich dich sehe. Schon immer. Selbst, als ich es noch nicht durfte.“

Meine Kehle schnürt sich zu, und ich kann nichts dagegen tun. Er erwischt mich immer—immer—und nie mit großen Gesten. Nur mit … den kleinen Dingen.

Dingen, die mir unter die Haut gehen und für immer dortbleiben.

Ich blicke wieder auf die Seite hinunter und ein leiser Seufzer entweicht mir. Mit etwas Abstand nach oben male ich unter die letzte Zeile ein kleines Herz. Nur eins.

Und daneben schreibe ich:

Ich liebe, dass er mich sieht. Selbst dann, wenn ich gar nicht gesehen werden will.

Weil es stimmt.

Und die tiefere Wahrheit ist —

Ich liebe ihn.

Mit allem, was ich bin. Für alles, was er ist.

Letztendlich lege ich den Stift weg und schlage das Notizbuch vorsichtig zu.

Julian legt es beiseite, dann zieht er mich auf seinen Schoß, als wäre es das Natürlichste der Welt. Ich sinke gegen hin, lege die Arme um seinen Nacken und drücke meine Wange an seine Schulter. In liebevollen Kreisen gleiten meine Finger über die Stelle zwischen seinen Schulterblättern und irgendwann flüstere ich: „Vermisst du sie manchmal?“

„Meine Flügel?“, fragt er.

Ich nicke, und es folgt eine Pause.

Dann haucht er mir ins Ohr: „Nein.“

Ich neige den Kopf zurück, um in seinen Augen nach der Wahrheit zu suchen.

„Nicht, solange ich immer wieder mit dir fallen darf“, fügt er leise hinzu.

Gott. Er spielt so unfair.

„Du bist unmöglich, das weißt du, oder?“, murmele ich mit einem süßen, genervten Lächeln.

„Und trotzdem würdest du es nicht anders wollen.“

Damit hat er recht. Unwiderruflich.

Julian lehnt sich zu mir und küsst mich noch einmal—langsam, tief, und mit einer Ruhe, als hätte er für den Rest seines Lebens nichts anderes mehr im Sinn.

Was perfekt ist. Denn ich auch nicht.

*

Ihre ganze Geschichte findest du hier!