Textnachrichten im Abendrot
Dreieinhalb Wochen.
So lange ist es her, seit ich North das letzte Mal gesehen habe. Seit wir barfuß auf der knarrenden Veranda saßen, in die Nacht hinein lachten und uns weiche Küsse in die Mundwinkel drückten, als hätten wir nichts als Zeit. Seit er nach Calgary gefahren und ich nach Edmonton zurückgekehrt bin – beide begraben unter Prüfungen, Terminen und einer irrwitzig hohen Dosis Koffein.
Und ich hasse es.
Ich hasse, wie still das Haus jetzt klingt – als würde selbst die Einrichtung merken, dass er nicht mehr hier ist. Ich hasse es, in die Scheune zu gehen und seine Stimme nicht zu hören, die von den Balken widerhallt und mich von irgendwo oben im Heuboden aufzieht.
Aber am meisten hasse ich, dass ich ihn verpasst habe. Schon wieder.
Er ist heute Morgen abgereist. Ich hab ihn um einen halben Tag versäumt. Nur einen verdammten halben Tag.
Die Sonne wärmt meinen Rücken, während ich den Pfad hinunter zum See gehe und durch hohes Gras, wo sich ein paar Disteln hartnäckig an meine Jeans klammern. Der Wind streicht wie neugierige Finger über meine Haut – weich und verspielt, als wollte er mir absichtlich eine Gänsehaut zu verpassen. Die Luft riecht nach Kiefernnadeln und jungem Sommer, und wenn ich die Augen schließe, kann ich mir für einen winzigen Moment vorstellen, North wäre direkt neben mir.
Aber das ist er nicht.
Und so zu tun, als wäre es anders, macht es nur noch schlimmer.
Ich lasse mich auf dem großen, flachen Stein am Ufer nieder, der noch die Wärme des Sommertages in sich trägt. Im vergangenen Jahr saß ich oft mit meinem Skizzenbuch hier, die Zehen im Wasser und der Kopf voller North. Viel hat sich nicht geändert. Nur dass ich jetzt die Knie anziehe und mein Handy umklammere, als hinge mein ganzes Herz daran.
Meine Daumen zögern kurz, dann tippen sie wie von selbst.
Ich: Wie lief deine Prüfung?
Ich lege das Handy neben mich und stütze mich mit den Händen hinter mir ab, das Gesicht zur untergehenden Sonne gedreht. Der See glitzert im goldenen Licht und hinter mir rascheln leise die Blätter, als würden die Bäume Dinge flüstern, die ich lieber nicht hören will.
Ich atme langsam aus.
Dreieinhalb Wochen. Das ist nicht für immer. Aber wenn man bis über beide Ohren verliebt ist und die andere Person nicht anfassen kann … fühlt es sich exakt so an.
Als mein Handy vibriert, zucke ich zusammen und greife dann so hektisch danach, dass es fast ins Wasser fällt.
North: Bestanden. Keine Ahnung wie. Hab wahrscheinlich die halbe Klausur durch halluziniert, weil ich nur an dich denken konnte.
Ein Lachen entweicht mir – leise, aber echt. Und ja, das ist so typisch North. Voll das Drama und absolut null Scham.
Ich: Du bist so eine Dramaqueen.
Seine Antwort kommt keine fünf Sekunden später.
North: Und du hast gerade die Augen verdreht und den Kopf geschüttelt, wie immer, wenn du findest, ich übertreibe.
Ich halte inne.
Weil … es stimmt. Ich habe genau das getan.
Ein Grinsen breitet sich unaufhaltsam auf meinem Gesicht aus. Mein Herz macht diesen dämlichen kleinen Hüpfer, den es immer macht, wenn er mich durchschaut. Und ganz ehrlich? Es macht mich wahnsinnig, wie leicht er mir unter die Haut geht. Wie Sonnenstrahlen im Sommer, die nie ganz vergehen.
Ich: Du kennst mich zu gut. Das ist unheimlich.
North: Das ist nicht unheimlich. Das ist Liebe.
Und in genau diesem Moment schmilzt alles in mir.
Es ist Liebe.
Ich wechsle das Handy in die andere Hand und streiche mir seufzend mit den Fingern durchs Haar, bemüht, ihn nicht ganz so sehr zu vermissen.
Funktioniert null.
Denn das Gefühl kriecht trotzdem in mich hinein – leise, warm und bittersüß. Voller Sehnsucht.
Jede Zelle in meinem Körper erinnert sich an ihn, als wäre er noch da. An seine Präsenz neben mir. Daran, wie er nach Schnee und Zedern riecht. Und an diese nervtötend charmante Art, mit der er mir so oft unter dem Tisch ans Bein stupst, nur um zu sehen, ob ich rot werde.
Die Sehnsucht nach ihm legt sich still um mich – ein bisschen zu heftig und ein bisschen zu süß. Aber auch … vertraut. Wie ein Lieblingspulli, oder wie das Gefühl, wenn man endlich zu Hause ankommt.
Ich streife die Schuhe ab, ziehe die Socken aus und tauche die Zehen in den kühlen See, nur um das Brennen ein bisschen abzukühlen, das beim Gedanken an ihn über meinen Nacken hochkriecht.
Ich: Wenn du mich so gut „liebst“, rate, wo ich bin.
North: Am See.
Ich ziehe den Atem ein. Das ging schnell.
Meine Stirn legt sich in Falten, während ich aufs Display starre.
North: Hab ich recht?
Ich: Volltreffer.
North: Gut. Dann bleibe, wo du bist.
Es vergeht ein kurzer Moment – lang genug, dass meine Haut zu kribbeln beginnt.
North: Und dreh dich nicht um.
Ich blinzele aufs Display. Hab ich das gerade wirklich richtig gelesen? Nicht bewegen. Und nicht umdrehen.
Ein verwirrtes Lachen rutscht mir raus, während ich automatisch den Kopf zur Seite neige – wie könnte ich auch nicht?
Aber natürlich ist da nichts. Nur der Wald. Das Rascheln der Blätter. Und ein hyperaktives Eichhörnchen, das so hektisch über die Lichtung flitzt, als wüsste es etwas, das ich noch nicht weiß.
Ich: Was redest du da?
North: Vertrau mir einfach. Was auch immer gleich passiert… Nicht. Umdrehen.
Meine Finger schweben über dem Display, während ein leises Summen meinen Nacken streift – wie elektrische Spannung in der Luft vor einem Gewitter. Es ist nicht direkt Angst, aber irgendetwas ist da. Dieses Ziehen tief im Bauch, das jede Kleinigkeit plötzlich schärfer wirken lässt. Lauter.
Vogelgezwitscher. Wind. Mein Herzschlag.
Hat er etwa Madelyn losgeschickt, damit sie sich von hinten anschleichen und mich erschrecken kann? Würde ich den beiden glatt zutrauen. Maddie würde sich vor Lachen kaum einkriegen, wenn ich panisch in den See stolpere.
Ich: North …
North: Adrian.
Es ist nur ein Wort. Nur mein Name. Und doch trifft es mich wie ein Blitzschlag. Das Wort tropft förmlich vom Display, als wäre Norths Essenz damit direkt in meine Blutbahn geglitten. Ich lese es noch einmal. Dann nochmal. Beim vierten Mal bin ich mir sicher, dass ich seine Stimme hören kann.
Tief. Selbstsicher. Gefährlich.
Oh, er weiß ganz genau, was er da tut.
Aber selbst durchs Handy ist er einfach unwiderstehlich, wenn er in diesen Ton verfällt.
Ein Ton, bei dem mein Gehirn aussetzt und meine Wirbelsäule automatisch Haltung annimmt.
Der Ton, den er angeschlagen hat, als er mich zum ersten Mal herausgefordert hat, ihn zu küssen. Und jedes verdammte Mal danach, wenn er mich aus dem Gleichgewicht gebracht hat.
Mein Herz pocht laut, als ich noch einmal über meine Schulter blicke, aber der Wald sieht immer noch genauso leer aus wie vorher. Zu leer.
Ich: Verarschst du mich?
North: Nope. Ich will nur, dass du mich spürst. Selbst wenn ich nicht bei dir bin. Ich will dir unter die Haut kriechen.
Mission erfüllt.
North: Wie gelingt es mir? ^^
Ich beiße mir auf die Unterlippe und antworte ehrlich.
Ich: Erschreckend gut.
Seine nächste Nachricht bringt alles in mir zum Stillstand.
North: Wie viele Glühwürmchen, Adrian?
Mein Atem verfängt sich in meiner Kehle, und etwas zieht sich in meiner Brust zusammen – dieses vertraute Ziehen, das immer kommt, wenn er die Glühwürmchen anspricht. Denn seit North Beckett damals wie ein kanadischer Schneesturm in mein Leben gefegt ist, haben in meinem Bauch an keinem einzigen Tag weniger als einundzwanzig Glühwürmchen getanzt. Nicht einmal an den richtig miesen Tagen.
Und das weiß er genau.
Aber ich lasse North gerade warten, und Geduld ist absolut nicht seine Stärke. Natürlich trudeln schon die nächsten Nachrichten ein, bevor ich überhaupt eine Zahl getippt habe.
North: Werd jetzt nicht rührselig, Monterey, sonst stell ich mir noch vor, wie ich dich um den Verstand küsse.
North: Ich warte übrigens immer noch.
Ein leises Lachen entweicht mir, während mir die Hitze im Nacken aufsteigt. Meine Zehen krümmen sich im Wasser. Die Sehnsucht nach ihm flammt mit jeder Sekunde heller auf – wie ein Feuer, das ich nicht löschen kann.
Aber hey, ich kann’s ihm auch nicht zu leicht machen.
Ich: So um die fünfzehn.
North: Wow. Lässt meine Magie schon so stark nach?
Sein Kommentar wird begleitet von einem total überzogenen Emoji – aufgerissene Augen, Hände an den Wangen, als wäre er gerade in ein Drama-Skript gerutscht. Mein lautes Lachen schallt über den See, weil das einfach so typisch für North ist. So dramatisch, dass es verboten sein sollte.
Aber dann …
Dann kippt die Stimmung. Ganz leise. Ganz plötzlich.
North: Sollen wir die Anzahl ein wenig erhöhen?
Oh.
Ich rutsche auf dem Stein zurück, ziehe die Beine an und schlinge die Arme darum. Der See schimmert inzwischen in tiefen Orangetönen, die Sonne steht tiefer, und die Luft schwingt süßer als noch gerade eben.
Ich: Keine Ahnung, wie du das anstellen willst, aber versuch’s ruhig.
North: Wirfst du schon Steine?
Ich blicke auf den Kies um meine Füße. Kleine, glatte Steinchen, die man perfekt übers Wasser hüpfen zu lassen kann. Ich hebe einen auf, wiege ihn in der Hand und lasse ihn durch meine Finger gleiten.
Ich: Vielleicht.
North: Versuch den Baum auf der anderen Seite zu treffen.
Damit entlockt er mir ein schnaubendes Grinsen, weil er genau weiß, dass ich den Baum noch nie getroffen habe. Aber trotzdem werfe ich. Ich ziele auf die dicke Weide am anderen Ufer. Der Stein hüpft zweimal, fliegt aus der Bahn und platscht mit einem leisen glupf ins Wasser.
Weit daneben.
North: Hast du’s geschafft?
Ich grinse noch breiter.
Ich: Volltreffer. Der Baum fällt gerade um.
Es folgt eine Pause, nur ein einziger Atemzug. Und gerade als ich über mich selbst lachen will, ist da ein Flüstern. Ganz nah an meinem Ohr.
„Lügner …“
Ich erstarre an Ort und Stelle. Jeder Nerv in meinem Körper geht in Flammen auf – wie ein explodierendes Streichholz direkt unter meiner Haut.
Denn ich kenne diese Stimme.
Und sie kommt nicht aus dem Handy.
Sie kommt von hinter mir.
Ich atme nicht. Ich blinzele nicht. Ich sitze einfach da, eingefroren auf dem warmen Stein und mit einer Gänsehaut wie tausend kleine Nadeln auf meinen Armen.
North ist hier.
Hier.
Hinter mir. Nah genug, um mir ins Ohr zu flüstern. Nah genug, um mich komplett aus dem Gleichgewicht zu reißen.
Ich will mich umdrehen, aber da sind plötzlich seine Hände, die sich warm und stark um meine Handgelenke schlingen. Mühelos hält er mich fest.
„Nicht umdrehen“, murmelt er mit dieser dunklen, samtigen Stimme, die mir jedes Mal den Kopf verdreht. „Du verdienst es nicht.“
Mein Puls hämmert und ich schlucke schwer.
Seine Nähe ist wie Sonnenhitze und Erdanziehung in einem. Ich spüre, wie er sich hinter mir bewegt – langsam und kontrolliert – als würde er jede Millisekunde davon genießen.
„Warum nicht?“, flüstere ich halb lächelnd, halb sterbend.
„Weil …“, sagt er, und sein Atem streift meinen Nacken – heiß, weich, gefährlich. Ein Schauer jagt mir die Wirbelsäule hinab. „Du mich angelogen hast. Du hast den Baum verfehlt. Meilenweit!“
„Ich –“ Mein Lachen bleibt mir in der Kehle stecken. „Ich war in Panik“, plappere ich planlos, weil ich nach einer Ausrede suche. Irgendetwas.
North summt leise an meine Haut. „Du bist jetzt in Panik.“
Oh ja. Ich bin kurz davor zu implodieren.
Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte, mich nicht umzudrehen. Ihn nicht ansehen zu dürfen.
Doch da lösen sich seine Finger endlich von meinen Handgelenken und streifen über meine Schulter. Sie wandern fast quälend langsam meinen Arm hinunter, und jede Berührung brennt sich direkt unter meine Haut.
Ich presse die Lippen zusammen, um nicht – tja, zu betteln.
„Du sagtest, fünfzehn Glühwürmchen“, raunt er. „Für einen richtigen Kuss ist das viel zu wenig.“
„Du weißt, dass es nicht ernst gemeint war“, flüstere ich, während mir die Hitze in die Wangen schießt. „Es klang cool in dem Moment.“
Sein leises Lachen ertönt, direkt bevor seine Lippen die Stelle berühren, sein Atem zuvor gewärmt hat. Langsam und zärtlich.
„Cool liegt dir nicht“, haucht er gegen meine Haut. „Aber du bringst mich dazu, mir Dinge zu wünschen, die ich lieber bleibenlassen sollte.“
Ich schließe die Augen. „Zum Beispiel?“
Er küsst mich noch einmal, diesmal unterhalb meines Ohrs. Etwas fester. Etwas süßer.
„Dich in meine Arme zu ziehen“, sagt er leise. „Und dich bis zum Morgen nicht mehr loszulassen.“
Mein Herz bricht hemmungslos auf und ich seufze. Ich versinke im Klang des Sees, in Licht der untergehenden Sonne – und in der Tatsache, dass er wirklich hier ist.
So nah, dass ich ihn greifen könnte.
So nah, dass es fast weh tut.
„North …“
Langsam und sicher gleiten seine Hände von hinten um meine Taille. „Noch nicht“, murmelt er viel zu dicht an meinem Ohr. „Erst will ich hören, wie die Glühwürmchen aufsteigen. Zähl bis einundzwanzig.“
Ein ungläubiges Lachen platzt aus mir heraus. „Ist das dein Ernst?“
„Ich bin drei Stunden durchgefahren, nur mit miesem Kaffee und deiner Stimme in meinem Kopf. Also verflucht ja, das ist mein voller Ernst. Fang bei fünfzehn an.“
Er ist absolut unmöglich. Unverschämt. Mehr als die Welt ertragen kann. Und trotzdem atme ich zitternd ein und flüstere: „Fünfzehn, sechzehn—“
North Beckett beißt mir leicht ins Ohrläppchen und lacht wie ein Engel, der gerade aus der Hölle emporgestiegen ist. „Langsamer, Adrian.“
Gott, er bringt mich noch um.
„Siebzehn … Achtzehn …“ Ich zähle. Ich atme. Und als ich endlich bei einundzwanzig angekommen bin, warte ich nicht länger auf seine Gnade, sondern drehe mich einfach um.
Und da ist er.
Sonnenlicht in seinem Haar, Seeglanz in seinen Augen, und dieses verschmitzte Lächeln, das mir jedes Mal wieder den Atem raubt.
Ich sage kein Wort, sondern falle ihm nur entgegen, denn mein Körper kennt das Ziel längst.
Weil es North ist.
Er war es schon immer.
North fängt mich auf, als hätte die Schwerkraft nur auf diesen Moment gewartet. Seine Arme schließen sich in einer einzigen fließenden Bewegung um mich und geben mir das Gefühl von Zuhause. Von Ankommen. Bis alles um uns herum verschwimmt.
Und dann finden seine Lippen endlich – endlich – meine.
Der erste Kuss ist nicht überstürzt.
Er ist sicher.
Er ist Wochen voller Sehnsucht und Distanz und ich hab dich so sehr vermisst, alles auf einmal. Ich schlinge die Arme um seinen Nacken und verankere mich in seiner Gegenwart. Norths Körper ist so warm, echt, und hier.
Mit dem Daumen streicht er über meinen Kiefer und neigt schließlich mein Gesicht im perfekten Winkel, um den Kuss in einem kanadischen Eroberungszug zu vertiefen.
Und ich vergesse, wie man atmet.
Ich sinke an ihn, wie an den einzigen Ort auf dieser Welt, an dem ich je wirklich sein wollte.
Und unter dem verblassenden Himmel, in goldgetränkter Luft, küsst North Beckett mich, als wäre ich das letzte Versprechen, das er je halten will.
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