Bonus: Chris & Sue

BookTok hätte applaudiert

Ich sitze schon seit Stunden bei Charlie’s am Fenster. Draußen nieselt es leicht, drinnen riecht es nach Zimt und frisch gebackenen Muffins, und meine Finger klammern sich um die Tasse heiße Schokolade, als könnte sie mein Herz aufwärmen. Tja, klappt nur leider so gar nicht.

Vor mir liegt ein aufgeschlagenes Buch – Stolz und Vorurteil – aber ich habe in den letzten zehn Minuten dreimal denselben Absatz gelesen. Vielleicht, weil ich gerade versuche, nicht daran zu denken, dass Chris morgen nach Hause kommen sollte. Vielleicht auch, weil ich doch daran denke. An seine Stimme. An seine Nachrichten. An das „Ich vermisse dich“, das sich heute früh auf meinem Handy viel zu ruhig angefühlt hat.

Ich blättere eine Seite um, obwohl ich keinen Schimmer habe, was auf der letzten stand, und seufze leise.

„Entschuldigung, ist dieser Platz hier noch frei? Oder ist der Stuhl schon an irgendeinen Kerl vergeben, der deinen Lieblingssong auf seiner Playlist hat?“

Was zum –? Ich hebe den Blick.

Ein Typ steht vor meinem Tisch – schiefes Grinsen, dunkle Jeans und ein Hoodie mit dem Logo seines Colleges auf der Brust. Die Kapuze sitzt tief, aber nicht tief genug.

Und genau in dieser Sekunde bleibt meine Welt stehen, als wäre das größte Karussell auf dem Rummelplatz plötzlich kaputtgegangen und hätte mich in der Kurve gnadenlos vom Holzpferd geworfen!

Ich sage kein Wort, starre ihn einfach nur an. Meine Augen sind weit offen, Mund noch ein Stück weiter!

Er blinzelt, als würde er gleich lachen. Und dann zieht er ganz frech den Stuhl zurück und setzt sich mir gegenüber hin, als sei das hier sein Lieblingsplatz. „Was liest du da? Lass mich raten … was Düsteres mit Vampiren? Oder bist du eher Team magisches Internat mit dramatischer Romanze?“ Seine Stimme ist neckisch und trotzdem viel zu entspannt.

Endlich kriege ich den Mund zu. Aber mein Herz ist vom Karussell direkt in die nächste Achterbahn gesprungen. Wilder Ritt, mit mindestens fünfzehn Loopings und hundert Metern freiem Fall.

Das kann unmöglich sein! Thanksgiving ist doch erst morgen!

Und doch sitzt er da. Vor mir. Mitten ich Charlie’s Café, als wäre er nie weggewesen.

„Und falls du mich jetzt gleich mit deinem Buch verprügeln willst, weil ich mich einfach zu dir setze – vergiss es. Meine Freundin ist ein Bücherwurm. Ich bin harte Schnulzen gewöhnt.“ Er zwinkert mir zu.

Gott, dieser Blick!

Ich lehne mich langsam zurück und schlage mein Buch zu. Dann beiße ich mir auf die Zunge und spiele mit dem Teelöffel in meinem Becher. Drei Sekunden lang, bis er die Augenbrauen herausfordernd anhebt, weil ich ihm bis jetzt noch keine wirkliche Reaktion geschenkt habe. Und verflucht, mein Herz zerschmilzt wie ein Marshmallow im Kakao zu dieser Jahreszeit.

Dann räuspere ich mich leise und schaffe es echt, eine erstaunlich ruhige Stimme zu meistern, obwohl in meinem Inneren sämtliche Schießbuden-Jahrmarktsklingeln simultanläuten.

„Und du glaubst echt, dieser Spruch zieht?“ Langsam beginne auch ich zu grinsen und drücke meine Zähne in die Unterlippe.

Chris zuckt mit den Schultern. „Kommt drauf an. Ich hab gehört, die süßen Strebermädchen auf dieser Seite des Cafés stehen auf Typen mit College-Hoodies.“

Mit leicht geneigtem Kopf setze ich ein künstliches Lächeln mit Wimpernflattern auf. „Und woher willst du wissen, dass ich ein süßes Strebermädchen bin?“ Ich ziehe den Löffel aus meiner heißen Schokolade und stecke ihn in meinen Mund, nur um ihn langsam und frech wieder hervorzuziehen. So frech, wie er grinst. Mein Blick gleitet dabei zu seinem Hoodie. „Vielleicht stehe ich ja eher auf rebellische Uni-Aussteiger mit fragwürdigen Flirttechniken.“

Ich kann sehen, worauf sein Blick gerade fixiert ist. Und ich grinse um den Löffel, der meine Lippen soeben verlässt, aber nichts bringt diesen Burschen jemals aus der Ruhe. Er lehnt sich vor und stützt seine Ellbogen auf die Tischkante. „Rebellisch, hm? Dann warte, bis du siehst, was ich aus der Bibliothek geschmuggelt hab.“ Er beugt sich ein Stück näher und seine Stimme wird tiefer. „Spoiler: Es hat was mit Hogwarts zu tun. Und was mit Küssen in der Verbotenen Abteilung.“

Ich lache leise. Der Kerl ist echt unmöglich. Ohne den Blick von ihm zu lösen, schiebe ich meine Tasse ein Stück zur Seite, um mich ebenso wie er auf den Tisch zu stützen. „Wow. Der Typ von nebenan spielt den Bad Boy mit Bücherbonus. Bist du sicher, dass das hier kein Bewerbungsgespräch für BookTok ist?“

Seine Augen halten meine so fest wie ein Baseballspieler den Schläger umklammert, während das ganze Stadion den Atem anhält. Dann gleiten seine Finger zu meinem Buch, drehen es mit einer eleganten Bewegung seines Handgelenks zu sich, und er sagt mit etwas dunklerer Stimme als zuvor: „Na ja … wenn ich dir gleich ein Zitat aus Stolz und Vorurteil vorlese und dabei meine Lippen ganz zufällig deinen Namen formen … krieg ich dann ein Like?“

Ich ziehe einen Mundwinkel leicht nach oben und lasse meine Augen funkeln. „Kommt drauf an, ob du Darcy oder Wickham bist.“

Chris lächelt. Und ich sterbe innerlich tausend Märchentode.

Er beugt sich ein weiteres Stück näher, bis nur noch eine Handbreit zwischen uns liegt. Seine Stimme wird weicher, sanfter, aber kein bisschen weniger gefährlich. „Darcy. Ohne Zweifel. Nur dass ich nicht so lange warte, um dir zu sagen, dass ich mich in alles an dir verliebt habe, was ich am Anfang nicht verstanden hab.“

Mein Atem stockt, und ich muss mich anstrengen, mein Lächeln nicht zu verlieren. Es will sich nämlich gerade mit meinem Herz verflüssigen, um in einer charmant peinlichen Pfütze unter dem Tisch zu verschwinden.

Ich lehne mich noch ein bisschen vor. Zwei Zentimeter, mehr nicht. Wir sind uns so nahe, dass ich den Hauch seines Atems auf meiner Oberlippe spüren kann. So nah, dass meine Stimme kaum ein Flüstern ist. „Dann sag’s nochmal. Als wäre es das erste Mal.“

In einem verschmitzten Grinsen presst Chris kurz die Lippen aufeinander, als müsste er sich auf die folgenden Worte vorbereiten – aber in Wahrheit übernimmt er gerade das Kommando über mein gesamtes Nervensystem, und ich schlucke laut.

„Ich liebe alles an dir … du kleine Streberin…“, sagt er langsam, mit diesem herausfordernden Funkeln, während die Sonne in seinen tiefblauen Augen tanzt. „Alles, was ich am Anfang nicht verstanden habe.“ Unser Atem gehört längst demselben Takt. „Und ich schwöre, Sue – ich habe jeden einzelnen verdammten Tag der letzten Wochen auf genau diesen Moment gewartet.“

Meine Lippen öffnen sich ein Stück. Doch Worte? Nicht mehr möglich. Alles, was ich tun kann, ist ihn ansehen. Und hoffen, dass er erkennt, was er mir bedeutet.

Aber ich weiß, dass er es sieht. Weil sich seine Pupillen verengen, als hätte ich ihm gerade ins Innerste geblickt und etwas berührt, das sonst niemand erreicht.

Seine Stirn berührt fast meine. Der Tisch zwischen uns existiert nicht mehr. Die Zeit auch nicht. Nur dieser Moment, eingefroren in heißem Atem und einem einzigen stillen Blick.

„Ich konnte nicht länger nur mit dir telefonieren“, flüstert er, und seine Stimme bricht an diesem einen Wort – nur.

Ich atme tief ein, weil ich seinen Duft in den endlos langen Nächten ohne ihn so sehr vermisst habe.

Chris senkt den Kopf ein klein wenig, sodass unsere Nasenspitzen einander streifen. Meine Hände zittern auf dem Tisch, und in meinem Bauch explodieren ganze Schmetterlingsfeuerwerke.

„Ich war heute Morgen in einer Vorlesung, und da hat jemand den Namen Susan gesagt. Und ich —“ Er schluckt und fährt mit einem Finger über meinen Handrücken, ganz leicht, als wäre ich aus Glas. „Ich hab auf mein Handy gestarrt und wollte einfach, dass du mir schreibst. Oder dich lachen hören. Oder dir beim Atmen zusehen.“ Für eine Sekunde schließt er die Augen. „Irgendwas.“

Meine Stimme zittert und klingt heiser wie ein Frosch mit Herzklopfen beim ersten Liebesgeständnis. „Und deshalb hast du die letzten Vorlesungen morgen einfach sausen lassen und dich ins Auto gesetzt?“

„Wir wissen beide, ich hab schon deutlich Schlimmeres gebracht.“ Er lächelt wieder. Dieses langsame, freche, unverschämt liebevolle Lächeln, das mir den letzten Rest meiner Selbstbeherrschung raubt. „Ich hab ja versucht, mich abzulenken. Wirklich. Mit Basketball, mit Lernen, sogar mit verdammtem Origami.“

Ich kichere und meine Finger zittern, als er unsere Hände auf dem Tisch verschränkt.

„Aber nichts davon ist dein Lächeln um sieben Uhr morgens, wenn du zu müde bist, um deine Brille zu finden.“ Chris seufzt leise. „Nichts davon ist deine Stimme, wenn du mich mitten im Satz verbesserst, weil ich schon wieder den falschen Fall benutzt hab.“ Er lehnt sich ein winziges Stück näher. „Und nichts—nichts davon ist wie ein Kuss von dir.“

In mir bricht etwas auf, etwas Weiches, das sich zu lange eingerollt hat. Und dann – endlich – presst er seinen Mund auf meinen, warm und vertraut und so hungrig nach Nähe, dass mir fast die Luft wegbleibt.

Schamlos versinke ich in dem Moment, den ich mir wochenlang nur vorstellen konnte. In einem Kuss, in dem jede Sekunde des Vermissens steckt. Jeder durchseufzte Abend. Jedes „Ich wünschte, du wärst hier.“

Chris bittet nicht – sein Mund fordert Erlaubnis. Und ich gebe mich ihm hin, als wären wir völlig allein in diesem Café.

Seine Hand gleitet in meinen Nacken und seine Finger graben sich sanft in mein Haar, während sein Daumen meine Haut dort berührt, wo sie am empfindlichsten ist. Ich spüre die Hitze seiner Hand bis in die Zehenspitzen.

Ohne den Kuss zu unterbrechen, steht er auf. Sein Stuhl schrammt leise über den Boden, und ich spüre, wie er sich langsam um den Tisch zu mir bewegt. Als er bei mir ist, erhebe auch ich mich, finde mit den Fingern Halt in seinem Hoodie, und in der nächsten Sekunde ziehen wir uns aneinander, als gäbe es keinen Raum mehr zwischen uns. Nur noch Nähe. Nur noch uns. Nur noch dieses vertraute Summen, das sich tief in meiner Brust einnistet und dort zu leuchten beginnt.

Unser Kuss wird langsamer. Inniger. Als würde er mir alles erzählen, was wir in den letzten Wochen miteinander versäumt haben. Als würde er mir versprechen, dass nichts – keine Entfernung, keine Zeit – uns je wieder trennen kann.

Dann schlingt er die Arme um mich und drückt mich an sich – wirklich an sich. Er vergräbt sein Gesicht in meinem Haar und ich presse mich an ihn, so fest ich kann. Und als er sein Kinn auf meinen Kopf legt, schließe ich die Augen und bleibe einfach still.

Sein Herz schlägt fest gegen meines. Ein Rhythmus der mir so unglaublich gefehlt hat.

„Willkommen zu Hause“, flüstere ich schließlich in den weichen Stoff an seiner Brust.

Chris legt eine Hand halb auf meine Wange und halb auf mein Haar. „Bei dir bin ich das immer gewesen“, sagt er leise – und ich weiß, dass alles in mir genau hier bleiben will.

Hier. In seinen Armen. In diesem Moment. Und nirgendwo sonst auf der Welt.

Und während draußen der Regen gegen die Scheiben tanzt und das Café um uns herum ungestört weitermurmelt, existieren nur wir.
Zwei Atemzüge.
Zwei Seelen.
Und zwei Herzen, die längst im selben Takt schlagen.

*

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